Mystisches Fichtelgebirge
in Oberfranken

Das Mädchen im Labyrinth

Eine neue Legende um den Fichtelsee
und das Fichtelseemoor

Das Mädchen im Labyrinth
Das Mädchen im Dornenhecken-Labyrinth am Fichtelsee
Es war einmal, in einer Zeit, die wir heute "das Mittelalter" nennen, als alle Wege eher noch mit Geschichten gepflastert waren als mit Steinen. Da lebte in einem kleinen Dorf am Rand eines großen Waldes am Fichtelsee ein junges Mädchen namens Elin. Sie trug Leinenkleider und lief meistens barfuß, und sie hatte Augen, die mehr fragten als sie sagten. Eines Sommerabends, als der Himmel rot wie ein Ahornblatt im Herbst war, folgte sie einem umherschwirrenden Licht in den Wald am Fichtelseemoor. Irrlichter nannte man die Glühwürmchen im Dorf, oder ein verlorenes Glöckchen, und ehe sie sich versah, stand sie in einem Labyrinth aus Dornensträuchern, in dem es keinen Weg gab und doch Pfade hineinführten.

Die Dornenhecken waren hoch und dicht, ihre Stacheln funkelten wie tausend stumme Zungen, und das Labyrinth atmete leise, als hätte es Herz und Lunge. Zu Elins Erstaunen verschoben sich Gänge, wenn sie zweimal in die gleiche Richtung blickte. Manche Ranken flüsterten mit Stimmen, die wie verlorene Lieder klangen, und andere versetzten ihr Nadelstiche, sobald sie zu trotzen versuchte. So begann ihr Irrweg durch ein Grün, das ganz anders dachte als das Land draußen.

Egal, wann sie sich umblickte, immer fand sie den Rückweg zugewuchert. Bald traf sie Kobolde. Sie hockten auf Wurzeln und trugen Mützen aus Pilzhäuten und hatten Taschen voller blinkender Kleinigkeiten. Die Kobolde lächelten mit zu vielen Zähnen und gaben Elin glänzende Münzen, eine Nadel, die nie bricht, und Stücke einer Landkarte, die jedoch stets ein anderes Puzzle ergab als zuvor. »Nimm dies,« piepsten sie, »wir wissen den Weg, wir kennen Schleichpfade.« Sie führten sie durch Gänge, die aussahen wie Abkürzungen, aber plötzlich windeten die Hecken sich zu, und Elin merkte, dass sie tiefer hineingeraten war als zuvor. Die Kobolde liebten das Irreführen. Sie liebten es, Wanderer durch kleine Listigkeiten zu zerstreuen. Doch Elin war nicht boshaft, und sie sprach mit ihnen, gab einem Kobold sogar einen warmen Pilz zum Abendbrot. Und weil sie freundlich war, legte ihm der Kleine ohne es zu wollen einen Knoten in seine Tasche. Als das Mädchen später die Tasche öffnete, kicherte er unheimlich.

So gelangte Elin schließlich zu zwei seltsamen Türen nach links und rechts. Nicht Türen aus Holz, sondern Tore aus Elementen, die so verwunschen waren wie der Ort selbst. Die erste war eine Wand aus heißem Wasser, ein Vorhang aus dampfender, silbrig-fließender Flut, der wie ein Wasserfall hing und alles verbrühte, das ihm zu nahe kam. Die zweite war ein Bogen aus kaltem Feuer, bläulich züngelnde Flammen, die nicht wärmen, sondern alles in Eis und Glas verwandelten, so dass Kleidung und Haare im Nu mit Kristallen von Raureif überzogen waren.

Vor jeder Tür stand eine kleine Tafel mit einer schiefen Rätselfrage, wie man sie oft in alten Märchen findet: »Wer mich will durchschreiten, der wechsle die Gegensätze!« Elin betrachtete die Türen lange. Plötzlich erinnerte sie sich an einen Rat, den ihr die Mutter als Kind gegeben hatte: Mit dem, was du hast, kannst du oft das Gegenteil schaffen, wenn du Änderungen nicht versuchst zu erzwingen, sondern Hindernisse überlistest.

Vor der Tür des heißen Wassers fiel ihr Blick auf die Spinnweben am Rand, die von Tau-Perlen glitzerten, gebildet aus dem Dampf der kochenden Brühe. Sie formte mit einer Hand eine Schale, schüttelte den kalten Tau hinein und spritzte das Wasser vorsichtig in den heißen Dunst. Die Tür zog sich überrascht zusammen, im Kontakt mit den kalten Tropfen erstarrte sie zu Kristall und fiel zu Boden. Der heiße Strom war in einem Wimpernschlag in seinen eigenen Gegensatz verwandelt worden. Die Tür des heißen Wassers hatte sich geöffnet, weil sie ihr nicht mit Gewalt, sondern mit Kälte, dem Gegenteil, begegnet war. Heiß und Kalt sorgten für einen Ausgleich. Der Pfad dahinter war nur kurz und endete mit dichtem Dornengestrüpp. »Führte er nicht vorhin viel weiter als man sehen konnte?«

Vor dem kalten Feuer stand sie schließlich und lauschte. Die Flammen knisterten nicht, sondern sangen ein leises, hohes Lied ohne Harmonie, mit einem Echo, das alles erstarren ließ. Elin erinnerte sich an die Lieder der Großmutter, an die anheimelnden Wiegenmelodien, die selbst die harten Herzen ein wenig weich machten. Sie setzte sich, legte die Hände in den Schoß und begann zu summen. Ein kleines Lied ohne Worte, warm wie Atem und weich wie Brot. Die Flammen, die Kälte waren und kein Herz hatten, wurden müde von der Wärme in dem Klang. Sie senkten ihre Spitzen, lösten ihren eisigen Griff und verwandelten sich in glimmende Funken, die nicht mehr zerschnitten, sondern leiteten. So öffnete das kalte Feuerseelen-Tor sich durch das Geschenk von Wärme, nicht durch Zwang und Gewalt. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, dass man so auch Menschen mit kaltem Herz erwärmen kann.

Hohler Baum mit Pforte im Zentrum des Labyrinths
Hohler Baum mit Pforte im Zentrum des Labyrinths
Nach diesen beiden Prüfungen öffnete sich die Mitte des Labyrinths. Eine kleine, kreisrunde Hain-Lichtung, in deren Mitte ein alter, hohler Baum stand, mit einer Pforte wie in einem Märchenbuch. Andere, die Elin im Dorf oft sah, hätten dort nur einen hohlen Stamm bemerkt. Doch als Elin hinzutrat, sprach der Wind: »Wer eintritt, erlangt Einsicht.« Sie schritt durch die Pforte, und die Welt schien sich neu zu ordnen.

In der Mitte fand sie eine kleine Quelle, so klar, dass man darin lesen konnte wie in poliertem Kupfer. Das Wasser zeigte ihr keine Bilder von Schätzen, sondern hielt Fragen bereit: »Was fürchtest du?« und »Wofür bist du dankbar?« Elin kniete sich hin, blickte hinein und sah nicht nur ihr Gesicht, sondern die Fäden, die sich aus ihrem Leben webten. Die Liebe zur Mutter und dem Vater, die Wärme, die sie von ihnen empfing, die kleinen Freundlichkeiten, die alle so wenig kosteten und doch so viel schenkten. Sie erkannte, dass Weisheit nicht nur Wissen ist, sondern das stille Tun und das Mitgefühl, das andere nicht erschreckt, das Mitgefühl, das einen gut durch Irrwege leitet.

Als sie die Hände in das Quellwasser tauchte, spürte sie, wie ein Strom von Licht durch ihre Finger floss. Bilder von Pfaden, die nicht mehr existierten, Töne, die die Kobolde beruhigen konnten, Zeichen, die einem Verirrten halfen, den richtigen Weg zu wählen. Die Quelle gab ihr kein Buch mit Erklärungen, sie gab ihr das rechte Maß, die Geduld und das Herz, Dinge zu erkennen. Mit einer kleinen Schale, die daneben bereitstand, schöpfte sie etwas Wasser für den Nachhauseweg.

Erfüllt von ruhigem Wissen stand Elin auf. Kaum hatte sie die Pforte des Baumes wieder durchschritten, da öffnete sich im Labyrinth ein direkter Weg, kein Verirren mehr, kein Gedränge der Dornen. Die dornigen Heckenrosen blühten auf und wichen vor ihr, als hätten sie die Verwandlung verstanden. Und eine Schar kleiner Feen mit durchscheinenden Flügeln begleitete sie. Sie waren nicht groß, aber heller als Sonnenspäne, ihre Stimmen waren wie Klingeln, die nicht stören, sondern führen. »Du hast mit Klugheit und Güte gehandelt,« sangen sie, »nun folge dem Pfad, den Weisheit freimacht.«

Die Feen schwebten voran, setzten winzige Laternen an den Wegesrand und klopften auf die Dornen, so daß diese wie sanfte Finger die Lücken zeigten. Die Kobolde, die Elin zuvor irregeführt hatten, begegneten ihr noch einmal, doch sie waren nur noch verschmitzte Gestalten, die ihre Gabe zurück wollten: Die Nadel, die Münzen, das Stück der Karte. Sie lachten, diesmal ohne Schadenslust, und schoben mit einem Nicken den letzten Dorn beiseite. Elin dankte den Kobolden und den Feen, und sie gingen auseinander, jeder zurück in seine Ecke des Waldes, der Wiesen und Felder.

Als Elin den Waldrand hinter sich ließ, war der Abend ähnlich wie zuvor, keine Zeit schien vergangen, aber die Luft schmeckte heimkehriger. Auf dem Feldweg, unter dem verblassenden Himmel, gingen gerade ihre Eltern von der Feldarbeit heim. Der Vater hatte die Laterne in der Hand, die Mutter hielt das Tuch an der verschwitzten Stirn. Sie fielen einander in die Arme, als habe man ein Stück Welt voller neuer Farben und Gefühle wiederbekommen.

Elin erzählte nicht alles, denn manche Wunder dürfen wie Blumen bleiben, die nicht ausgerissen werden. Aber sie zeigte ihren Eltern die kleine Schale, in der noch ein Tropfen von der Quelle funkelte, und in ihren Augen war Stille und neuer Mut. Die Feen am Waldrand winkten leise, die Kobolde kicherten hinter den Büschen, und die Dornen schlossen sich sanfter als zuvor, als hätten sie gelernt, dass man manchmal durch List und Lied, durch Geduld und Herzensgüte Wege öffnet, die sonst verschlossen bleiben.

So fand Elin Weisheit und Ruhe in der Mitte des Labyrinths, und auf dem direkten Pfad nach Hause lernte sie, dass Weisheit und Güte nicht nur ein Schatz sind, sondern ein Weg, ein Weg, der die Welt leichter macht für alle Herzen, die darin wandern. Und wenn die Dornen sich heute abends wieder zuflüstern, dann erzählen sie gern von jener, die mit einem Lied das kalte Feuer beruhigt und mit einem Tropfen den heißen Wasserfall ruhiggestellt hat. Und so lebt die Geschichte weiter, wie gute Dinge es tun: Leise, wahr, heimlich und heimatlich.

   
©2025 by Erwin Purucker

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