Zu den Grenzen des Planeten Goderijan

Science Fiction Roman von Peter Althammer

Kapitel 17

Ankunft auf Goderijan, Teil 2

Die beiden konnten nur erahnen, doch absolut sicher zu sein, wäre ohne jeglichen Beweis ein Ding der Unmöglichkeit. Ihnen wurde zwar von Lyr erzählt, dass in ferner Vergangenheit einige freiwillige Dogon (Goderijaner) auf der Erde sozusagen ausgesetzt wurden, um zu sehen, wie sich diese auf der Erde zurechtfinden würden, doch wurde ihnen auch eine Art Sicherheit mit auf die Erde gegeben. Diese Sicherheit stellte nämlich diesen Schlüssel dar. Eine Sicherheit, die es nur auf dem Planeten Erde gab. Es handelt sich nämlich um eine Art Virus, der nur bei bestimmten Menschen und dies von Milliarden von Menschen nur bei einem oder höchstens zweien, so wie bei Norman und Katja, vorkam, es ist eine Art Gen-Virus, der beim damaligen ersten Besuch endlich bei den Homo sapiens sapiens entdeckt wurde. Die Dogon suchten schon seit Generationen nach diesem für sie als Wunder geltenden Gen-Virus. Viele Expeditionen wurden auf der Suche nach diesem Gen-Virus unternommen, und viele unzählige Planeten besucht, doch vergeblich, bis eine der so vielen ausgesandten Expeditionen auf den Planeten Erde stieß. Doch dieses so seltene Gen-Virus, erwies sich als noch viel zu unvollkommen, sozusagen noch zu jung und in einem zu frühen Stadium seiner Entwicklung. Den Dogon war klar, dass dieses Virus noch eine lange Zeit bräuchte, um sich zur Vollkommenheit und zum Nutzen der Dogon sinnvoll und gebräuchlich einzusetzen, zu entwickeln, um der heimtückischen Krankheit endlich den Garaus zu machen, oder sie wenigstens zu isolieren und unter Kontrolle zu bringen. Vieles verschwieg das Volk der Dogon Norman und Katja. Diese Krankheit, die sie die Unendliche Traurigkeit nennen, was auch stimmt, stammte nicht, wie sie behaupteten, von der Erde, sondern von einem anderen Planeten mit dem Namen Menessem, von dem einst eine Expedition diese Krankheit auf ihren eigenen Planeten Goderijan eingeschleppt hatte.

Wie schon gesagt, als endlich dieses Virus bei einem Homo sapiens sapiens entdeckt wurde, versuchte man zuerst, es aus diesem Menschen zu entfernen um es dann zu züchten, doch alle verzweifelten Versuche schlugen fehl. Den Dogon wurde schlagartig klar, dass es nur in den jeweiligen Homo sapiens heranreifen konnte.

Was Norman und Katja gemeinsam hatten, war erstens, sie trugen das gleiche Gen-Virus in sich, da sie ja Geschwister waren. Zweitens waren diese damaligen Vorzeitmenschen ihre verwandtschaftlichen und direkten Ahnen. Die Dogon wussten, dass dieses Gen-Virus von Generation zu Generation weitergegeben, also weitervererbt wurde, sie mussten nur dafür Sorge tragen, dass dieser Verwandtschaftsgrad nicht ausstirbt. Zeitlebens wurde diese eine Gruppe von Frühzeitmenschen überwacht und beschützt, ohne dass sie etwas bemerkten, so dass von Generation zu Generation der Gen-Virus seine endgültige Reifung zu seinem heutigen Stadium entwickeln konnte.

Und wer trug diesen fertig gereiften Gen-Virus in sich, natürlich Norman und Katja, deswegen auch die Entführung von den beiden. Sie waren die letzen der Ahnenreihe, die überwacht wurden. Norman und Katja sind die letzte Hoffnung, zwar auf lange Sicht, dennoch die letzte Hoffnung eines aussterbenden Volkes, das seit unendlicher, nicht enden wollender Zeit, verzweifelt ums Überleben kämpft.

Die restliche Stunde Flugzeit verging weiterhin problemlos und wörtlich gesprochen wie im Fluge. Im Nu setzte der Überlandgleiter sanft, ja fast galant wie ein Schmetterling auf einer Rampe auf, die sich offensichtlich auf dem Dach eines hohen Gebäudes befand.

»Aha... wir haben aufgesetzt, jetzt können wir endlich raus aus diesem Blecheimer.«, nörgelte Gregor mal wieder unzufrieden herum.

»Nicht ganz, mein Lieber, es wird noch in etwa fünf Minuten dauern, bis wir unten in der Halle ankommen werden.«, erklärte Lyr verständnisvoll.

»Wie meinst du das, nach unten? Wollte nun Susanne wissen.

Ehe sich alle versahen und Lyr gerade Susannes Frage beantworten wollte, setzte sich die gesamte Rampe mitsamt Überlandgleiter und Insassen in Bewegung. Dann begann der Überlandgleiter, sich in die Tiefe inmitten des Gebäudes zu versenken.

»Wau... Ihr habt vielleicht eine Technik, unglaublich, wenn ich das zuhause jemandem erzählen würde, die würden mich glatt in die Klapsmühle einsperren und danach für immer den Schlüssel wegwerfen, das könnt ihr mir ruhig glauben.«, sagte Stephan vor Begeisterung wegen der hier vorhandenen Errungenschaften.

»Ja, beeindruckend, nicht wahr. Im Übrigen würdet ihr solche riesigen Hallen Hangars nennen, stimmt es? Ich habe vieles über euch Menschen gelesen. Also, in dieser Halle, in der wir gleich unten ankommen werden, passen genau vierzig Überlandgleiter hinein.«, verkündete Lyr voller Stolz.

»Das ist wirklich beachtlich, Lyr.«, gab Norman ihm Recht.

»Kommen wir doch jetzt zum eigentlichen Vorhaben. Meine Lieben, sobald wir den Gleiter verlassen haben, gehen wir durch die Halle ins Freie. Dort steigen wir sofort in das rote Fahrzeug, das am Ausgang auf uns wartet.

Eine Fahrt von fünfzehn Minuten dürfte uns jetzt auch nichts mehr ausmachen, so glaube ich. Ich weiß, dass ihr erschöpft seid. Darum werdet ihr gleich nach Ankunft im Tempel des Heiligen Xarmax in eure neu eingerichteten Quartiere eingewiesen. Eine Stunde später hole ich euch dann zum Mittagsessen ab. Danach könnt ihr, wenn ihr möchtet, schlafen gehen. Ich vermute, dass dafür keiner von euch einen Einwand erhebt. Ihr seht wirklich sehr müde aus. Morgen in aller Frühe um 6 Uhr 30 ist Weckzeit. Dann eine halbe Stunde Frühstück, wohin wir wie auch auf dem Mutterschiff, natürlich wenn ihr nichts dagegen habt, wieder geschlossen gehen. Und was am wichtigsten ist, wir haben morgen um halb acht eine Audienz bei unserem Heiligen Xarmax. Er freut sich schon, wie er mir mitteilte, endlich eure Bekanntschaft zu machen. Er ist sehr neugierig auf euch.«

Dann war es so weit, die Rampe dockte mit einem kleinen Ruck am Boden des Hangars an. Die Türen öffneten sich seitlich automatisch. Lyr war der erste, der aus dem Gleiter schritt, sich sogleich umdrehte und die Führung übernahm.

»Meine Lieben, so folgt mir denn.«, gab Lyr seinen Schützlingen Order.

Im Nu folgte die gesamte Gruppe fast wie im Gänsemarsch wirkend ihrem Androiden. Die Halle, also der Hangar, war von so immenser Größe, dass es Minuten dauerte, endlich ins Freie zu gelangen, wo bereits dieses besagte rote Fahrzeug auf sie wartete. Im Übrigen nannten die Dogon diese Art von Fahrzeugen lustigerweise Gunnis.

Die Gruppe, erreichte endlich das Freie, ging zu dem besagten Fahrzeug und stieg sogleich ein, dann ging die Fahrt zur Residenz seiner Heiligkeit, dem Heiligen Xarmax.

»Was guckst du so nachdenklich, Norman?«, fragte Katja ihren Bruder, der irgendwie apathisch, ja vollkommen geistesabwesend wirkte, so dass Katja ihn am Ärmel zupfen musste, um ihn aus seinen Tagträumen zu holen.

»He, Norman, hörst du überhaupt zu?«, drängte Katja nun leicht wütend in ihn ein.

»Was, was ist denn geschehen?«, fragte Norman leicht verworren.

»Es wird gleich was passieren, wenn du nicht wieder normal wirst.«, gab Katja ihrem Bruder zu verstehen.

»Oh... Verzeih, Katja, ich war gerade mal wieder in Gedanken versunken.«, gab Norman zu verstehen.

»Tja, Norman, das war nicht zu übersehen.«, konterte Katja aufs raffinierteste.

»Katja, bevor wir einstiegen, ist dir denn an diesem Fahrzeug nichts aufgefallen?«, fragte Norman seine Schwester.

»Mal überlegen, nein mir ist nichts an diesem Fahrzeug aufgefallen.«

»Sag mal, Norman, hat dich jetzt wohl Gregor mit seinen Verdächtigungen und ständigen Nörglereien auch schon angesteckt?«, wunderte sich nun Katja über ihren Bruder.

»Ach woher denn, nicht im Entferntesten. Nein, ich glaubte zu sehen, dass dieses Auto keine Räder hat. Ich wollte es halt nur bestätigt wissen. Ich hasse es, wenn sich irgendwo ein Rätsel auftut und ich mir des Rätsels Lösung nicht sicher bin.«, erklärte, Norman seiner Schwester.

Bevor Katja ihrem Bruder Antwort geben konnte, meldete sich auch schon Lyr zwischen den Fronten.

»Äh... Entschuldigt bitte, ich wollte euch beide nicht belauschen, aber mein elektronisches Gehör, na ja, ist eben sehr sensibel. Norman, mit deiner Aussage hast du vollkommen Recht. Dieses Fahrzeug hat keinerlei Räder. Es ist in unserer Fachsprache ein Gunni. Und ein Gunni ist ein Schwebefahrzeug, das ungefähr 20 bis 30 Zentimeter über dem Erdboden schwebend dahingleitet. Und das je nachdem, wo man hinschweben möchte und es erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von mehr als dreihundert Stundenkilometern. Mehr ist, so glaube ich, über dieses schwebende Fahrzeug nicht zu berichten. Ich hoffe doch inständig, dass ich euch damit helfen konnte.« Ja, da war Lyr mal wieder in seinem Element, sozusagen in seiner Lieblingsbeschäftigung.

»Äh... gewiss, gewiss doch, Lyr, besten Dank auch noch.«, belobigte Norman den Androiden. Während der Fahrt konnte man die Residenz, also das prunkvolle, tempelartige Bollwerk sehen. Eine Meisterleistung der Architektur. Noch nie in ihrem bisherigen Leben hatte die Gruppe so ein schönes Bauwerk gesehen. Es war mit nichts zu vergleichen. Selbst auf der Erde, wo es Spitzenarchitekten gab, die zeitlebens hervorragendes leisteten oder noch leisten werden, brächten solch ein Wunderwerk, so dachten die meisten der Gruppe, niemals fertig. Es erweckte bei dieser tempelartigen Residenz den Anschein, als seien seine Kuppeln aus gelblich schimmerndem Bernstein. Es sah so aus, als wurden diese Kuppelartigen Dächer aus einem ganzen Stück gefertigt.

Dennoch, aus dieser Entfernung konnte man sich natürlich irren. Zudem kommt noch erschwerend hinzu, falls diese kuppelartigen Dachbauten wirklich aus reinem und poliertem Bernstein beständen, wäre dies eine in der Natur bestehende Sensation. Denn Bernstein in einer solchen Größe durfte es eigentlich nicht geben. Zumindest auf der Erde nicht. Jeder wusste doch, dass Bernstein aus Millionen von Jahre altem Baumharz bestand, der in dieser uralten Zeit langsam versteinerte.

»Schau mal, Norman, diese Kuppeldächer, sind sie nicht wunder, wunder, wunderschön?«, wies Katja voller Entzücken Norman darauf hin.

»Ja, Katja, unbegreiflich schön.«, antwortete Norman besinnlich.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie endlich an der Residenz ankommen mussten, doch Katja brannte vor Neugier, sie wollte es genauer wissen, ob diese kunstvoll erschaffenen Kuppeldächer wirklich aus Bernstein bestanden und vor allem, ob sie aus einem ganzem Stück gefertigt wurden. Deshalb rief sie geschwind nach Lyr, um noch vor der Ankunft in der Residenz diese Information zu erhalten.

Ruck-zuck stand Lyr schon neben Katja.

»Du hast mich gerufen, meine Liebe?«, fragte Lyr freudig.

Äh... Ja, Lyr, ich wollte nur mal wissen, ob diese leuchtend gelben kuppelartigen Dächer vielleicht aus Bernstein bestehen könnten? Und ob sie aus einem einzigen und ganzen Stück gefertigt wurden.« Katja wartete gespannt auf eine Antwort von Lyr.

»Aha. Wie ich sehe, interessiert sich unsere liebe Katja für Architektur? Nun gut, ich werde es kurz machen, da wir ja jeden Augenblick an der Residenz unseres Heiligen Xarmax vorfahren werden. Dennoch eine recht interessante Frage, die du mir da stellst. Zu deiner ersten Frage: Nein, es ist nicht Bernstein, es ist im Aussehen sehr verwandt mit diesem Urharz. Was ihr da seht, das ist reiner Kristall, genauso, wie es auch bei euch auf der Erde, natürlich nur in manchen Regionen sehr zahlreich vorkommt. Diesen braungelblich schimmernden Farbton, den ihr seht, haben unsere Chemiker durch ein besonderes Verfahren beeinflusst. Aber wie das gemacht wird, würde jetzt zu lange Zeit in Anspruch nehmen. Und zum Zweiten: Ja es besteht aus einem ganzen Stück. Hierbei haben unsere Wissenschaftler etwas, sozusagen nachgeholfen. Hier wurden in einem besonderen Verfahren abertausende kleinere Kristallstücke geschmolzen und eben durch dieses Verfahren wieder je nach Wunsch in eine neue Form gebracht. So, wir sind angekommen. Genügten dir die Antworten, Katja?« Natürlich wollte Lyr sein Lob von Katja entgegennehmen, bevor alle ausstiegen.

»Mann, Lyr, was du alles weißt, ist schon beachtlich. Danke vielmals, Lyr, es war sehr lehrreich für mich.«

Katja musste innerlich schmunzeln. Sie wusste ganz genau, dass Lyr ab und an ein bisschen Selbstbestätigung brauchte.

»Man, wie man nur so scharf auf Belobigungen sein kann, wie dieser Androide.«, sagte Katja zu Norman.

»Du sagst es, Katja, du sagst es.«, erwiderte Norman.

»So, meine Lieben, wir gehen vor wie geplant, ja? Alles folgt mir.«

Dann stieg einer nach dem anderen aus dem Schwebefahrzeug. Wieder einmal folgte die gesamte Gruppe Lyr im Gänsemarsch. Sie mussten hintereinander hergehen, weil es wieder einmal ein Pfad war, der unheimlich schmal verlief, so dass immer nur eine Person auf ihm gehen konnte. Zudem kam noch hinzu, dass links und rechts des Pfades ein Wassergraben verlief, der sich direkt bis hin zur Residenz und vermutlich um das ganze Anwesen herum zog, um sich am Haustor wieder zu vereinigen.

»Mann, können die nicht breitere Wege bauen? Komme mir wie beim Militär vor, dort mussten wir auch immer hintereinander herlaufen wie Zinnsoldaten.«, meckerte Gregor herum. Immer näher kamen sie auf das große, mächtige Eingangstor zu. Und je weiter sie sich dem Eingang näherten, um so leiser und schweigsamer wurden Lyrs Schützlinge. Da standen alle, unmittelbar vor den Stufen, die direkt in das prunkvolle Gebäude führten. Plötzlich blieb die gesamte Gruppe unmittelbar vor den Stufen stehen. So viel Respekt hatten sie vor des Heiligen Xarmax' Zuhause. Lyr mischte sich dieses eine Mal nicht ein. Denn er konnte sie gut verstehen. Diese eine Entscheidung überließ er seinen Schützlingen. Während die Gruppe so dastand und wie hypnotisiert auf das Tor starrte, starrte Katja als einzige auf die Stufen. »Wie schön sie doch glitzern und funkeln, wenn die Strahlen der Sonne sich darauf brechen. Wie tausend winzigkleine Diamanten.«, dachte sich Katja insgeheim.

»Also, Leute, was ist nun, wollen wir hineingehen oder wollen wir hier Wurzeln schlagen. Eines sage ich euch: Ich habe allmählich die Schnauze gestrichen voll. Ich bin müde, ich habe Hunger und ihr geht mir so langsam tierisch auf die Nerven.«, beschwerte sich, Gregor.

Doch diesmal beachtete kein einziger Gregor, was ihn sehr nervös machte.

»He, seid ihr gesund, ich meine, euch fehlt doch etwa nichts. Seit wann regt ihr euch über mich nicht mehr auf?«

Ja, diese Missachtung seiner Person traf Gregor wie eine Bombe in sein egoistisches Zentrum.

»Na dann, lasst uns hineingehen, ich brauche jetzt unbedingt eine eiskalte Dusche.«, erklärte Mary dem Rest der Gruppe. Mary war folglich die erste, die die Stufen emporstieg. Und wie es nicht anders sein soll, folgten die anderen Mary schön brav hinterher.

Lyr hingegen musste sich nun sputen, um noch die Führung übernehmen zu können. In Windeseile sauste er an seinen Schützlingen vorbei und stellte sich an die Spitze der Gruppe.

»So, meine Lieben, immer schön alles mit der Ruhe. Ihr wisst doch gar nicht, wo sich eure Quartiere befinden. Überlasst die Führung lieber mir, okay?«, ein vernünftiger Vorschlag seitens Lyr.

»Natürlich, gerne, Lyr.«, entgegneten einige ihm.

So, dort vorne neben der grauen Säule seht ihr schon den Lift. Mit diesem Lift fahren wir erst einmal in die sechste Etage, wo sich auch schon eure neuen Quartiere befinden. Über die Aufteilung der jeweiligen Quartiere müsst ihr euch schon selbst einigen.«

So gingen allesamt in den Lift und fuhren in den sechsten Stock. Dort angekommen standen sie da, als wären sie bestellt, aber nicht abgeholt worden. Was Lyr belustigend fand, aber natürlich sich nicht anmerken ließ.

»So, meine Lieben, hier zu meiner Rechten befinden sich eure Quartiere. Und hier zu meiner Linken, also in dem Raum mit der gelben Tür, befindet sich euer Gepäck, das ihr euch gleich holen könnt. Ruht euch zunächst aus. Ihr habt jetzt noch ein paar Stunden bis zum Abendmahl. Ich würde vorschlagen, dass wir uns so gegen 18 Uhr 30 hier vor dem Lift wieder treffen. Wir gehen dann wieder geschlossen in die Kantine, einverstanden?«, vergewisserte sich Lyr bei seinen Schützlingen, die natürlich mit einem bejahenden Kopfnicken zustimmten.

»Lyr, und wo gehst du jetzt hin?«, fragte Sarah ein bisschen unsicher klingend.

»Ich habe gleich eine Audienz beim Heiligen Xarmax. Ich muss nämlich Bericht erstatten. Ach, und Sarah, du brauchst hier, keine Angst zu haben, ihr alle könnt euch beruhigt sicher fühlen. Es ist der sicherste Ort auf dem ganzen Planeten. Darauf gebe ich euch mein Wort. Nun denn, bis heute Abend.«, und Lyr ging in den Lift und fuhr zwei Etagen höher, wo der Heilige Xarmax thronte.

Da standen sie nun und beobachteten mit gemischten Gefühlen, wie Lyr mit dem Lift nach oben verschwand. Eine Weile blieben sie noch bewegungslos, starr und mit weit aufgerissenen Augen stehen.

»Okay, lasst uns jetzt unser Gepäck holen und dann in die Quartiere gehen. Denn wenn ich jetzt nicht bald ne Dusche bekomme, werde ich von einem Tobsuchtsanfall befallen.«

Alsdann gingen alle in den Raum mit der gelben Türe und suchten ihre Gepäckstücke zusammen. Im Nu hatte ein jeder das seine gefunden und anschließend in der Mitte der Flures Stellung bezogen, um festzulegen, welcher welches Quartier beziehen durfte. Und schon gab es eine kleine mündliche Keilerei.

»Hört sofort auf, euch zu streiten. Ich glaube es einfach nicht, sich wegen einer Unterkunft zu streiten, ihr verhaltet euch manchmal wie kleine Kinder, denen man ein Bonbon wegnehmen will. Haben wir denn nicht schon genug Sorgen? So viele, viele Lichtjahre sind wir von unserer geliebten Heimat Erde entfernt. Ja, getrennt von unseren Liebsten. Und ihr habt nichts anderes im Sinn, als euch um solche Kleinigkeiten zu zanken. Begreift endlich, dass wir das Beste aus unserer Situation machen sollten. Da, seht euch Norman und Katja an. Kein Klagen ist von ihnen zu hören, kein Streiten bricht aus ihnen heraus und immer sind sie stets hilfsbereit, uns in jeder Lage beiseite zu stehen. Dabei haben sie sehr bald einiges durchzustehen. Also, ich teile jetzt die Quartiere ein, ob es euch passt oder nicht, und sollte sich irgendwer von euch mir in den Weg stellen oder meine Entscheidung anzweifeln, der soll mich, so wahr mir Gott helfe, erst richtig kennenlernen.«

Alle guckten verdutzt Mary an. Von dieser Seite her kannten sie Mary gar nicht. Nach dieser ernst gemeinten Belehrung hatte Katja Tränen in den Augen. Daraufhin hatte keiner gegen Mary irgendeinen Einwand zu erheben. Schön brav, ja und fast in Reih und Glied, wartete jeder einzelne im Flur auf die Einteilung.

Nachdem alle von Mary ein Quartier zugewiesen bekamen, kehrte wieder Ruhe ein und ein jeder tat das, wofür er sich in diesem Moment berufen fühlte. Viel taten sie nicht, denn die meisten gönnten sich ein kleines Nickerchen und jener der sich nicht allzu müde fühlte, schrieb in sein Tagebuch oder las ein gutes Buch.

Und als es kurz vor 18 Uhr 30 war, trieb sie der Hunger aus ihren Quartieren. Einige standen schon vor dem Lift und andere kamen gerade den Flur herunter. Nur einer fehlte mal wieder, wie immer, wie konnte es auch anders sein, es fehlte natürlich mal wieder Gregor.

»Mann, dieser Gregor geht mir langsam aber sicher auf die Nerven.«, sagte Norman zu den anderen, die ihm natürlich voll zustimmten.

»Ja, er ist schon eine seltsame Natur.«, flüsterte Sarah zu dem Rest der Gruppe.

Da standen nun alle vor dem Lift, wartend auf Lyr den Androiden. Und während sie warteten, gesellte sich wie wunderlich auch Gregor dazu.

»Mann oh Mann, wo denn nur Lyr bleibt?«, seufzte Gregor ungeduldig vor sich her.

»Na, Gregor, so langsam müsstest du dir doch merken können, dass Lyr die Pünktlichkeit in Person ist, dass er immer genau auf die Sekunde zu unseren Treffen erscheint. Außerdem sind es immerhin noch ganze drei Minuten, bis es halb sieben sein wird.«, gab Susanne Gregor zu verstehen. Die drei Minuten des Wartens waren schnell um. Und Lyr kam wie immer auf die Sekunde genau.

»Na, meine Lieben, habt ihr euch einigermaßen ausgeruht?«, erkundigte sich Lyr nach ihrem Befinden. Was alle mit einem leichten Lächeln auf den Lippen bejahten.

»Na dann lasst uns zum Abendmahl schreiten, ihr müsst ja förmlich am Verhungern sein. Wir müssen mit dem Lift nur eine Etage höher fahren und zwar in die siebte Etage. Von da aus sind es nur noch wenige Meter bis zur Kantine. Sie ist zwar nicht so groß wie die auf dem Mutterschiff, aber trotzdem sehr gemütlich und mit gepolsterten Stühlen und Tischplatten aus echtem Semose, oh verzeiht, ich vergaß, dass ihr unserer Sprache nicht mächtig seid. Semose ist ein marmorähnliches Gestein, das auf unserem Planeten sehr selten vorkommt, ungefähr so selten wie bei euch auf der Erde die Diamanten. Ach, und noch etwas, ihr werdet, so lange ihr hier im Palast des Heiligen Xarmax verweilt, leider alleine dinieren müssen.« Lyr wartete auf eine Reaktion, auf die er aber nicht lange warten musste.

»Was? Wieso das denn, warum dürfen wir auf einmal nicht mehr mit euresgleichen Essen. Ist das Volk der Dogon wohl über Nacht etwas Besseres geworden, oder hat es dich in den Adelsstand erhoben, so dass es untragbar wäre, mit Unseresgleichen zu dinieren? So gebt Antwort, edler Lyr.« Gregor konnte einfach nicht anders, als seinem Mundwerk freien Lauf zu lassen. Trotz dieser Anschuldigung seitens Gregors, musste die Gruppe lachen. Aber einiges, was er eben sagte, lockte den Rest der Gruppe, schon etwas intensiver darüber nachzudenken.

»Aber nicht doch, meine Lieben. Ich werde es euch erklären. Zum einen ist dies die Kantine des Heiligen Xarmax, zum anderen darf ein Goderijaner, der untergeordnet ist, niemals diesen gesamten Bereich der siebten Etage betreten. Und da gehört ja wohl auch diese Kantine dazu. Ausgenommen der Hohe Rat, der ja regelmäßig mit dem Heiligen Xarmax zu dinieren pflegt. Auch wird die Kantine des Öfteren für Regierungsverhandlungen, Entscheidungen, Befehls-Erteilungen usw. genutzt.« Alles wird hier geregelt, um ein so großes Volk leiten und führen zu können. Ordnung muss eben sein. Es wird auf eurem Planeten genauso gehandhabt, wenn ich mich mal eurer Sprache bedienen darf, wie bei uns auch. Nur auf zwei unterschiedlichen Systemen. Erstens entscheiden bei euch einige mächtige Parteien über das gesamte Volk, wobei bei uns nur der Heilige Xarmax Entscheidungen trifft, und zum Zweiten habt ihr ein ganz anderes System, als wir es haben, doch nichts desto Trotz, es funktionieren alle beide, wie ihr euch selbst überzeugen könnt, wann immer ihr mögt.«, erklärte Lyr voller Eifer.

»Lyr, und warum dürfen wir die Kantine benutzen?«, eine kluge Frage, die da Norman stellte.

»Weil ihr Gäste des Heiligen Xarmax seid. Weil es sein ausdrücklicher Wunsch war.«, ergänzte Lyr vorsichtig.

»Ach, und was des Heiligen Xarmax Wunsch ist, ist auch Befehl, na, habe ich nicht Recht, Lyr?«, fragte dieses Mal Susanne etwas verärgert.

»Wieder falsch, niemand wird euch zu etwas zwingen, was ihr nicht möchtet. Das ist der Wunsch des Heiligen Xarmax. Mit Ausnahme eurer Entführung, was aber notwendig war, um unser Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Ihr könnt dem Volk der Goderijaner ruhig glauben, stolz empfanden wir bei dieser Notwendigkeit bis heute nicht, und es wird uns auch in der Zukunft nichts an Stolz und Zufriedenheit zurückgeben können. So lasst uns nicht länger Zeit vergeuden. Hat jemand von euch noch Fragen zu diesem Thema? Nein? Na dann lasst uns mit dem Lift hochfahren.«, bekräftigte Lyr sein Vorhaben.

»Mann, endlich, habe einen mords Hunger, könnte jetzt glatt ein ganzes Kamel verdrücken.«, wies Peter auf sein körperliches Verlangen hin. Dann stiegen alle in den Lift und fuhren in die siebte Etage hoch. Dort angekommen führte Lyr sofort seine Schützlinge in die Kantine. Wiederum suchte sich die Gruppe einen Rundtisch aus, der inmitten des Saales stand. Nachdem alle bestellt hatten, aßen sie so heftig, als könnte man meinen, sie hätten seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Lyr, der wieder mal abseits im Türrahmen vom Aus- und Eingang der Kantine stand, und natürlich alles mitbekam, schmunzelte aufs allerliebste.

Ach, diese Menschlein, welch wunderbare Geschöpfe. Wenn sie doch nicht manchmal so schwierig wären und vor allem nicht so selbstständig. Dann hätte ich es des Öfteren ein kleines bisschen leichter mit ihnen.

»Du gütiger Himmel, ich habe gefressen wie ein Schwein. Das ist doch nicht normal, ich bin randvoll bis oben hin. Ich bekomme keinen Bissen mehr hinunter.«, gab Gregor mit einem lauten Rülpser seinen Kameraden zu verstehen. Die sich aber angeekelt in Schweigen hüllten.

»So, ich bin auch fertig, also, ich muss schon sagen, diese Fertiggerichte schmecken hervorragend, deliziös.« Als sie Stephan dies sagen hörten, brachen allesamt in einen Lachkrampf aus. Stephan scherzte selten, aber wenn er mal loslegte, blühte sein Talent und seine äußerliche Erscheinung als Komiker voll auf. Er sah dann so komisch aus, und mit seinem Gesichtausdruck und dieser unnachahmlichen hohen Stimme, die nur er von sich geben konnte, war er ein absoluter Promoter in seiner gekünstelten Art. Minutenlang musste der Rest der Gruppe noch lachen, sie konnten sich einfach nicht mehr beruhigen. So komisch war doch diese Szene. Ja, ja, so herzzerreißend hörte ich meine Schützlinge schon lange nicht mehr lachen. Tut meiner Gefühlsmatrix richtig gut, meine Schützlinge, und wenn es nur für Augenblicke ist, glücklich zu sehen. Was für gefühlvolle Wesen sie doch sind. Obwohl sie von uns entführt wurden, sind sie bereit, unserem Volk in unserer Not beiseite zu stehen. Wir Dogon können noch von diesen Geschöpfen etwas lernen, dachte sich Lyr, der, wenn er sich bei ihnen aufhielt, seine Schützlinge niemals aus den Augen ließ. Allmählich beruhigten sich die Gemüter der Runde. Und Lyr kam an den Rundtisch.

»Wie ich sehe, meine Lieben, seid ihr bei bester Laune.«, sagte Lyr.

»Lyr, du hättest Stephan gerade eben miterleben müssen, es war doch zu komisch!«

»Ich habe alles mitbekommen, wenn ich mir Erlauben darf zu äußern.«, entgegnete Lyr leicht ironisch.

»Haben meine Schützlinge heute noch etwas vor, oder noch irgendeinen Wunsch, den ich euch erfüllen kann?«, fragte Lyr in einem charmanten Tonfall.

»Also, Lyr, sei mir nicht böse, aber für mich ist nachher das Bett, und nur das Bett, der einzige Zielort, an dem ich heute noch wandern werde. Ich weiß natürlich nicht, wie es um den Rest der Gruppe steht, wenn sie vielleicht mit dir noch etwas unternehmen wollen, frage sie doch einfach.«, entgegnete Katja gähnend.

Doch auch bei den anderen sieben der Gruppe stieß Lyr gegen eine Mauer der Müdigkeit. Höflich verneinten sie, der Bitte des Androiden zu entsprechen. Anschließend wünschten sie Lyr eine ruhige und angenehme Nacht und gingen in Richtung Lift und fuhren mit ihm in den sechsten Stock. Lyr begleitete sie natürlich wie eh und je.

Ein jeder begrüßte die Nacht und verschwand in seinem Quartier. Da stand nun Lyr, sich etwas vernachlässigt und doch zufrieden mit seinem Tag fühlend.

»Na ja, dann werde ich eben meine Rundgänge etwas vorschieben.«, gab Lyr im Selbstgespräch wieder. Und so machte er sich auf den Weg durch des Heiligen Xarmax' Residenz.

Wieder lag Norman, obwohl hundemüde, wach in seinem Bett und starrte auf die sehr schön verzierte Deckenverkleidung. Doch was es darstellen sollte, konnte Norman nicht entziffern. Na egal, dachte er sich, trotzdem ist es wunderschön anzuschauen.

Norman machte sich große Sorgen wegen der Audienz des Heiligen Xarmax am morgigen Tag. Er wusste nur zu gut, dass Xarmax bestimmt auf das Thema der Rettung seines Volkes kommen würde, das generationenlang an dieser heimtückischen Krankheit litt.

Es musste so kommen, denn alleine aus diesem Grund befanden sie sich ja nun mal hier auf Goderijan. Es war viel weniger die Angst, die einen Schatten über ihn warf, dass ihm und Katja etwas bei dieser Prozedur zur Rettung der Goderijaner geschehen könnte. Nein, Sorgen und Angst machte ihm, dass er und Katja versagen könnten. Dass alles, was bisher an Opfer gebracht worden ist, vergebens gewesen war. Ja, zu vieles ging ihm durch den Kopf. Ich muss unbedingt Schlaf bekommen, muss für morgen früh fit wie ein Wiesel sein. Dachte sich noch Norman und drehte sich im Bett zur Wandseite um. Einige Minuten später, Norman war fast eingeschlafen, da klopfte es an seiner Tür. Erst hörte Norman dieses pochende Etwas als Echo, doch als es wieder klopfte, wurde er fast erschrocken wach.

»Ja, wer ist denn da? Wer macht denn hier so ein Theater?«, schrie Norman förmlich der Tür entgegen und das, ohne zu wissen wer ihm die Ehre erwies, ihn zu besuchen.

Ganz langsam, ja schon fast unheimlich, ging die Tür auf. Nur einen Spalt breit, gerade so viel, dass es einem Menschen oder Dogon möglich gewesen wäre, seinen Kopf hindurchzustecken. Und tatsächlich, ein Kopf ragte durch den leicht geöffneten Türspalt.

Es war Katja, die Norman natürlich sofort erkannte.

»Ach, du bist es, Katja? Ist denn etwas geschehen? Und warum schläfst du noch nicht?«, viele Fragen, die Norman an Katja stellte.

»Äh... Entschuldige vielmals, Norman. Keine Sorge, es ist alles in bester Ordnung.«, gab sie zur Antwort.

»Sag mal, willst du nicht erst einmal hereinkommen, oder willst du mit der Hälfte deines Unterkörpers auf dem Flur, Maulaffenfeil halten?«, neckte Norman seine Schwester ein bisschen.

»Doch, natürlich möchte ich kurz hereinkommen.«, gab Katja Antwort.

Dann setzte sie sich neben Norman auf die Bettkante. Eine zeitlang guckte sie Norman nur an. Was Norman natürlich etwas nervös zu machen schien.

»Na, was ist, bist du nur gekommen, um mich anzusehen oder was?«, wollte Norman verständlicherweise wissen. Doch dann bemerkte Norman einen gewissen Hilfeschrei in ihren Augen. Noch schwieg Norman, doch als er Tränen in ihren Augen erkennen konnte, die über ihre rosaroten Wangen liefen, beugte er sich zu ihr hinüber und nahm sie ganz fest, dennoch liebevoll, in die Arme. In diesem Augenblick bedurfte es keinerlei Worte.

Im nächsten Augenblick berührte Norman Katjas Wangen mit seinen beiden Händen und richtete ihre Augen und Gesichtsfeld direkt in seinen Blickwinkel.

»Ich weiß, Katja, mir geht es ebenso, aber da müssen wir durch. Ich weiß, was du jetzt durchmachen musst. Dennoch, wir müssen tapfer sein, wir dürfen jetzt nicht resignieren.

Wir haben eine Aufgabe bekommen, die uns schon in die Wiege gelegt worden ist. Und da glaube ich fest daran. Und noch etwas: Ich glaube sogar, dass es der Wille Gottes war, dass wir hier auf Goderijan sind.« Eine ganze Weile verharrten beide in ihren Zweifeln und Ängsten.

»Na, Liebes, geht es wieder?«, fragte Norman seine Schwester sorgenvoll, während er mit einem Taschentuch, das auf dem Nachtkästchen lag, sanft die kleinen Tränchen aus ihren Augen und Wangen abtupfte.

»Danke, Norman, du bist lieb. Mach dir keine Sorgen, mir geht es schon wieder besser.«, gab Katja mit einem gezwungenen Lächeln zur Antwort.

»So, und du bist eine sehr schlechte Lügnerin.«, gab Norman im Scherz zurück, worauf Katja, noch unter Tränen, herzhaft lachen musste.

»Na siehst du, so gefällst du mir schon besser. Dennoch solltest du jetzt in dein Quartier gehen. Versuche etwas zu schlafen, es wird morgen wieder ein anstrengender Tag, der uns bestimmt mal wieder emotional und psychisch fordern wird.«, bat Norman seine Schwester.

»Ja, Norman, sicher hast du mal wieder Recht, wie meistens.«

Dann gab Katja ihrem Bruder, den sie inzwischen sehr lieb gewonnen hatte, ganz sanft ein Küsschen auf seine Stirn und verließ sein Quartier. Für Norman wurde es höchste Zeit. Abermals drehte er sich in seinem Bett zur Wandseite und schloss die Augen.

Eine halbe Stunde später kam Lyr von seinem Kontrollgang zurück. Auch hier im Palast des Heiligen Xarmax musste er stets Kontrolle laufen. Lyr ließ es sich aber nicht nehmen, noch einmal bei seinen Schützlingen nachzusehen, ob auch alles in bester Ordnung ist. Also lief er ein Quartier nach dem anderen ab, öffnete ganz vorsichtig einen Spalt breit die Tür und guckte mit einem geübten Blick blitzschnell hinein. Das tat er jeden Abend, ob auf dem Mutterschiff oder gar wie jetzt in des Xarmax' Residenz. Diese Kontrolle seiner Lieben übte er aber in absoluter Stille aus, besonders heute, da seine Schützlinge morgen einen sehr harten Tag vor sich hatten und sich diesen Schlaf der Gerechten verdient hatten. Keiner sollte unnötig geweckt werden. Nach dem dieses Werk von Lyr vollendet war und er sich überzeugen konnte, dass alle fest und tief schliefen, war auch für Lyr die Zeit des Ruhens gekommen. Dann, wie eh und je, ging er in sein Quartier, das sich im übrigen in der gleichen Etage befand, und schloss sich an seinem Energiespender an. Anschließend schaltete er sich sozusagen wieder auf Sparflamme. Nur die nötigsten Überwachungssensoren blieben dabei in Bereitschaft. Die Nacht verging schnell und Lyr war schon auf dem Wege, um seine Schützlinge wie immer zu wecken. Genau um Punkt 6 Uhr 30 morgens. Wie eh und je, und so auch hier, in des Heiligen Xarmax' Residenz, fing Lyr mit dem hintersten Quartier an und arbeitete sich bis nach vorne durch. Doch dieses Mal traf es nicht Norman, der immer als erstes geweckt wurde, nein, durch die neue Einteilung der Quartiere seitens Mary traf es diesmal Gregor, der sich, und wie sollte es auch anders sein, rebellisch aufführte, was aber Lyr eiskalt ließ. Wieder einmal, genau wie am Vortag, traf sich die ganze Gruppe mit Lyr um halb sieben vor dem Lift, um wieder einmal geschlossen zum Frühstück zu gehen. Das Frühstück war schnell beendet und Lyr kam zum Rundtisch.

»Also, hört mir bitte mal alle zu: In genau zehn Minuten haben wir, wie schon vor nicht allzu langer Zeit angesagt, eine Audienz bei dem Heiligen Xarmax. Und vergesst bitte die Verbeugung nicht. Ihr habt es mir versprochen, unserem Heiligen Xarmax diese Ehre zu erweisen.« Ein bisschen mussten einige der Gruppe schmunzeln, als ihnen auffiel, dass ihr süßer Androide so langsam Menschlichkeit, also menschliche Züge annahm, denn er war nervöser als sie selbst es waren. Was aber die Gruppe für sich behielt. Die Gruppe war froh, Lyr auf ihrer Seite zu wissen, denn er war und ist und hat bis jetzt, die gesamte Gruppe immer in Schutz genommen, egal in welcher Lage sie sich auch immer befanden. Im Nu standen alle vor dem leeren Schacht und warteten geduldig aber dennoch etwas nervös auf den Lift, der vermutlich anderweitig im Einsatz war. Dann, endlich, kam der Lift zu ihrer Höhe hochgefahren. Ganz oben, also in er zehnten Etage angekommen, folgten sie sogleich Lyr, der wie immer voraus ging, um die Gruppe zu führen. Es ging zunächst etwa zweihundert Meter nach rechts den Flur oder Gang, wie auch immer man diese Röhre nennen mag, entlang. Als nächstes fünfzig Meter nach links und so weiter und so fort. So ging es nicht enden wollend eine geschlagene Viertelstunde lang weiter. Es schien kein Ende zu nehmen und ein jeder machte sich während dieser Zeit seine eigenen Gedanken. So konnten sie sich von ihrer Nervosität ein bisschen ablenken, und so watschelte einer nach dem anderen, wie kleine Entchen hinter der Entenmutter, geduldig hinter Lyr, ihrem Wegweiser, hinterher. Und während sie immer weiter durch das scheinbar nicht enden wollende Labyrinth einhergingen, staunten sie nicht schlecht über die Schönheit dieser Gänge, die mit diesem marmorähnlichem Gestein, das die Dogon liebevoll Sammes nannten, verziert waren. Und die Decken waren mit einer kunstvollen Pracht verziert, dass es einen zum Träumen verleiten konnte und das ungeachtet dessen, dass die Gruppe von dieser Art künstlerischen Schaffens keinen blassen Schimmer, sozusagen überhaupt keine Ahnung, hatte. Dann blieb Lyr abrupt vor einer mächtig großen Türe stehen, man könnte sie aber auch als ein Großes Tor bezeichnen, was aber nicht angemessen wäre, da ja bekanntlich ein Tor meistens als Ein- und Ausgang benutzt wurde der sich in den Außenwänden befand. Diese Tür, die einem, wie schon gesagt, wie ein Tor vorkam, fiel jedem sofort ins Auge. Sie war gräulich kahl und einfach, kein Pomp und Glimmer, keinerlei Verzierungen spiegelten sich darauf wieder. Anscheinend war dieser Heilige Xarmax nicht sehr anspruchsvoll, wenn es um seine Wenigkeit ging.

»So, meine Lieben, wir sind am Ziel. Jedoch, bevor wir zur Audienz unseres Heiligen Xarmax schreiten, möchte ich euch noch eine Frage stellen: Ist euch auf dem Weg hierher irgendetwas aufgefallen? Und hat irgendjemand an sich eine Veränderung bemerkt?«, wollte Lyr vorerst von seinen Schützlingen wissen.

Katja meldete sich mit einem rechten Fingerzeig, als erstes.

»Ja, Katja? Du möchtest etwas dazu sagen?«, gab Lyr Katja das Wort.

»Ja, gerne, Lyr. Zu der ersten Frage: Es ist mir aufgefallen, dass dieser Weg hierher einem Irrgarten glich. Und zum zweiten verspürte ich einen unwiderstehlichen Drang, über mein ganzes Leben nachzudenken. Ja, mein gesamtes Leben zog an mir vorbei. Was in dieser kurzen Zeit eigentlich gar nicht möglich wäre. Ich kann mich nur wiederholen. Ja, wie in einem Schnelldurchlauf einer Zeitrafferkamera zog mein bisheriges Leben an mir vorbei. Zudem fürchtete ich mich schrecklich, brachte jedoch keinen einzigen Ton heraus. Und es kam mir so vor, als würde irgendetwas mein gesamtes bisheriges Erleben, und noch dazu mein Wissen, förmlich aus mir heraussaugen.« »Das ist doch nicht normal, oder?«, stimmten die restlichen sieben der Gruppe Katja vollends zu. Denn auch sie erlebten und empfanden das Gleiche wie Katja.

»Bitte bewahrt jetzt Ruhe. Was euch eben widerfuhr, war von Anfang an von unserem Heiligen Xarmax bis ins Kleinste vorbereitet und geplant, sozusagen beabsichtigt. Nur so war es unserem Heiligen Xarmax erst möglich, seinen Geist und seine Seele mit der euren für kurze Zeit zu verschmelzen, um mehr über jeden einzelnen von euch und euere Denkweise, aber auch mehr über euer bisheriges Leben zu erfahren. Auf diese Art und Weise spart unser Heiliger Xarmax viele Jahre des Kennenlernens eines jeden einzelnen von euch. Ihr müsst wissen, dass unseres Heiligen Xarmax' Zeit sehr begrenzt ist, was ihr bestimmt verstehen werdet. Noch etwas: Diesen Gang oder Flur, wie auch immer ihr ihn bezeichnet und den ihr irrtümlicherweise Irrgarten nanntet, wird eigentlich in menschlicher Sprache, also in diesem Fall in eurer Landessprache, 'der Weg der Wahrheit zur Selbsterkenntnis' genannt.«

Als Lyr eigentlich mit einer Begeisterung seiner Schützlinge rechnete, bemerkte er ganz plötzlich eine gewisse Spannung auf ihren Gesichtern, was ihm gar nicht gefiel. Noch dazu kurz vor der angesagten Audienz.

»Aber, wie kommt denn der Heilige Xarmax dazu, uns des Einzigen zu berauben, was für uns Menschen seit Anbeginn unserer Schöpfung als unantastbar gilt, nämlich frei zu denken, zu fühlen und zu träumen. Nicht einmal unser Herrgott würde dies tun. Ich muss schon sagen, ich bin zutiefst erschüttert und vom Heiligen Xarmax schwer enttäuscht. Und da, so glaube ich, spreche ich nicht nur für mich.«, klagte Katja den Heiligen Xarmax an. »Außerdem hattet ihr uns nach der Entführung auf dem Mutterschiff versprochen, nicht mehr in unsere Gedankenwelt einzudringen.«

»So beruhigt euch doch, der Heilige Xarmax tat dies doch nicht mit böser Absicht oder gar, um euch Schaden zuzufügen. Nein, im Gegenteil, er wollte nur von euch lernen, euch besser zu verstehen, einen Augenblick lang zu fühlen, wie ihr fühlt, damit er bei der Audienz besser auf euch eingehen kann. Was ist denn so schlechtes daran?«, versuchte Lyr diese prekäre unerfreuliche Situation zu entschärfen. Doch vergebens, Lyr begriff, ja spürte, dass das, was sein Schöpfer Xarmax sich in diesem Fall anmaßte, zu viel des Guten war. Er hatte die Rechte der Menschen auf geistige und seelische Freiheit aufs Schändlichste und Hinterhältigste verletzt. Lyr stand mal wieder starr und unbeweglich wie ein Pfeiler da und wusste nicht mehr ein noch aus. Hoffnungsvoll, die Gruppe könnte sich wieder besinnen, aber das schlug fehl. Es folgte ein tiefes Schweigen.

»Es tut mir leid.«, sagte Lyr, nun sehr nervös geworden.

»Dir, Lyr, braucht überhaupt nichts Leid zu tun. Wir wissen, dass du nichts dafür kannst, obwohl du davon wusstest.«, sagte Norman zu ihm.

»Danke, ich danke euch allen. So werde ich nun zu unserem Heiligen Xarmax eintreten und uns anmelden, einverstanden?«

Lyr hatte schon die Türklinke mit seiner rechten Hand fest umklammert, da wandte Mary wörtlichen Protest ein.

»Lyr, das wird wohl nicht mehr nötig sein.«, sagte Mary im ruhigen und gelassenen Ton.

»Wa... Was wird nicht mehr nötig sein? Was habt ihr denn vor?«, fragte Lyr sehr aufgeregt.

Dennoch glaubte Lyr zu wissen, was nun folgte, dass seine Schützlinge an der Audienz des Heiligen Xarmax nicht teilnehmen werden. Lyr neigte enttäuscht sein Haupt gen Boden. Er wollte es wohl nicht einsehen, geschweige denn wahrhaben.

»Aber, meine Lieben, das geht doch nicht, das ist ausgeschlossen. Noch nie wurde eine Audienz unseres Heiligen Xarmax verweigert, geschweige denn, auch noch beabsichtigt. Das gleicht einer Infamie, ja einer Rebellion seinesgleichen. Das könnt ihr mir doch nicht antun!«, jammerte und jammerte Lyr unentwegt weiter. Doch das ließ die Gruppe Lyr dem Androiden gegenüber eiskalt.

»Lyr, offen gesagt interessiert uns das momentan überhaupt nicht.« Lyr staunte nicht schlecht, als sie sich umdrehten und ihm sozusagen die kalte Schulter zeigten. Lyr konnte einem schon leid tun. Da stand er nun verlassen und alleine. Und was Lyr noch viel schlimmer zusetzte, bestimmte die Tatsache, dass die Zeit der Audienz bei seiner Heiligkeit Xarmax schon längst fällig, ja überschritten war. Lyr blieb nun nichts anderes übrig, als diesen schweren Weg in die Höhle des Löwen alleine zu gehen und über die sich neu zugetragene Situation Bericht zu erstatten. Langsam und beherzt öffnete Lyr die mächtige Tür und verschwand in dem dahinter liegenden Raum.

Währendessen irrte die Gruppe durch die unendlichen Gänge, die, wie schon gesagt, einem Irrgarten glichen, bis sie endlich vor dem besagten Lift standen. Vor diesem standen sie nun wartend.

»Hört mal alle zu, ich finde, wir sollten uns erst einmal über unsere jetzige Situation beraten, wie es weitergehen soll. Denn, wie wir alle wissen, sind wir ja eigentlich nicht so ganz freiwillig hier, oder?«, schlug Norman vor.

»Ja genau, Norman hat da nicht mal so Unrecht. Wir sollten in diesem Fall unsere geistige und seelische Freiheit fordern. Kein phänomenisches und mentales Eindringen mehr. Unsere Gedanken gehören uns und sonst niemandem.«, äußerte sich Katja energisch.

Als sich alle damit einverstanden erklärten, einigte sich die Gruppe, in Normans Quartier zu gehen, um dort intensiver über dieses Problem zu beraten.


*

Währenddessen auf der zehnten Etage, im Residentensaal des Heiligen Xarmax:
 

Lyr stand vor seinem Schöpfer, der auf seinem mächtig wirkenden Thron stumm verweilte. Xarmax' Thron befand sich auf einem ungefähr zwei Meter hohen Podest. So war es dem Heiligen Xarmax möglich, alles in diesem so großen Saal zu überblicken und zugleich mächtiger zu wirken, obgleich er es eigentlich nicht nötig hätte.

»Nun sprich, mein Androide Lyr, wie dich die Menschen nennen.«, forderte Xarmax mit lautem Ton.

»Gewiss, gewiss mein Schöpfer. Oh... Mein Heiliger Xarmax ich bin untröstlich, aufs alleräußerste zutiefst beunruhigt, ich bin konfus, ich...«

»Beruhige dich, mein treuer Androide, ich weiß längst über diese kleine delikate Rebellion deiner und der unseren menschlichen Schützlinge bescheid. Doch sei dir gewiss, dir und deinen Menschlingen gebe ich keine Schuld. Die Schuld daran liegt bei mir, die ich auf eure Schultern lud. Ich weiß, dass ich dieses eine Mal viel zu weit ging. Was ich natürlich zutiefst bedaure. Doch die Wege eines Herrschers sind des Öfteren unergründlich. Ich stamme aus einer sehr, sehr langen Ahnenreihe und Gattung der Weisen und Gründer unserer heutigen Kultur des Heiligen Goderes (Gottheit - Schöpfer). Und jeder der Xarmarxses hat seinen Teil zum Wohle unseres Volkes mit Geist und Seelenführung bestens beigetragen. Jedoch heute habe ich versagt. Ich fühle, dass bald meine Zeit kommen wird, wo ich mich endlich mit dem Geiste und meiner Seele unseres Oberhauptes und Gründer unserer Kultur, des Heiligen Goderes, vereinigen werde. Ich glaube, dass ich es mir nach so vielen Jahrhunderten des Existierens und Waltens über das Volk der Goderijaner verdient habe. Doch vorerst muss durch der Menschen Kraft und Geist, die seit ihrer Existenz in ihnen ruht, eine Seelenverschmelzung stattfinden, die diese Krankheit endgültig vernichten wird. So dass auch unser gesamtes Volk ohne Angst, Leid und Schrecken zuversichtlich in die Zukunft blicken kann. Wenn das nicht geschieht, ist diese letzte Chance, den Kranken und die es noch von Generation zu Generation werden zu helfen, für immer zunichte. So ist mein Wunsch und so berichte auch deinen Schützlingen von mir. Die wahre Macht kommt nur aus dem inneren Herzen. Noch etwas, und höre, mein getreuer guter Freund und Androide. Schon vor kurzem beschloss ich und in Beratung mit dem Hohen Rat, dass du als der erste künstliche Goderijaner von mir höchst persönlich den besten Gefühls- und Speicherverarbeitungschip, der je entwickelt wurde, als Belohnung deiner bisherigen Verdienste im Sinne deiner von mir zugetragenen Aufgaben, erhalten wirst. Trete näher, damit ich dir diesen außergewöhnlichen Chip mit großer Freude überreichen darf. Darüber hinaus bist du mit deinen neuen Fähigkeiten durch diesen Chip durchaus in der Lage, eines der Mutterschiffe zu führen und zu kommandieren. Deswegen ernenne ich dich in meinem Namen und im Segen des unseren Heiligen aller Heiligen Oberhauptes, Goderes (Gottheit - Schöpfer), zum Ikachee Te (Kommandant).«

»Lyr verschlug es mächtig seine Sprachmembranen, in diesem einen Augenblick brachte er kein einziges Wort heraus und um seine Nervosität zu vertuschen, verbeugte er sich demütig. Lyr wusste, dass es noch nie einen Androiden gab, der ein Kommando über eines der gigantischen Mutterschiffe erhielt. Lyr rang mit sich selbst. Er war zwar sehr stolz, einer solchen Ehre teilhaben zu dürfen, dennoch machte er sich Sorgen. Sorgen darüber, dass er vielleicht durch dieses Kommando, das er übernehmen sollte, jedoch eigentlich musste, von seinen Schützlingen getrennt würde.

»Mein Schöpfer, ich weiß nicht, ob ich all diese Auszeichnungen verdient habe, dennoch werde ich, wie die Menschen zu sagen pflegen, nach bestem Wissen und Gewissen meine neuen Aufgaben im Sinne deiner Zufriedenheit beginnen und auch beenden.

Ich danke mit ganzer Kraft und Ehrlichkeit, meinem Heiligen Xarmax und schwöre auch weiterhin auf ewige Treue und Loyalität.«, beehrte Lyr seinen Schöpfer.

»Sehr zufrieden scheint mein treuer Androide nicht zu wirken, aber mache dir nicht so viele unnötige Gedanken, Xarmax weiß, was seinen Androiden bedrückt. Es sind die Erdlinge.«, wies der Heilige Xarmax darauf hin.

»Ja, mein Schöpfer, ich bin mir sicher, dass sie stets meiner bedürfen.«, erklärte Lyr mit bedrückter Stimme.

»Aber, aber, mein treuer Freund, dessen bin auch ich mir bewusst, so habe ich im Vornherein, alles zu deiner Zufriedenheit geregelt, wie die Menschen belieben zu sagen.

Du wirst bis zur Rückkehr deiner Schützlinge auf diesen blauen Planeten, den die Menschen sonderlicherweise Erde nennen, bei ihnen verharren. Wenn es soweit ist. Jedes der acht Menschlein sollte sich genau dort wiederfinden, wo wir sie einst von ihrer Heimat entführten und ihrer Örtlichkeit beraubten. Wer sich an uns und das Erlebte erinnern möchte, ist jedem freigestellt. Doch muss er vorerst in die Kammer des Schweigens, so dass er sich in seinen Gedanken an das Geschehene erinnern möge, jedoch, ihm darüber zu reden für immer versagt sei. Merke auf, mein treuer Freund, meine Wünsche und die des gesamten Volkes sollten dein Begehr sein.«

Als Lyr diese Worte von seinem Schöpfer, dem Heiligen Xarmax empfing, waren seine Schaltkreise und seine Matrix trunken vor Überwältigung und Freude.

»Oh... Wie weise und gutherzig mein Schöpfer doch ist. Ich, Lyr, wünsche meinem Heiligen Xarmax ewiges und ein weiteres zufriedenes Herrschen über das ganze Volk des Planeten Goderijan.«

Das war keine Schmeichelei, die da Lyr äußerte. Nein, im Gegenteil, Lyr meinte dies aus seiner vollsten Gefühlsmatrix.

»So sei es und so soll es geschehen, im Namen unseres Oberhauptes Goderes. Nur noch ein letztes, mein Androide und zukünftiger Kommandant. Wie gedenkt mein treuer Lyr diese so prekäre, nun sagen wir, diesen Zwiespalt zwischen meiner Wenigkeit und die deiner geschätzten Schützlinge wieder... Äh... Wie belieben die Menschen doch zu sagen? Ins rechte Licht zu rücken? Lyr, gewiss ist dir unseres Volkes Abhängigkeit, was die beiden Menschlinge Norman und Katja betrifft, bewusst, dessen bin ich mir sicher. Mir, Xarmax, wäre es eine innige Wonne, ja ein freudiges Seelenheil in meines Geistes Gefüge, wenn die Menschen wieder meiner Gütlich wären.«

Ja der Heilige Xarmax machte sich große Sorgen, dass Lyrs Schützlinge nicht mehr dazu bereit wären, die Dogon von dieser so schrecklichen Krankheit zu heilen.

»Mein Schöpfer, ich kann nichts versprechen, doch sei dir gewiss, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um meine Schützlinge wieder friedlich dir gegenüber zu stimmen. Dennoch, so glaube ich sie gut genug zu kennen, dass sie nicht im Stande wären, unser Volk mit dieser heimtückischen Krankheit sich selbst zu überlassen. Und einfach so, als ginge sie all dieses Schreckliche nichts an, anschließend nach Hause gebracht zu werden. Nein, nein, und nochmals nein. sie sind für mich die friedlichsten, gutmütigsten, liebevollsten und empfindsamsten Geschöpfe, die ich je kennenlernen durfte. Wie sie es schon des Öfteren zu mir sagten, für sie würde ich meine Hände ins Feuer legen. Nun, mein Schöpfer, nochmals tiefsten Dank.«

Lyr verbeugte sich tiefer denn je vor dem Heiligen Xarmax und verließ den Thronsaal.

Lyr beschloss, sofort die neue Botschaft seinen Schützlingen zu berichten und machte sich auf den Weg zu ihren Quartieren.


*

Währenddessen noch immer im Quartier von Norman, wo sich ja alle versammelt hatten:
 

»Tja, ich sage euch, wir werden zu diesem arroganten Xarmax gehen und ihn mal so richtig bescheitstoßen, ja ihm mal so richtig die Meinung blasen. Ich meine, was bildet der sich überhaupt ein! Und außerdem sagen wir ihm gleich, dass wir gleich morgen wieder nach Hause wollen. Lieber verbringe ich abermals viele Jahre auf diesem Mutterschiff, als diesem elenden Monster, das sich sogar heiligsprechen lässt, irgendwann nochmal zu begegnen. Na, was haltet ihr von meinem Vorschlag?« Gregor ging mal wieder mit seinem Mundwerk zu weit.

»Gregor, wenn du heute noch ein einziges Mal dein verdammtes Schandmaul aufmachst, dann sorge ich dafür, dass du den Rest dieses Aufenthaltes hier auf Goderijan deine Mahlzeiten aus einem Strohhalm saugen wirst. Hast du das kapiert?«, machte Peter deutlich.

Doch Gregor ließen diese Worte kalt. Und so kam es, wie es kommen musste.

»Was geht dich Milchbubi an, was ich zu sagen habe und, weißt du was, du kannst mich mal, du weißt schon wie, sag mir nur wie du es gerne hast.«

Gregor hätte dies nicht sagen dürfen, denn für Peter, der eigentlich sein Chef auf der Erde ist, war das Maß endgültig voll. Mit einem Satz sprang Peter zu Gregor, der ungefähr einen Meter vor Peter auf einem Stuhl saß, hinüber und gab ihm mit seiner rechten geballten Faust einen solch kräftigen Schlag aufs Kinn, dass Gregor mitsamt Stuhl rückwärts fiel, als hätte dieser Stuhl, auf dem Gregor saß, einen Raketenantrieb eingebaut. Im Nu rangelten die beiden in Normans Quartier wie wild gewordene Geier umher, die sich um einen Kadaver streiten. Natürlich gingen alle dazwischen, als es zu heftig wurde, und trennten die beiden Streithähne.

»Sagt mal, was ist denn mit euch beiden los, seid ihr jetzt ganz Übergeschnappt oder was? Haben wir denn nicht schon genug Kummer? Müsst ihr euch denn wie kleine Kinder aufführen? Mann, ich kann es nicht fassen! Gregor, und du wirst dich in Zukunft etwas mehr mit deinem Spötteln und deinem ewigen Gejammer zurückhalten, oder glaubst du, dass du der einzige hier bist, der Grund hätte sich aufzuregen? Vergiss bitte niemals, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, ob es uns nunmal gefällt oder nicht. Wir dürfen nicht anfangen, gegen uns selbst zu handeln. Im Gegenteil, wir müssen zusammenhalten.« Und während die gesamte Gruppe aus ihrer Diskussion nicht herauszukommen schien, stand Lyr schon vor Normans Quartier. Lyr ging gezielt dorthin. Eigentlich sollte dies ein merkwürdiges Verhalten seitens Lyrs darstellen, doch weit gefehlt, Lyr wusste stets, wo sich seine Schäflein aufhielten, ja, dass sich die Gruppe jetzt bei Norman aufhielt. Nun, das ist ganz einfach zu erklären, nämlich durch Lyrs ausgezeichnetes Gehör, was ihm ermöglichte, sogar durch bis zu einem Meter dicke Stahlbetonmauern zu hören und Wärme von sämtlichen Lebewesen zu analysieren, sozusagen abzutasten. Ja, in Lyr steckte eine enorme Elektronik, die ihm enorme Fähigkeiten verlieh. Wenn die Menschen ihn in die Finger bekämen, wäre es um ihn geschehen. Es wäre nicht auszudenken, wenn Lyr einem der Mächtigen der Erde in die Fänge geriete, denn sie würden ihn mit Sicherheit nachkonstruieren und eine ganze Armee von seiner Art und Gattung erschaffen. Ohne Zweifel wäre diese Streitmacht aus jenen Androiden ein Heer der Vernichtung, ja ein Heer der Verdammnis. Und das Land, welches dieses Heer besäße, würde sich den Rest der Menschheit untertan machen. Nun, nichts desto Trotz, fiel es Lyr dennoch etwas schwer, an die Tür von Normans Quartier anzuklopfen. Denn, so glaubte er, nicht ganz unschuldig an der Misere, die sich vor des Heiligen Xarmax großen gräulichen und nichtssagenden Tür zutrug. Doch es half nichts, da musste Lyr durch, was er auch gleich in die Tat umsetzte. Zaghaft, und dennoch hörbar, klopfte Lyr an Normans Tür, wo sogleich 'Herein' zur Antwort nach außen hallte. Ganz langsam öffnete Lyr die Tür und blieb vorerst zwischen Tür und Angel stehen.

»Darf ich hereinkommen? Ich habe euch eine Neuigkeit zu berichten?«, fragte Lyr etwas kleinlaut.

»Aber sicher doch, Lyr, komm doch rein und setz dich in die Runde.«, forderte Norman ihn auf.

Doch irgendwie zögerte Lyr ein wenig, was der Runde natürlich sofort auffiel.

»Was ist mit dir, Lyr? Hast wohl heute Morgen zu wenig Energie getankt?«, gab Gregor belustigt von sich.

»Sei still, Gregor, und lass ihn in Ruhe. Du Siehst doch, dass ihn etwas bedrückt.«, rügte Sarah den lästernden Gregor, der nun etwas beschämt auf den Fußboden guckte.

»Ich komme nicht nur meinetwegen, sondern im eigentlichen Sinne von unserem Heiligen Xarmax.«, äußerte Lyr respektvoll.

»Nun gut, wir hören?«, sprach Katja im Namen aller.

»In den Verhandlungen mit meinem Schöpfer, dem Heiligen Xarmax, kam folgendes Ergebnis zu Tage. Der Heilige Xarmax bedauert sehr, euch in euren geistigen Freiheiten eingeschränkt zu haben. Sein Herz ist sehr betrübt, diesen Zwiespalt und Zweifel an seiner Ehrlichkeit euch gegenüber verursacht zu haben. Er bittet euch daher um Verzeihung und erbittet eine neue Audienz, die ihr aber selbst zu einem gewissen Zeitpunkt eurer Wahl, erteilen dürft. Die Antwort soll noch heute seine Heiligkeit erreichen. Denn seine Zeit ist sehr begrenzt, wie ihr natürlich verstehen werdet.«

Natürlich hat Lyr ein bisschen übertrieben und die Erklärungen seitens Xarmax in eine Art Bitten verwandelt. Dennoch, was Lyr vielmehr damit erreichen wollte, war Harmonie und Freundschaft zwischen beiden Parteien, also zwischen den Dogon und deren Führer, seiner Heiligkeit dem Heiligen Xarmax, darzureichen und zu vollenden. Dazu fühlte sich nun einmal Lyr berufen. Während Lyr noch immer neben der Runde stand und auf eine Antwort wartete, beriet sich die Runde im Eilverfahren.

»Lyr, sage deinem Schöpfer, dass wir einverstanden sind, wenn der Heilige Xarmax auch in Zukunft uns unsere geistigen und seelischen Freiheiten lässt. Uns ist nicht daran gelegen, Zwietracht zwischen beiden Parteien zu stiften oder gar zu ernten. Wir werden auch weiterhin daran festhalten, dem Volke der Dogon zur Seite zu stehen und alles in unserer menschlichen Macht stehende daranzusetzen, euer Volk von dieser so schrecklichen Krankheit zu heilen. Ich hoffe, nein, wir hoffen, dass das ehrbare und liebevolle Volk der Dogon baldmöglichst wieder ohne Angst in die Zukunft blicken kann. Richte jene Worte seiner Heiligkeit in unseren Namen aus. Dafür Bedanken wir uns bei dir im voraus, Freund Lyr, unser Androide.«, sprach Norman in aller Namen und Einvernehmen.

Als Lyr diese Worte hörte, war er so sehr gerührt, dass es in seiner Gefühlsmatrix förmlich zu brodeln begann. Er brachte in diesem Augenblick der herzlichen Worte eines seiner Schützlinge kein einziges Wort heraus und begann mit seinen azurblauen Augen zu rollen.

»Ach ja, Lyr, wolltest du uns denn nicht noch etwas sagen?«, fragte Stephan nun Lyr.

»Es ist nicht so wichtig.«, antwortete dieser.

»Lyr, deine Sorgen sind uns genauso wichtig, wie für dich die unseren. Also, was ist jetzt, wirst du uns jetzt berichten oder nicht?«, fragte Mary.

»Na ja, Sorgen sind es nicht. Ich bin zum Kommandanten eines Mutterschiffes befördert worden.«, gab Lyr voller Stolz seinen Schützlingen preis.

»Lyr, das ist ja wundervoll. Ich finde, das hast du dir auch redlich verdient.«, gab Mary Lyr zu verstehen.

»Ja, das wurde auch mal Zeit. Keiner leistet so viel Arbeit, und das in allen Bereichen, wie du, Lyr. Ich gratuliere dir, nein wir gratulieren dir alle.«

Dann gingen allesamt auf Lyr zu und reichten ihm mit Freude die Hände.

»Sag mal, Lyr, ist es ein neues Mutterschiff, das dir zugewiesen wird?«, wollte nun Norman wissen.

Lyr spürte förmlich, dass diese Frage nicht von ungefähr von Norman kam, er sah es an allen Augen seiner Schützlinge, dass sie eine gewisse Angst hatte,n ihn durch eine neue Aufgabe auf einem anderen fremden Schiff zu verlieren.

»Ich muss sagen, dass ihr eine gerissene Bande seid, aber durchaus meine Lieblingsrasse, seit ich euch kenne. Es macht mich stolz, euch dienen zu dürfen. Dennoch braucht ihr keine Angst zu haben, es ist das gleiche Mutterschiff, in dem wir die letzten Jahre zusammen verbrachten. So heißt nun mal dieses Mutterschiff eben Surenech, was soviel wie 'Suchende Kraft' in eurer menschlichen Sprache bedeutet.«, gab Lyr bei dieser Erklärung mal wieder sein Bestes von sich. Es war schön, zu sehen, und vor allem zu hören, dass Lyr mal wieder ganz der alte war, und was ganz wichtig für alle war, dass sich Lyr wie immer in seinem Element befand.

Nachdem beide Parteien zufrieden waren, verabschiedete sich Lyr und ging schweigend von Dannen, sozusagen seines Weges.

» Mann, Lyr war ganz schön mit den Nerven fertig, nicht wahr, oder hat es von euch keiner bemerkt?«, wollte nun Peter wissen.

»Aber sicher war er das, ihr wisst doch, wie empfindlich er doch ist, wenn es um uns geht. Ihr dürft nicht vergessen, dass er nur für uns zuständig ist, dass es um seinen Existenzinhalt geht, uns von allen Gefahren und allem erdenklichen Bösen fernzuhalten. Er lebt eigentlich nur für uns acht kleine Menschlein. Und wenn ich ehrlich sein soll, tut er mir irgendwie leid. Er hat es halt doch nicht so leicht mit uns.«, sagte Susanne, die sich eigentlich aus fast allen Diskussionen heraushielt. Da alles besprochen wurde, was besprochen werden musste, gingen alle wieder in ihre Quartiere, um auf das anstehende Mittagsessen zu warten, denn bis dahin war es ja nur noch ungefähr eine Stunde. Lyr hingegen übermittelte die Entscheidung seiner Schützlinge zu seinem Schöpfer per Signalübermittlung. Natürlich nicht wortgetreu, er hat ein kleines bisschen geflunkert, aber nicht im bösen Sinne, sondern nur, um die Spannungen zwischen den Parteien mal wieder zu entschärfen. Dann ging Lyr in sein Quartier, er hatte ja noch Zeit, bis er seine Schützlinge zum Mittagsmahl abholen musste. Lyr wollte sich nun den besten Chip aller Zeiten, den die Dogon je konstruiert hatten und den er von seinem Schöpfer, dem Heiligen Xarmax für besondere Verdienste erhalten hatte, in sich einbauen. Dieser Chip sollte Lyr vervollkommnen, ja, ihn goderijanischer machen. Dieser Chip war sozusagen das I-Tüpfelchen in seinen Wesenszügen. Lyr hielt den Chip noch immer fest umklammert in seiner rechten Hand. Dann öffnete er seine Hand und sah ihn sich sehr intensiv an. Und so etwas Kleines soll in der Lage sein, mein gesamtes künstliches Leben entscheidend zu verändern? Ungewöhnlich, in der Tat, sehr ungewöhnlich. 'Nun denn, wenn es denn sein muss', dachte sich Lyr noch insgeheim. Dennoch legte er den neuen Chip vorerst auf seine Tischeinheit. Anschließend setzte er sich auf den dazu gehörenden Stuhl und starrte auf den Chip. Er starrte und starrte und starrte auf eben diesen Chip. Eine ganze Weile verging, ehe er ihn wieder an sich nahm. In Lyr begann seine Gefühlsmatrix das Gefühl der Angst und Unsicherheit freizusetzen. Ob es nicht doch die falsche Entscheidung ist, ihn in sich einzubauen? Dachte sich noch Lyr. Zudem befürchtete er, sich durch diesen Chip zu verändern, sich so zu verändern, dass er sich vielleicht am Ende selbst nicht mehr erkannte. Und dass er in diesem Augenblick nicht mehr Herr seiner selbst ist. Jedoch, was ihm am meisten Angst bereitete, war: Wird er die gleichen Gefühle der Freundschaft, die er sich mühsam in Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aufgebaut hatte, noch immer für seine Schützlinge empfinden können? Lyr wägte schon ein paarmal, diesen Chip einfach zu vernichten und seiner jetzigen Konstruktion freien Lauf zu lassen, sie einfach zu akzeptieren? Doch Lyr wäre nicht Lyr, wenn da nicht seine grenzenlose Neugier auf alles Neue in ihm steckte. So kam, was kommen musste: Ganz vorsichtig, also mit größter Vorsicht nahm er den Chip mit seiner linken Hand von seinem Tisch und mit seiner rechten Hand hob er sein kuttenähnliches Gewand hoch, hielt es mit seinem Kinn fest, so dass sein Oberkörper frei war. Dann drückte er unterhalb seines Brustkorbes, ungefähr in der Mitte des Solarplexus einen unter seiner künstlichen Haut befindlichen Schalter von dem nur er und seine Konstrukteure wussten, leicht ein, worauf sich ein Quadrat, in etwa einem streichholzschachtelgroßen Stück vergleichbar, von seiner Haut auftat und sein Inneres, sein Speichermedium, seine Synapsen, seine Gefühlsmatrixeinheit und, und, und, zum Vorschein kamen. Anschließend schaltete sich Lyr in einen Zustand, in dem nur noch die wichtigsten seiner Lebensfunktionen in Energie standen. Als nächstes entfernte er seinen sozusagen, alten Chip, der ja nunmehr ausgedient hatte, aus seiner Schalt- und Verbindungseinheit, seiner inneren Hauptzentrale. Im nächsten Moment setzte er mit seiner linken Hand, mit der er den Chip noch immer festhielt, diesen in seine Schalt- und Verbindungseinheit, die sich in seiner inneren Hauptzentrale befand, ganz, ja fast unnatürlich und übertrieben vorsichtig ein. Danach, als es vollbracht war, versetzte er sich in seine ursprüngliche Energie, so dass er wieder voll funktionstüchtig war. Es folgte ein spannungsgeladenes Warten. Es brauchte natürlich einige Momente, bis seine Steuerungseinheit mit dem neuartigen Chip kompatibel wurde. Dann kam der Augenblick, vor dem Lyr sich etwas fürchtete. Doch im Gegenteil, Lyrs Ängste, nach dem Einsatz des neuen Chip sich verändert zu haben, waren völlig unbegründet.

Denn was nun Lyr in diesem Augenblick empfand und erleben durfte war schier unbegreiflich:

Er konnte mit seinen künstlichen Augen bisher nur das sehen, was sein Weitstrahlscanner ertastete, es für ihn umwandelte und als bewegliches, ja fast gezeichnetes Bild wiedergab. Doch was Lyr nun sah, ließ fast seine Schaltkreise durchschmoren. Er war, wie die Menschen sagen würden, schlicht und einfach weg. Er konnte plötzlich alles in seiner Echtheit sehen, nichts mehr umgewandeltes in Dimensionen, die nur Strukturen wiedergaben, um sich darauf zuzubewegen, und sich somit auf seine Ziele zu orientieren. Nein, diesmal war es so echt, dass er durchaus mit seinen Kameraden den Dogon und sogar mit seinen Schützlingen den Menschen konkurrieren konnte. Es war unglaublich, richtige Farben sehen zu dürfen. Lyr ging daraufhin zu seinem Fenster. Dort befand sich unter seinen zehn Stockwerken ein wunderschöner Park mit einzigartigen grünflächigen Wiesen, Pflanzen, Sträuchern und Blumen mit prächtig leuchtenden Farben aller Art. Lyr war dem Weinen nahe, obwohl er keine Tränendrüsen besaß, stimmte es ihn doch in eine gewisse Art Freudentrance, die kein Ende nehmen wollte. Es bedeutete für Lyr, ein neues künstliches Leben zu leben, ja, zu leben wie er es sich doch so oft in seiner künstlichen Gefühlsmatrix insgeheim wünschte. Man kann es immer wieder wiederholen, dass sich Lyr in voller Glückseligkeit befand, doch halt, was verspürte er nun? Ist es Wirklichkeit? Oder täuschen mich etwa meine Matrixen, dachte sich Lyr. Geschwind, ja fast mit einem gekonnten Satz, stürzte Lyr nochmals zum Fenster und öffnete es. Im Nu und wie von selbst begann Lyr zu atmen und sein Brustkorb begann sich gleichmäßig, aber nur ein bisschen, erst nach innen und dann nach außen hin zu wölben. Dabei empfing er einen der fünf Sinne, die auch seine Kameraden, die Dogon (Goderijaner,) seit jener Geburt hatten. Nämlich den Geruchssinn. Lyr beugte sich nun ganz weit aus dem Fenster, um jene Düfte, die sich außen von überall her verbreiteten, zu riechen. Er wollte kein einziges Duftmolekül verpassen. Lyr war schlichtweg begeistert und von Sinnlichkeit durchdrungen. Alles veränderte sich um ihn und in ihm. Sein Tastsinn war enorm, um ein Hundertfaches gestiegen. Auch seine Bewegungen in seiner Gesamtheit wurden flüssiger und nicht mehr so steif und ruckartig wirkend. Es kam ihm so vor, als könne er nun fast wie alle, die aus Fleisch und Blut bestanden, gehen, sich drehen, in ungeahnter Dimension sich leiten lassend, von feinfühlig geschmeidiger Beweglichkeit. Es war zwar noch etwas gewöhnungsbedürftig, doch nach einigen Minuten ging es schon fast wie von selbst, als hätte er sich niemals anders bewegt oder gar verhalten. Als sei er gar kein Androide, als sei er genau wie all die anderen hier auf Goderijan. Ja, was für ein Bad der Gefühle, die ihn buchstäblich überfielen, es waren Gefühle, die er niemals mehr missen möchte. Aber Lyr war ein nüchterner und verantwortungsbewusster Androide. Und er wusste auch, dass es noch einige Zeit bräuchte, bis er mit seinen neuen Fähigkeiten richtig und im Sinne seiner gestellten Aufgaben umzugehen, also, sie richtig und nutzvoll einzusetzen, ja sie bis zur absoluten Perfektion auszuschöpfen vermochte und das zum Wohle aller. Negative Gedanken machte er sich trotzdem. Wie werden meine Schützlinge denn auf meine Wandlung, Veränderung, reagieren? Werden sie mich verspotten, mich nicht mehr akzeptieren oder gar verstoßen? dachte sich Lyr. Er beseitigte das Problem auf ganz einfache Weise: Er würde es seinen Schützlingen gar nicht erst erzählen, dass er sich den neuen Chip schon längst eingebaut hatte. So konnte er wenigstens feststellen, ob seine Veränderung auch auffiel, und was für Auswirkungen sie mit sich bringen würde. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sich noch Lyr, während er seine innere Uhr kontaktierte, um das Treffen mit seinen Schützlingen am Lift nicht zu verpassen, denn auch in der Residenz seiner Heiligkeit, wurde natürlich stets zu den Mahlzeiten geschlossen gegangen. Die Zeit verging für Lyr nach seinen durch den Chip verursachten völlig neuen Erfahrungen und Emotionen sprichwörtlich wie im Fluge. Oh... noch fünf Minuten, es wird höchste Zeit, dachte sich Lyr. So zog er sich rasch das genau dafür passende Gewand über, das mit herrlich anzuschauenden vielen, vielen Mustern verziert war, die Lyr sozusagen natürlich, jetzt in einem anderen Licht, sah. Ein kleines Schmunzeln fiel über Lyrs Gesicht und er ging aus seinem Quartier in Richtung Lift, der sich ganz in seiner Nähe befand, und wo, wie sollte es auch anders sein, schon alle versammelt waren und auf ihn warteten.





 Kapitel 18, Flucht vom Planeten Goderijan

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