Mit unserer aufgeklärten, weltlichen Sicht auf die Welt interpretieren wir das, was der Knabe sagt, natürlich als Halluzinationen, als Fieber-Delirium, Fieberwahn oder Fieberträume. Goethe spielt hier aber auf Aussagen über eine mystische, mythische Welt im Bereich zwischen Leben und Tod an, was das Gedicht nicht nur tragisch, sondern auch gruselig macht. Im Aberglauben früherer Jahrhunderte hausen in Sümpfen und sumpfigen Erlenbrüchen eben Irrlichter, Kobolde, aber auch Feen und Elfen.
Widerstreit zwischen der Vernunft in Renaissance und Aufklärung und der Mystik des Mittelalters
Im Gespräch zwischen Vater und Sohn erkennt man den Widerstreit zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und der Mystik des Mittelalters. Der Vater mit seinem rationalen Denken sieht statt des Erlenkönigs mit Krone und Schweif in der Natur den Nebelstreif, hört statt den Versprechen des Erlenkönigs den Wind, der in den dürren Blättern säuselt und statt Erlkönigs Töchter am düsteren Ort die alten Weiden so grau. Zum Schluss graust es den Vater doch, trotz aller aufgeklärter Vernunft. Die Mystik siegt, der Erlkönig tötet den Sohn. Die Aufklärung musste schließlich erkennen, dass man mit Vernunft und Rationalität nicht alles erklären kann. Das Leben bleibt mystisch, bis heute.
Gevatter Tod in Gestalt des Erlkönigs lockt das Kind mit schönen Versprechungen. Und auch wer nicht an Mystik glaubt, ist doch versucht, dieses Gruseln zuzulassen. Fehlt es doch in unserer realistischen Welt oft an Mystik und Spiritualität. Wie zu erwarten blieb es in unserer Welt des Misstrauens nicht aus, dass manche den Erlkönig oder gar den Vater als pädophilen Mann, Vergewaltiger, und die Wahnträume als Alptraum eines Opfers sexueller Gewalt betrachten, oder gar den guten Vater als zwiespältige gespaltene Persönlichkeit. Die Zeilen »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.« bekommen so eine ganz andere Bedeutung, tiefenpsychologische Küchenpsychologie.
Auf den Text gibt es zahlreiche Verballhornungen mit Schwarzem Humor, was nicht jedermanns Sache ist. Um 1955 schrieb
Heinz Erhardt eine abgekürzte Form mit etwas besserem Ausgang:
… Erreicht den Hof mit Müh' und Not, der Knabe lebt, das Pferd ist tot!