Kapitel 17
Ankunft auf Goderijan, Teil 2
Die beiden konnten nur erahnen,
doch absolut sicher zu sein, wäre ohne jeglichen Beweis ein
Ding der Unmöglichkeit. Ihnen wurde zwar von Lyr erzählt,
dass in ferner Vergangenheit einige freiwillige Dogon (Goderijaner)
auf der Erde sozusagen ausgesetzt wurden, um zu sehen, wie sich
diese auf der Erde zurechtfinden würden, doch wurde ihnen
auch eine Art Sicherheit mit auf die Erde gegeben. Diese Sicherheit
stellte nämlich diesen Schlüssel dar. Eine Sicherheit, die
es nur auf dem Planeten Erde gab. Es handelt sich nämlich um
eine Art Virus, der nur bei bestimmten Menschen und dies von
Milliarden von Menschen nur bei einem oder höchstens zweien, so wie bei
Norman und Katja, vorkam, es ist eine Art Gen-Virus, der beim
damaligen ersten Besuch endlich bei den Homo sapiens sapiens
entdeckt wurde. Die Dogon suchten schon seit Generationen nach
diesem für sie als Wunder geltenden Gen-Virus. Viele Expeditionen
wurden auf der Suche nach diesem Gen-Virus unternommen, und viele
unzählige Planeten besucht, doch vergeblich, bis eine
der so vielen ausgesandten Expeditionen auf den Planeten Erde stieß.
Doch dieses so seltene Gen-Virus, erwies sich als noch viel zu
unvollkommen, sozusagen noch zu jung und in einem zu frühen
Stadium seiner Entwicklung. Den Dogon war klar, dass dieses Virus
noch eine lange Zeit bräuchte, um sich zur Vollkommenheit und
zum Nutzen der Dogon sinnvoll und gebräuchlich einzusetzen, zu entwickeln,
um der heimtückischen Krankheit endlich den Garaus zu machen,
oder sie wenigstens zu isolieren und unter Kontrolle zu bringen. Vieles
verschwieg das Volk der Dogon Norman und Katja. Diese Krankheit,
die sie die Unendliche Traurigkeit nennen, was auch stimmt, stammte
nicht, wie sie behaupteten, von der Erde, sondern von einem anderen
Planeten mit dem Namen Menessem, von dem einst eine
Expedition diese Krankheit auf ihren eigenen Planeten Goderijan
eingeschleppt hatte.
Wie schon gesagt, als endlich dieses Virus bei
einem Homo sapiens sapiens entdeckt wurde, versuchte man zuerst, es
aus diesem Menschen zu entfernen um es dann zu züchten,
doch alle verzweifelten Versuche schlugen fehl. Den Dogon wurde
schlagartig klar, dass es nur in den jeweiligen Homo sapiens
heranreifen konnte.
Was Norman und Katja gemeinsam hatten, war
erstens, sie trugen das gleiche Gen-Virus in sich, da sie ja
Geschwister waren. Zweitens waren diese damaligen Vorzeitmenschen
ihre verwandtschaftlichen und direkten Ahnen. Die
Dogon wussten, dass dieses Gen-Virus von Generation zu Generation
weitergegeben, also weitervererbt wurde, sie mussten nur
dafür Sorge tragen, dass dieser Verwandtschaftsgrad nicht
ausstirbt. Zeitlebens wurde diese eine Gruppe von Frühzeitmenschen überwacht und beschützt,
ohne dass sie etwas bemerkten, so
dass von Generation zu Generation der Gen-Virus seine endgültige
Reifung zu seinem heutigen Stadium entwickeln konnte.
Und wer trug diesen fertig gereiften Gen-Virus
in sich, natürlich Norman und Katja, deswegen auch die
Entführung von den beiden. Sie waren die letzen der
Ahnenreihe, die überwacht wurden. Norman und Katja sind die
letzte Hoffnung, zwar auf lange Sicht, dennoch die letzte Hoffnung
eines aussterbenden Volkes, das seit unendlicher, nicht enden
wollender Zeit, verzweifelt ums Überleben kämpft.
Die restliche Stunde Flugzeit verging
weiterhin problemlos und wörtlich gesprochen wie im Fluge. Im
Nu setzte der Überlandgleiter sanft, ja fast galant wie ein
Schmetterling auf einer Rampe auf, die sich
offensichtlich auf dem Dach eines hohen Gebäudes befand.
»Aha... wir haben aufgesetzt, jetzt
können wir endlich raus aus diesem Blecheimer.«, nörgelte
Gregor mal wieder unzufrieden herum.
»Nicht ganz, mein Lieber, es wird noch in
etwa fünf Minuten dauern, bis wir unten in der Halle ankommen
werden.«, erklärte Lyr verständnisvoll.
»Wie meinst du das, nach unten? Wollte
nun Susanne wissen.
Ehe sich alle versahen und Lyr gerade Susannes
Frage beantworten wollte, setzte sich die gesamte Rampe mitsamt
Überlandgleiter und Insassen in Bewegung. Dann begann der
Überlandgleiter, sich in die Tiefe inmitten des Gebäudes zu
versenken.
»Wau... Ihr habt vielleicht eine
Technik, unglaublich, wenn ich das zuhause jemandem erzählen
würde, die würden mich glatt in die Klapsmühle
einsperren und danach für immer den Schlüssel wegwerfen,
das könnt ihr mir ruhig glauben.«, sagte Stephan vor
Begeisterung wegen der hier vorhandenen Errungenschaften.
»Ja, beeindruckend, nicht wahr. Im
Übrigen würdet ihr solche riesigen Hallen Hangars nennen,
stimmt es? Ich habe vieles über euch Menschen gelesen. Also, in
dieser Halle, in der wir gleich unten ankommen werden, passen genau
vierzig Überlandgleiter hinein.«, verkündete Lyr voller Stolz.
»Das ist wirklich beachtlich, Lyr.«,
gab Norman ihm Recht.
»Kommen wir doch jetzt zum eigentlichen
Vorhaben. Meine Lieben, sobald wir den Gleiter verlassen haben,
gehen wir durch die Halle ins Freie. Dort steigen wir sofort in das
rote Fahrzeug, das am Ausgang auf uns wartet.
Eine Fahrt von fünfzehn Minuten dürfte
uns jetzt auch nichts mehr ausmachen, so glaube ich. Ich weiß, dass
ihr erschöpft seid. Darum werdet ihr gleich nach Ankunft im
Tempel des Heiligen Xarmax in eure neu eingerichteten Quartiere
eingewiesen. Eine Stunde später hole ich euch dann zum
Mittagsessen ab. Danach könnt ihr, wenn ihr möchtet,
schlafen gehen. Ich vermute, dass dafür keiner von euch einen
Einwand erhebt. Ihr seht wirklich sehr müde aus. Morgen in aller
Frühe um 6 Uhr 30 ist Weckzeit. Dann eine halbe Stunde
Frühstück, wohin wir wie auch auf dem Mutterschiff, natürlich
wenn ihr nichts dagegen habt, wieder geschlossen gehen. Und was am
wichtigsten ist, wir haben morgen um halb acht eine Audienz bei
unserem Heiligen Xarmax. Er freut sich schon, wie er
mir mitteilte, endlich eure Bekanntschaft zu machen. Er ist sehr
neugierig auf euch.«
Dann war es so weit, die Rampe dockte mit einem kleinen Ruck am
Boden des Hangars an. Die Türen öffneten sich seitlich
automatisch. Lyr war der erste, der aus dem Gleiter schritt, sich
sogleich umdrehte und die Führung übernahm.
»Meine Lieben, so folgt mir denn.«,
gab Lyr seinen Schützlingen Order.
Im Nu folgte die gesamte Gruppe fast wie im
Gänsemarsch wirkend ihrem Androiden. Die Halle, also der Hangar,
war von so immenser Größe, dass es Minuten dauerte,
endlich ins Freie zu gelangen, wo bereits dieses besagte rote
Fahrzeug auf sie wartete. Im Übrigen nannten die Dogon diese
Art von Fahrzeugen lustigerweise Gunnis.
Die Gruppe, erreichte endlich das Freie, ging
zu dem besagten Fahrzeug und stieg sogleich ein, dann ging die
Fahrt zur Residenz seiner Heiligkeit, dem Heiligen Xarmax.
»Was guckst du so nachdenklich, Norman?«,
fragte Katja ihren Bruder, der irgendwie apathisch, ja vollkommen
geistesabwesend wirkte, so dass Katja ihn am Ärmel zupfen
musste, um ihn aus seinen Tagträumen zu holen.
»He, Norman, hörst du überhaupt
zu?«, drängte Katja nun leicht wütend in ihn ein.
»Was, was ist denn geschehen?«,
fragte Norman leicht verworren.
»Es wird gleich was passieren, wenn du
nicht wieder normal wirst.«, gab Katja ihrem Bruder zu
verstehen.
»Oh... Verzeih, Katja, ich war gerade
mal wieder in Gedanken versunken.«, gab Norman zu verstehen.
»Tja, Norman, das war nicht zu
übersehen.«, konterte Katja aufs raffinierteste.
»Katja, bevor wir einstiegen, ist dir
denn an diesem Fahrzeug nichts aufgefallen?«, fragte Norman
seine Schwester.
»Mal überlegen, nein mir ist nichts
an diesem Fahrzeug aufgefallen.«
»Sag mal, Norman, hat dich jetzt wohl
Gregor mit seinen Verdächtigungen und ständigen
Nörglereien auch schon angesteckt?«, wunderte sich nun
Katja über ihren Bruder.
»Ach woher denn, nicht im Entferntesten.
Nein, ich glaubte zu sehen, dass dieses Auto keine Räder hat.
Ich wollte es halt nur bestätigt wissen. Ich hasse es, wenn
sich irgendwo ein Rätsel auftut und ich mir des Rätsels Lösung nicht sicher bin.«, erklärte, Norman seiner
Schwester.
Bevor Katja ihrem Bruder Antwort geben konnte, meldete sich auch
schon Lyr zwischen den Fronten.
Ȁh... Entschuldigt bitte, ich
wollte euch beide nicht belauschen, aber mein elektronisches Gehör,
na ja, ist eben sehr sensibel. Norman, mit deiner Aussage hast du
vollkommen Recht. Dieses Fahrzeug hat keinerlei Räder. Es ist
in unserer Fachsprache ein Gunni. Und ein Gunni ist ein
Schwebefahrzeug, das ungefähr 20 bis 30 Zentimeter über
dem Erdboden schwebend dahingleitet. Und das je nachdem, wo man
hinschweben möchte und es erreicht eine Höchstgeschwindigkeit
von mehr als dreihundert Stundenkilometern. Mehr ist, so glaube
ich, über dieses schwebende Fahrzeug nicht zu berichten. Ich
hoffe doch inständig, dass ich euch damit helfen konnte.«
Ja, da war Lyr mal wieder in seinem Element,
sozusagen in seiner Lieblingsbeschäftigung.
Ȁh...
gewiss, gewiss doch, Lyr, besten Dank auch noch.«, belobigte
Norman den Androiden. Während der Fahrt konnte man die
Residenz, also das prunkvolle, tempelartige Bollwerk sehen. Eine
Meisterleistung der Architektur. Noch nie in ihrem bisherigen Leben
hatte die Gruppe so ein schönes Bauwerk gesehen. Es war mit
nichts zu vergleichen. Selbst auf der Erde, wo es Spitzenarchitekten
gab, die zeitlebens hervorragendes leisteten oder noch leisten
werden, brächten solch ein Wunderwerk, so dachten die meisten
der Gruppe, niemals fertig. Es erweckte bei dieser tempelartigen
Residenz den Anschein, als seien seine Kuppeln aus gelblich
schimmerndem Bernstein. Es sah so aus, als wurden diese
Kuppelartigen Dächer aus einem ganzen Stück gefertigt.
Dennoch, aus dieser Entfernung konnte man sich
natürlich irren. Zudem kommt noch erschwerend hinzu, falls
diese kuppelartigen Dachbauten wirklich aus reinem und poliertem
Bernstein beständen, wäre dies eine in der Natur
bestehende Sensation. Denn Bernstein in einer solchen Größe
durfte es eigentlich nicht geben. Zumindest auf der Erde nicht.
Jeder wusste doch, dass Bernstein aus Millionen von Jahre altem
Baumharz bestand, der in dieser uralten Zeit langsam
versteinerte.
»Schau mal, Norman, diese Kuppeldächer,
sind sie nicht wunder, wunder, wunderschön?«, wies Katja
voller Entzücken Norman darauf hin.
»Ja, Katja, unbegreiflich schön.«,
antwortete Norman besinnlich.
Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie
endlich an der Residenz ankommen mussten, doch Katja brannte vor Neugier, sie wollte es
genauer wissen, ob diese kunstvoll erschaffenen Kuppeldächer
wirklich aus Bernstein bestanden und vor allem, ob sie aus einem
ganzem Stück gefertigt wurden. Deshalb rief sie geschwind nach
Lyr, um noch vor der Ankunft in der Residenz diese Information zu
erhalten.
Ruck-zuck stand Lyr schon neben Katja.
»Du hast mich gerufen, meine Liebe?«,
fragte Lyr freudig.
Äh... Ja, Lyr, ich wollte nur mal wissen,
ob diese leuchtend gelben kuppelartigen Dächer vielleicht aus
Bernstein bestehen könnten? Und ob sie aus einem einzigen und
ganzen Stück gefertigt wurden.«
Katja wartete gespannt auf eine Antwort von Lyr.
»Aha. Wie ich sehe, interessiert sich
unsere liebe Katja für Architektur? Nun gut, ich werde es kurz
machen, da wir ja jeden Augenblick an der Residenz unseres Heiligen
Xarmax vorfahren werden. Dennoch eine recht interessante Frage, die
du mir da stellst. Zu deiner ersten Frage: Nein, es ist nicht
Bernstein, es ist im Aussehen sehr verwandt mit diesem Urharz. Was
ihr da seht, das ist reiner Kristall, genauso, wie es auch bei euch
auf der Erde, natürlich nur in manchen Regionen sehr zahlreich
vorkommt. Diesen braungelblich schimmernden Farbton, den ihr seht,
haben unsere Chemiker durch ein besonderes Verfahren beeinflusst.
Aber wie das gemacht wird, würde jetzt zu lange Zeit in
Anspruch nehmen. Und zum Zweiten: Ja es besteht aus einem ganzen
Stück. Hierbei haben unsere Wissenschaftler etwas, sozusagen
nachgeholfen. Hier wurden in einem besonderen Verfahren
abertausende kleinere Kristallstücke geschmolzen
und eben durch dieses Verfahren wieder je
nach Wunsch in eine neue Form gebracht. So, wir sind
angekommen. Genügten dir die Antworten, Katja?« Natürlich
wollte Lyr sein Lob von Katja entgegennehmen, bevor alle
ausstiegen.
»Mann, Lyr, was du alles weißt, ist schon
beachtlich. Danke vielmals, Lyr, es war sehr lehrreich für
mich.«
Katja musste innerlich schmunzeln. Sie wusste
ganz genau, dass Lyr ab und an ein bisschen Selbstbestätigung
brauchte.
»Man, wie man nur so scharf auf
Belobigungen sein kann, wie dieser Androide.«, sagte Katja zu
Norman.
»Du sagst es, Katja, du sagst es.«, erwiderte Norman.
»So, meine Lieben, wir gehen vor wie
geplant, ja? Alles folgt mir.«
Dann stieg einer nach dem anderen aus dem
Schwebefahrzeug. Wieder einmal folgte die gesamte Gruppe Lyr im
Gänsemarsch. Sie mussten hintereinander hergehen, weil es
wieder einmal ein Pfad war, der unheimlich schmal verlief, so dass
immer nur eine Person auf ihm gehen konnte. Zudem kam noch hinzu,
dass links und rechts des Pfades ein Wassergraben verlief, der sich
direkt bis hin zur Residenz und vermutlich um das ganze Anwesen
herum zog, um sich am Haustor wieder zu vereinigen.
»Mann, können die nicht breitere
Wege bauen? Komme mir wie beim Militär vor, dort mussten wir
auch immer hintereinander herlaufen wie Zinnsoldaten.«,
meckerte Gregor herum. Immer näher kamen sie auf das große,
mächtige Eingangstor zu. Und je weiter sie sich dem Eingang
näherten, um so leiser und schweigsamer wurden Lyrs
Schützlinge. Da standen alle, unmittelbar vor den Stufen, die
direkt in das prunkvolle Gebäude führten. Plötzlich
blieb die gesamte Gruppe unmittelbar vor den Stufen stehen. So viel
Respekt hatten sie vor des Heiligen Xarmax' Zuhause. Lyr mischte
sich dieses eine Mal nicht ein. Denn er konnte sie gut verstehen.
Diese eine Entscheidung überließ er seinen Schützlingen.
Während die Gruppe so dastand und wie hypnotisiert auf das
Tor starrte, starrte Katja als einzige auf die Stufen. »Wie schön
sie doch glitzern und funkeln, wenn die Strahlen der Sonne sich
darauf brechen. Wie tausend winzigkleine Diamanten.«, dachte
sich Katja insgeheim.
»Also, Leute, was ist nun, wollen wir
hineingehen oder wollen wir hier Wurzeln schlagen. Eines sage ich
euch: Ich habe allmählich die Schnauze gestrichen voll. Ich bin
müde, ich habe Hunger und ihr geht mir so langsam tierisch auf
die Nerven.«, beschwerte sich, Gregor.
Doch diesmal beachtete kein einziger Gregor,
was ihn sehr nervös machte.
»He, seid ihr gesund, ich meine, euch
fehlt doch etwa nichts. Seit wann regt ihr euch über mich
nicht mehr auf?«
Ja, diese Missachtung seiner Person traf Gregor wie eine Bombe in
sein egoistisches Zentrum.
»Na dann, lasst uns hineingehen, ich
brauche jetzt unbedingt eine eiskalte Dusche.«, erklärte
Mary dem Rest der Gruppe. Mary war folglich die erste, die die
Stufen emporstieg. Und wie es nicht anders sein soll, folgten die
anderen Mary schön brav hinterher.
Lyr hingegen musste sich nun sputen, um noch die Führung
übernehmen zu können. In Windeseile sauste er an seinen
Schützlingen vorbei und stellte sich an die Spitze der Gruppe.
»So, meine Lieben, immer schön alles
mit der Ruhe. Ihr wisst doch gar nicht, wo sich eure Quartiere
befinden. Überlasst die Führung lieber mir, okay?«,
ein vernünftiger Vorschlag seitens Lyr.
»Natürlich, gerne, Lyr.«,
entgegneten einige ihm.
So, dort vorne neben der grauen Säule
seht ihr schon den Lift. Mit diesem Lift fahren wir erst einmal in
die sechste Etage, wo sich auch schon eure neuen Quartiere befinden.
Über die Aufteilung der jeweiligen Quartiere müsst ihr
euch schon selbst einigen.«
So gingen allesamt in den Lift und fuhren in
den sechsten Stock. Dort angekommen standen sie da, als wären
sie bestellt, aber nicht abgeholt worden. Was Lyr
belustigend fand, aber natürlich sich nicht anmerken ließ.
»So, meine Lieben, hier zu meiner Rechten
befinden sich eure Quartiere. Und hier zu meiner Linken, also in dem
Raum mit der gelben Tür, befindet sich euer Gepäck, das
ihr euch gleich holen könnt. Ruht euch zunächst aus. Ihr
habt jetzt noch ein paar Stunden bis zum Abendmahl. Ich würde
vorschlagen, dass wir uns so gegen 18 Uhr 30 hier vor dem Lift wieder
treffen. Wir gehen dann wieder geschlossen in die Kantine,
einverstanden?«, vergewisserte sich Lyr bei seinen
Schützlingen, die natürlich mit einem bejahenden
Kopfnicken zustimmten.
»Lyr, und wo gehst du jetzt hin?«,
fragte Sarah ein bisschen unsicher klingend.
»Ich habe gleich eine Audienz beim
Heiligen Xarmax. Ich muss nämlich Bericht erstatten. Ach, und
Sarah, du brauchst hier, keine Angst zu haben, ihr alle könnt
euch beruhigt sicher fühlen. Es ist der sicherste Ort auf dem
ganzen Planeten. Darauf gebe ich euch mein Wort. Nun denn, bis heute
Abend.«, und Lyr ging in den Lift und fuhr zwei Etagen höher,
wo der Heilige Xarmax thronte.
Da standen sie nun und beobachteten mit
gemischten Gefühlen, wie Lyr mit dem Lift nach oben verschwand.
Eine Weile blieben sie noch bewegungslos, starr und mit weit
aufgerissenen Augen stehen.
»Okay, lasst uns jetzt unser Gepäck
holen und dann in die Quartiere gehen. Denn wenn ich jetzt nicht
bald ne Dusche bekomme, werde ich von einem Tobsuchtsanfall
befallen.«
Alsdann gingen alle in den Raum mit der
gelben Türe und suchten ihre Gepäckstücke zusammen.
Im Nu hatte ein jeder das seine gefunden und anschließend in
der Mitte der Flures Stellung bezogen, um festzulegen, welcher
welches Quartier beziehen durfte. Und schon gab es eine kleine
mündliche Keilerei.
»Hört sofort auf, euch zu streiten.
Ich glaube es einfach nicht, sich wegen einer Unterkunft zu
streiten, ihr verhaltet euch manchmal wie kleine Kinder, denen man
ein Bonbon wegnehmen will. Haben wir denn nicht schon genug Sorgen?
So viele, viele Lichtjahre sind wir von unserer geliebten Heimat
Erde entfernt. Ja, getrennt von unseren Liebsten. Und ihr habt
nichts anderes im Sinn, als euch um solche Kleinigkeiten zu zanken.
Begreift endlich, dass wir das Beste aus unserer Situation machen
sollten. Da, seht euch Norman und Katja an. Kein Klagen ist von
ihnen zu hören, kein Streiten bricht aus ihnen heraus und immer
sind sie stets hilfsbereit, uns in jeder Lage beiseite zu
stehen. Dabei haben sie sehr bald einiges durchzustehen. Also, ich
teile jetzt die Quartiere ein, ob es euch passt oder nicht, und
sollte sich irgendwer von euch mir in den Weg stellen oder
meine Entscheidung anzweifeln, der soll mich, so wahr mir Gott helfe,
erst richtig kennenlernen.«
Alle guckten verdutzt Mary an. Von dieser
Seite her kannten sie Mary gar nicht. Nach dieser ernst gemeinten
Belehrung hatte Katja Tränen in den Augen. Daraufhin hatte
keiner gegen Mary irgendeinen Einwand zu erheben. Schön brav,
ja und fast in Reih und Glied, wartete jeder einzelne
im Flur auf die Einteilung.
Nachdem alle von Mary ein Quartier
zugewiesen bekamen, kehrte wieder Ruhe ein und ein jeder tat das,
wofür er sich in diesem Moment berufen fühlte. Viel taten
sie nicht, denn die meisten gönnten sich ein kleines
Nickerchen und jener der sich nicht allzu müde fühlte,
schrieb in sein Tagebuch oder las ein gutes Buch.
Und als es kurz vor 18 Uhr 30 war, trieb sie der
Hunger aus ihren Quartieren. Einige standen schon vor dem Lift und
andere kamen gerade den Flur herunter. Nur einer fehlte mal wieder,
wie immer, wie konnte es auch anders sein, es fehlte natürlich
mal wieder Gregor.
»Mann, dieser Gregor geht mir langsam aber
sicher auf die Nerven.«, sagte Norman zu den anderen, die ihm
natürlich voll zustimmten.
»Ja, er ist schon eine seltsame Natur.«,
flüsterte Sarah zu dem Rest der Gruppe.
Da standen nun alle vor dem Lift, wartend auf
Lyr den Androiden. Und während sie warteten, gesellte sich wie
wunderlich auch Gregor dazu.
»Mann oh Mann, wo denn nur Lyr bleibt?«,
seufzte Gregor ungeduldig vor sich her.
»Na, Gregor, so langsam müsstest du
dir doch merken können, dass Lyr die Pünktlichkeit in
Person ist, dass er immer genau auf die Sekunde zu unseren Treffen
erscheint. Außerdem sind es immerhin noch ganze drei Minuten,
bis es halb sieben sein wird.«, gab Susanne Gregor zu
verstehen. Die drei Minuten des Wartens waren schnell um. Und Lyr
kam wie immer auf die Sekunde genau.
»Na, meine Lieben, habt ihr euch
einigermaßen ausgeruht?«, erkundigte sich Lyr nach ihrem
Befinden. Was alle mit einem leichten Lächeln auf den Lippen
bejahten.
»Na dann lasst uns zum Abendmahl
schreiten, ihr müsst ja förmlich am Verhungern sein. Wir
müssen mit dem Lift nur eine Etage höher fahren und zwar
in die siebte Etage. Von da aus sind es nur noch wenige Meter bis
zur Kantine. Sie ist zwar nicht so groß wie die auf dem
Mutterschiff, aber trotzdem sehr gemütlich und mit gepolsterten
Stühlen und Tischplatten aus echtem Semose, oh verzeiht, ich
vergaß, dass ihr unserer Sprache nicht mächtig seid. Semose ist
ein marmorähnliches Gestein, das auf unserem Planeten sehr
selten vorkommt, ungefähr so selten wie bei euch auf der Erde
die Diamanten. Ach, und noch etwas, ihr werdet, so lange ihr hier im
Palast des Heiligen Xarmax verweilt, leider alleine dinieren
müssen.« Lyr wartete auf eine Reaktion, auf die er aber
nicht lange warten musste.
»Was? Wieso das denn, warum dürfen
wir auf einmal nicht mehr mit euresgleichen Essen. Ist das Volk
der Dogon wohl über Nacht etwas Besseres geworden, oder hat es
dich in den Adelsstand erhoben, so dass es untragbar wäre, mit
Unseresgleichen zu dinieren? So gebt Antwort, edler Lyr.«
Gregor konnte einfach nicht anders, als seinem Mundwerk freien Lauf zu
lassen. Trotz dieser Anschuldigung seitens Gregors, musste die
Gruppe lachen. Aber einiges, was er eben sagte, lockte den Rest der
Gruppe, schon etwas intensiver darüber nachzudenken.
»Aber nicht
doch, meine Lieben. Ich werde es euch erklären. Zum einen ist
dies die Kantine des Heiligen Xarmax, zum anderen darf ein
Goderijaner, der untergeordnet ist, niemals diesen gesamten Bereich
der siebten Etage betreten. Und da gehört ja wohl auch diese
Kantine dazu. Ausgenommen der Hohe Rat, der ja regelmäßig
mit dem Heiligen Xarmax zu dinieren pflegt. Auch wird die Kantine
des Öfteren für Regierungsverhandlungen, Entscheidungen,
Befehls-Erteilungen usw. genutzt.« Alles wird hier geregelt, um
ein so großes Volk leiten und führen zu können.
Ordnung muss eben sein. Es wird auf eurem Planeten genauso
gehandhabt, wenn ich mich mal eurer Sprache bedienen darf, wie bei
uns auch. Nur auf zwei unterschiedlichen Systemen. Erstens
entscheiden bei euch einige mächtige Parteien über das
gesamte Volk, wobei bei uns nur der Heilige Xarmax Entscheidungen
trifft, und zum Zweiten habt ihr ein ganz anderes System, als wir es
haben, doch nichts desto Trotz, es funktionieren alle beide, wie ihr
euch selbst überzeugen könnt, wann immer ihr mögt.«,
erklärte Lyr voller Eifer.
»Lyr, und warum dürfen wir die
Kantine benutzen?«, eine kluge Frage, die da Norman stellte.
»Weil ihr Gäste des Heiligen
Xarmax seid. Weil es sein ausdrücklicher Wunsch war.«,
ergänzte Lyr vorsichtig.
»Ach, und was des Heiligen Xarmax Wunsch
ist, ist auch Befehl, na, habe ich nicht Recht, Lyr?«, fragte
dieses Mal Susanne etwas verärgert.
»Wieder falsch, niemand wird euch zu
etwas zwingen, was ihr nicht möchtet. Das ist der Wunsch des
Heiligen Xarmax. Mit Ausnahme eurer Entführung, was aber
notwendig war, um unser Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Ihr könnt
dem Volk der Goderijaner ruhig glauben, stolz empfanden wir bei
dieser Notwendigkeit bis heute nicht, und es wird uns auch in der
Zukunft nichts an Stolz und Zufriedenheit zurückgeben können.
So lasst uns nicht länger Zeit vergeuden. Hat jemand von euch
noch Fragen zu diesem Thema? Nein? Na dann lasst uns mit dem Lift
hochfahren.«, bekräftigte Lyr sein Vorhaben.
»Mann, endlich, habe einen mords Hunger,
könnte jetzt glatt ein ganzes Kamel verdrücken.«,
wies Peter auf sein körperliches Verlangen hin. Dann stiegen
alle in den Lift und fuhren in die siebte Etage hoch. Dort
angekommen führte Lyr sofort seine Schützlinge in die
Kantine. Wiederum suchte sich die Gruppe einen Rundtisch aus, der
inmitten des Saales stand. Nachdem alle bestellt hatten, aßen
sie so heftig, als könnte man meinen, sie hätten seit Tagen
nichts mehr zu sich genommen. Lyr, der wieder mal abseits im
Türrahmen vom Aus- und Eingang der Kantine stand, und natürlich
alles mitbekam, schmunzelte aufs allerliebste.
Ach, diese Menschlein, welch wunderbare
Geschöpfe. Wenn sie doch nicht manchmal so schwierig wären
und vor allem nicht so selbstständig. Dann hätte ich es
des Öfteren ein kleines bisschen leichter mit ihnen.
»Du gütiger
Himmel, ich habe gefressen wie ein Schwein. Das ist doch nicht
normal, ich bin randvoll bis oben hin. Ich bekomme keinen Bissen mehr
hinunter.«, gab Gregor mit einem lauten Rülpser seinen
Kameraden zu verstehen. Die sich aber angeekelt in Schweigen
hüllten.
»So, ich bin auch fertig, also, ich muss
schon sagen, diese Fertiggerichte schmecken hervorragend, deliziös.«
Als sie Stephan dies sagen hörten, brachen allesamt in einen
Lachkrampf aus. Stephan scherzte selten, aber wenn er mal loslegte,
blühte sein Talent und seine äußerliche Erscheinung
als Komiker voll auf. Er sah dann so komisch aus, und mit seinem
Gesichtausdruck und dieser unnachahmlichen hohen Stimme, die nur er
von sich geben konnte, war er ein absoluter Promoter in seiner
gekünstelten Art. Minutenlang musste der Rest der Gruppe noch
lachen, sie konnten sich einfach nicht mehr beruhigen. So komisch
war doch diese Szene. Ja, ja, so herzzerreißend hörte ich
meine Schützlinge schon lange nicht mehr lachen. Tut meiner
Gefühlsmatrix richtig gut, meine Schützlinge, und wenn es
nur für Augenblicke ist, glücklich zu sehen. Was für
gefühlvolle Wesen sie doch sind. Obwohl sie von uns entführt
wurden, sind sie bereit, unserem Volk in unserer Not beiseite zu
stehen. Wir Dogon können noch von diesen Geschöpfen
etwas lernen, dachte sich Lyr, der, wenn er sich bei ihnen aufhielt,
seine Schützlinge niemals aus den Augen ließ. Allmählich
beruhigten sich die Gemüter der Runde. Und Lyr kam an den
Rundtisch.
»Wie ich sehe, meine Lieben, seid ihr bei
bester Laune.«, sagte Lyr.
»Lyr, du hättest Stephan gerade eben
miterleben müssen, es war doch zu komisch!«
»Ich habe alles mitbekommen, wenn ich
mir Erlauben darf zu äußern.«, entgegnete Lyr
leicht ironisch.
»Haben meine Schützlinge heute noch
etwas vor, oder noch irgendeinen Wunsch, den ich euch erfüllen
kann?«, fragte Lyr in einem charmanten Tonfall.
»Also, Lyr, sei mir nicht böse, aber
für mich ist nachher das Bett, und nur das Bett, der einzige
Zielort, an dem ich heute noch wandern werde. Ich weiß natürlich
nicht, wie es um den Rest der Gruppe steht, wenn sie vielleicht mit
dir noch etwas unternehmen wollen, frage sie doch einfach.«,
entgegnete Katja gähnend.
Doch auch bei den anderen sieben der Gruppe
stieß Lyr gegen eine Mauer der Müdigkeit. Höflich
verneinten sie, der Bitte des Androiden zu entsprechen. Anschließend
wünschten sie Lyr eine ruhige und angenehme Nacht und gingen in
Richtung Lift und fuhren mit ihm in den sechsten Stock. Lyr begleitete
sie natürlich wie eh und je.
Ein jeder begrüßte die Nacht und
verschwand in seinem Quartier. Da stand nun Lyr, sich etwas
vernachlässigt und doch zufrieden mit seinem Tag fühlend.
»Na ja, dann werde ich eben meine
Rundgänge etwas vorschieben.«, gab Lyr im Selbstgespräch
wieder. Und so machte er sich auf den Weg durch des Heiligen Xarmax'
Residenz.
Wieder lag Norman, obwohl hundemüde, wach
in seinem Bett und starrte auf die sehr schön verzierte
Deckenverkleidung. Doch was es darstellen sollte, konnte Norman nicht
entziffern. Na egal, dachte er sich, trotzdem ist es wunderschön
anzuschauen.
Norman machte sich große Sorgen wegen
der Audienz des Heiligen Xarmax am morgigen Tag. Er wusste nur zu
gut, dass Xarmax bestimmt auf das Thema der Rettung seines Volkes
kommen würde, das generationenlang an dieser heimtückischen Krankheit
litt.
Es musste so kommen, denn alleine aus diesem
Grund befanden sie sich ja nun mal hier auf Goderijan. Es war viel
weniger die Angst, die einen Schatten über ihn warf, dass ihm
und Katja etwas bei dieser Prozedur zur Rettung der Goderijaner
geschehen könnte. Nein, Sorgen und Angst machte ihm,
dass er und Katja versagen könnten. Dass alles, was bisher an
Opfer gebracht worden ist, vergebens gewesen war. Ja, zu vieles
ging ihm durch den Kopf. Ich muss unbedingt Schlaf bekommen, muss
für morgen früh fit wie ein Wiesel sein. Dachte sich noch
Norman und drehte sich im Bett zur Wandseite um. Einige Minuten
später, Norman war fast eingeschlafen, da klopfte es an seiner
Tür. Erst hörte Norman dieses pochende Etwas als Echo,
doch als es wieder klopfte, wurde er fast erschrocken wach.
»Ja, wer ist denn da? Wer macht denn
hier so ein Theater?«, schrie Norman förmlich der Tür
entgegen und das, ohne zu wissen wer ihm die Ehre erwies, ihn zu
besuchen.
Ganz langsam, ja schon fast unheimlich, ging
die Tür auf. Nur einen Spalt breit, gerade so viel, dass es einem
Menschen oder Dogon möglich gewesen wäre, seinen Kopf
hindurchzustecken. Und tatsächlich, ein Kopf ragte durch den
leicht geöffneten Türspalt.
Es war Katja, die Norman natürlich sofort erkannte.
»Ach, du bist es, Katja? Ist denn etwas
geschehen? Und warum schläfst du noch nicht?«, viele
Fragen, die Norman an Katja stellte.
Ȁh... Entschuldige vielmals, Norman.
Keine Sorge, es ist alles in bester Ordnung.«, gab sie zur
Antwort.
»Sag mal, willst du nicht erst einmal
hereinkommen, oder willst du mit der Hälfte deines
Unterkörpers auf dem Flur, Maulaffenfeil halten?«,
neckte Norman seine Schwester ein bisschen.
»Doch, natürlich möchte ich
kurz hereinkommen.«, gab Katja Antwort.
Dann setzte sie sich neben Norman auf die
Bettkante. Eine zeitlang guckte sie Norman nur an. Was Norman
natürlich etwas nervös zu machen schien.
»Na, was ist, bist du nur gekommen, um
mich anzusehen oder was?«, wollte Norman verständlicherweise
wissen. Doch dann bemerkte Norman einen gewissen Hilfeschrei in
ihren Augen. Noch schwieg Norman, doch als er Tränen
in ihren Augen erkennen konnte, die über ihre rosaroten Wangen
liefen, beugte er sich zu ihr hinüber und nahm sie
ganz fest, dennoch liebevoll, in die Arme. In diesem Augenblick
bedurfte es keinerlei Worte.
Im nächsten Augenblick berührte
Norman Katjas Wangen mit seinen beiden Händen und richtete ihre
Augen und Gesichtsfeld direkt in seinen Blickwinkel.
»Ich weiß, Katja, mir geht es ebenso,
aber da müssen wir durch. Ich weiß, was du jetzt durchmachen
musst. Dennoch, wir müssen tapfer sein, wir dürfen jetzt
nicht resignieren.
Wir haben eine Aufgabe bekommen, die uns schon
in die Wiege gelegt worden ist. Und da glaube ich fest daran. Und
noch etwas: Ich glaube sogar, dass es der Wille Gottes war, dass wir
hier auf Goderijan sind.« Eine ganze Weile verharrten beide in
ihren Zweifeln und Ängsten.
»Na, Liebes,
geht es wieder?«, fragte Norman seine Schwester sorgenvoll,
während er mit einem Taschentuch, das auf dem Nachtkästchen
lag, sanft die kleinen Tränchen aus ihren Augen und Wangen abtupfte.
»Danke, Norman, du bist lieb. Mach dir
keine Sorgen, mir geht es schon wieder besser.«, gab Katja mit
einem gezwungenen Lächeln zur Antwort.
»So, und du bist eine sehr schlechte
Lügnerin.«, gab Norman im Scherz zurück, worauf
Katja, noch unter Tränen, herzhaft lachen musste.
»Na siehst du, so gefällst du mir
schon besser. Dennoch solltest du jetzt in dein Quartier gehen.
Versuche etwas zu schlafen, es wird morgen wieder ein anstrengender
Tag, der uns bestimmt mal wieder emotional und psychisch fordern
wird.«, bat Norman seine Schwester.
»Ja, Norman, sicher hast du mal wieder
Recht, wie meistens.«
Dann gab Katja ihrem Bruder, den sie inzwischen
sehr lieb gewonnen hatte, ganz sanft ein Küsschen auf seine
Stirn und verließ sein Quartier. Für Norman wurde es
höchste Zeit. Abermals drehte er sich in seinem Bett
zur Wandseite und schloss die Augen.
Eine halbe Stunde später kam Lyr von
seinem Kontrollgang zurück. Auch hier im Palast des Heiligen
Xarmax musste er stets Kontrolle laufen. Lyr ließ es
sich aber nicht nehmen, noch einmal bei seinen Schützlingen
nachzusehen, ob auch alles in bester Ordnung ist. Also lief er ein
Quartier nach dem anderen ab, öffnete ganz vorsichtig einen
Spalt breit die Tür und guckte mit einem geübten Blick
blitzschnell hinein. Das tat er jeden Abend, ob auf dem
Mutterschiff oder gar wie jetzt in des Xarmax' Residenz. Diese
Kontrolle seiner Lieben übte er aber in absoluter Stille aus,
besonders heute, da seine Schützlinge morgen einen
sehr harten Tag vor sich hatten und sich diesen Schlaf der Gerechten
verdient hatten. Keiner sollte unnötig geweckt werden. Nach dem
dieses Werk von Lyr vollendet war und er sich überzeugen konnte,
dass alle fest und tief schliefen, war auch für Lyr die Zeit
des Ruhens gekommen. Dann, wie eh und je, ging er in sein Quartier,
das sich im übrigen in der gleichen Etage befand, und schloss
sich an seinem Energiespender an. Anschließend schaltete er
sich sozusagen wieder auf Sparflamme. Nur die nötigsten
Überwachungssensoren blieben dabei in Bereitschaft. Die Nacht
verging schnell und Lyr war schon auf dem Wege, um seine Schützlinge
wie immer zu wecken. Genau um Punkt 6 Uhr 30 morgens. Wie eh und je,
und so auch hier, in des Heiligen Xarmax' Residenz, fing Lyr mit dem
hintersten Quartier an und arbeitete sich bis nach vorne durch. Doch
dieses Mal traf es nicht Norman, der immer als erstes geweckt wurde,
nein, durch die neue Einteilung der Quartiere seitens Mary traf
es diesmal Gregor, der sich, und wie sollte es auch anders sein,
rebellisch aufführte, was aber Lyr eiskalt ließ. Wieder
einmal, genau wie am Vortag, traf sich die ganze Gruppe mit Lyr um
halb sieben vor dem Lift, um wieder einmal geschlossen zum Frühstück
zu gehen. Das Frühstück war schnell beendet und Lyr kam
zum Rundtisch.
»Also, hört
mir bitte mal alle zu: In genau zehn Minuten haben wir, wie schon
vor nicht allzu langer Zeit angesagt, eine
Audienz bei dem Heiligen Xarmax. Und vergesst bitte die
Verbeugung nicht. Ihr habt es mir versprochen, unserem Heiligen
Xarmax diese Ehre zu erweisen.« Ein bisschen mussten einige der
Gruppe schmunzeln, als ihnen auffiel, dass ihr süßer
Androide so langsam Menschlichkeit, also menschliche Züge
annahm, denn er war nervöser als sie selbst es waren. Was aber
die Gruppe für sich behielt. Die Gruppe war froh, Lyr auf ihrer
Seite zu wissen, denn er war und ist und hat bis jetzt, die gesamte
Gruppe immer in Schutz genommen, egal in welcher Lage sie sich auch immer
befanden. Im Nu standen alle vor dem leeren Schacht und
warteten geduldig aber dennoch etwas nervös auf den Lift, der
vermutlich anderweitig im Einsatz war. Dann, endlich, kam der
Lift zu ihrer Höhe hochgefahren. Ganz oben, also in er zehnten
Etage angekommen, folgten sie sogleich Lyr, der wie immer voraus
ging, um die Gruppe zu führen. Es ging zunächst etwa zweihundert
Meter nach rechts den Flur oder Gang, wie auch immer man diese Röhre
nennen mag, entlang. Als nächstes fünfzig Meter nach
links und so weiter und so fort. So ging es nicht enden wollend eine
geschlagene Viertelstunde lang weiter. Es schien kein Ende zu
nehmen und ein jeder machte sich während dieser Zeit seine
eigenen Gedanken. So konnten sie sich von ihrer Nervosität ein
bisschen ablenken, und so watschelte einer nach dem anderen, wie
kleine Entchen hinter der Entenmutter, geduldig hinter Lyr, ihrem Wegweiser, hinterher. Und
während sie immer weiter durch das scheinbar nicht enden
wollende Labyrinth einhergingen, staunten sie nicht
schlecht über die Schönheit dieser Gänge, die mit diesem
marmorähnlichem Gestein, das die Dogon liebevoll Sammes
nannten, verziert waren. Und die Decken waren mit einer
kunstvollen Pracht verziert, dass es einen zum Träumen
verleiten konnte und das ungeachtet dessen, dass die Gruppe von
dieser Art künstlerischen Schaffens keinen blassen Schimmer,
sozusagen überhaupt keine Ahnung, hatte. Dann blieb Lyr abrupt
vor einer mächtig großen Türe stehen, man könnte
sie aber auch als ein Großes Tor bezeichnen, was aber nicht
angemessen wäre, da ja bekanntlich ein Tor meistens
als Ein- und Ausgang benutzt wurde der sich in den
Außenwänden befand. Diese Tür, die einem, wie
schon gesagt, wie ein Tor vorkam, fiel jedem sofort ins Auge. Sie
war gräulich kahl und einfach, kein Pomp und Glimmer,
keinerlei Verzierungen spiegelten sich darauf wieder. Anscheinend war
dieser Heilige Xarmax nicht sehr anspruchsvoll, wenn es um seine Wenigkeit ging.
»So, meine Lieben, wir sind am Ziel.
Jedoch, bevor wir zur Audienz unseres Heiligen Xarmax schreiten,
möchte ich euch noch eine Frage stellen: Ist euch auf dem Weg
hierher irgendetwas aufgefallen? Und hat irgendjemand an sich eine
Veränderung bemerkt?«, wollte Lyr vorerst von seinen
Schützlingen wissen.
Katja meldete sich mit einem rechten Fingerzeig, als erstes.
»Ja, Katja? Du möchtest etwas dazu
sagen?«, gab Lyr Katja das Wort.
»Ja, gerne,
Lyr. Zu der ersten Frage: Es ist mir aufgefallen, dass dieser Weg
hierher einem Irrgarten glich. Und zum zweiten verspürte ich
einen unwiderstehlichen Drang, über mein ganzes Leben
nachzudenken. Ja, mein gesamtes Leben zog an mir vorbei. Was in
dieser kurzen Zeit eigentlich gar nicht möglich wäre. Ich
kann mich nur wiederholen. Ja, wie in einem Schnelldurchlauf einer
Zeitrafferkamera zog mein bisheriges Leben an mir vorbei. Zudem
fürchtete ich mich schrecklich, brachte jedoch keinen einzigen
Ton heraus. Und es kam mir so vor, als würde irgendetwas mein
gesamtes bisheriges Erleben, und noch dazu mein Wissen, förmlich
aus mir heraussaugen.«
»Das ist doch nicht normal, oder?«,
stimmten die restlichen sieben der Gruppe Katja vollends zu. Denn
auch sie erlebten und empfanden das Gleiche wie Katja.
»Bitte bewahrt jetzt Ruhe. Was euch eben
widerfuhr, war von Anfang an von unserem Heiligen Xarmax bis ins
Kleinste vorbereitet und geplant, sozusagen beabsichtigt. Nur so
war es unserem Heiligen Xarmax erst möglich, seinen Geist und
seine Seele mit der euren für kurze Zeit zu verschmelzen, um
mehr über jeden einzelnen von euch und euere Denkweise, aber
auch mehr über euer bisheriges Leben zu erfahren. Auf diese
Art und Weise spart unser Heiliger Xarmax viele Jahre des Kennenlernens
eines jeden einzelnen von euch. Ihr müsst wissen, dass
unseres Heiligen Xarmax' Zeit sehr begrenzt ist, was ihr bestimmt
verstehen werdet. Noch etwas: Diesen Gang oder Flur, wie auch immer
ihr ihn bezeichnet und den ihr irrtümlicherweise Irrgarten
nanntet, wird eigentlich in menschlicher Sprache, also in diesem
Fall in eurer Landessprache, 'der Weg der Wahrheit zur
Selbsterkenntnis' genannt.«
Als Lyr eigentlich mit einer Begeisterung
seiner Schützlinge rechnete, bemerkte er ganz plötzlich
eine gewisse Spannung auf ihren Gesichtern, was ihm gar nicht
gefiel. Noch dazu kurz vor der angesagten Audienz.
»Aber, wie kommt denn der Heilige Xarmax
dazu, uns des Einzigen zu berauben, was für uns Menschen seit
Anbeginn unserer Schöpfung als unantastbar gilt, nämlich
frei zu denken, zu fühlen und zu träumen. Nicht einmal
unser Herrgott würde dies tun. Ich muss schon sagen, ich bin
zutiefst erschüttert und vom Heiligen Xarmax schwer enttäuscht.
Und da, so glaube ich, spreche ich nicht nur für mich.«,
klagte Katja den Heiligen Xarmax an. »Außerdem hattet ihr uns
nach der Entführung auf dem Mutterschiff versprochen, nicht
mehr in unsere Gedankenwelt einzudringen.«
»So beruhigt euch doch, der Heilige
Xarmax tat dies doch nicht mit böser Absicht oder gar, um euch
Schaden zuzufügen. Nein, im Gegenteil, er wollte nur von euch
lernen, euch besser zu verstehen, einen Augenblick lang zu fühlen, wie
ihr fühlt, damit er bei der Audienz besser auf euch eingehen
kann. Was ist denn so schlechtes daran?«, versuchte Lyr diese
prekäre unerfreuliche Situation zu entschärfen. Doch
vergebens, Lyr begriff, ja spürte, dass das, was sein Schöpfer
Xarmax sich in diesem Fall anmaßte, zu viel des Guten war. Er
hatte die Rechte der Menschen auf geistige und seelische Freiheit
aufs Schändlichste und Hinterhältigste verletzt. Lyr
stand mal wieder starr und unbeweglich wie ein Pfeiler da und
wusste nicht mehr ein noch aus. Hoffnungsvoll, die Gruppe könnte
sich wieder besinnen, aber das schlug fehl. Es folgte ein tiefes Schweigen.
»Es tut mir leid.«, sagte Lyr, nun
sehr nervös geworden.
»Dir, Lyr, braucht überhaupt nichts
Leid zu tun. Wir wissen, dass du nichts dafür kannst, obwohl du
davon wusstest.«, sagte Norman zu ihm.
»Danke, ich danke euch allen. So werde
ich nun zu unserem Heiligen Xarmax eintreten und uns anmelden,
einverstanden?«
Lyr hatte schon die Türklinke mit seiner
rechten Hand fest umklammert, da wandte Mary wörtlichen Protest
ein.
»Lyr, das
wird wohl nicht mehr nötig sein.«, sagte Mary im ruhigen
und gelassenen Ton.
»Wa... Was wird nicht mehr nötig
sein? Was habt ihr denn vor?«, fragte Lyr sehr aufgeregt.
Dennoch glaubte Lyr zu wissen, was nun folgte,
dass seine Schützlinge an der Audienz des Heiligen Xarmax
nicht teilnehmen werden. Lyr neigte enttäuscht sein Haupt gen
Boden. Er wollte es wohl nicht einsehen, geschweige denn wahrhaben.
»Aber, meine Lieben, das geht doch
nicht, das ist ausgeschlossen. Noch nie wurde eine Audienz unseres
Heiligen Xarmax verweigert, geschweige denn, auch noch beabsichtigt.
Das gleicht einer Infamie, ja einer Rebellion seinesgleichen. Das
könnt ihr mir doch nicht antun!«, jammerte und jammerte
Lyr unentwegt weiter. Doch das ließ die Gruppe Lyr dem
Androiden gegenüber eiskalt.
»Lyr, offen gesagt interessiert uns das
momentan überhaupt nicht.« Lyr staunte nicht schlecht,
als sie sich umdrehten und ihm sozusagen die kalte Schulter
zeigten. Lyr konnte einem schon leid tun. Da stand er nun verlassen
und alleine. Und was Lyr noch viel schlimmer zusetzte, bestimmte die
Tatsache, dass die Zeit der Audienz bei seiner Heiligkeit Xarmax
schon längst fällig, ja überschritten war. Lyr blieb
nun nichts anderes übrig, als diesen schweren Weg in die Höhle
des Löwen alleine zu gehen und über die sich neu
zugetragene Situation Bericht zu erstatten. Langsam und beherzt
öffnete Lyr die mächtige Tür und verschwand in dem
dahinter liegenden Raum.
Währendessen irrte die Gruppe durch
die unendlichen Gänge, die, wie schon gesagt, einem Irrgarten
glichen, bis sie endlich vor dem besagten Lift standen. Vor diesem standen
sie nun wartend.
»Hört mal alle zu, ich finde, wir
sollten uns erst einmal über unsere jetzige Situation beraten,
wie es weitergehen soll. Denn, wie wir alle wissen, sind wir ja
eigentlich nicht so ganz freiwillig hier, oder?«, schlug
Norman vor.
»Ja genau, Norman hat da nicht mal so
Unrecht. Wir sollten in diesem Fall unsere geistige und seelische
Freiheit fordern. Kein phänomenisches und mentales Eindringen
mehr. Unsere Gedanken gehören uns und sonst niemandem.«,
äußerte sich Katja energisch.
Als sich alle damit einverstanden erklärten,
einigte sich die Gruppe, in Normans Quartier zu gehen, um dort
intensiver über dieses Problem zu beraten.
*
Währenddessen auf der zehnten Etage, im Residentensaal des Heiligen Xarmax:
Lyr stand vor seinem Schöpfer, der auf
seinem mächtig wirkenden Thron stumm verweilte. Xarmax' Thron
befand sich auf einem ungefähr zwei Meter hohen Podest.
So war es dem Heiligen Xarmax möglich, alles in
diesem so großen Saal zu überblicken und zugleich
mächtiger zu wirken, obgleich er es eigentlich nicht nötig
hätte.
»Nun sprich, mein Androide Lyr, wie dich
die Menschen nennen.«, forderte Xarmax mit lautem Ton.
»Gewiss,
gewiss mein Schöpfer. Oh... Mein Heiliger Xarmax ich bin
untröstlich, aufs alleräußerste zutiefst
beunruhigt, ich bin konfus, ich...«
»Beruhige dich, mein treuer Androide,
ich weiß längst über diese kleine delikate Rebellion
deiner und der unseren menschlichen Schützlinge bescheid. Doch
sei dir gewiss, dir und deinen Menschlingen gebe ich keine Schuld. Die
Schuld daran liegt bei mir, die ich auf eure Schultern lud. Ich
weiß, dass ich dieses eine Mal viel zu weit ging. Was ich natürlich
zutiefst bedaure. Doch die Wege eines Herrschers sind des Öfteren
unergründlich. Ich stamme aus einer sehr, sehr langen
Ahnenreihe und Gattung der Weisen und Gründer unserer heutigen
Kultur des Heiligen Goderes (Gottheit - Schöpfer). Und jeder
der Xarmarxses hat seinen Teil zum Wohle unseres Volkes mit
Geist und Seelenführung bestens beigetragen. Jedoch heute habe
ich versagt. Ich fühle, dass bald meine Zeit kommen wird, wo ich
mich endlich mit dem Geiste und meiner Seele unseres Oberhauptes
und Gründer unserer Kultur, des Heiligen Goderes, vereinigen
werde. Ich glaube, dass ich es mir nach so vielen Jahrhunderten des
Existierens und Waltens über das Volk der Goderijaner
verdient habe. Doch vorerst muss durch der Menschen Kraft und
Geist, die seit ihrer Existenz in ihnen ruht, eine
Seelenverschmelzung stattfinden, die diese Krankheit endgültig
vernichten wird. So dass auch unser gesamtes Volk ohne Angst, Leid
und Schrecken zuversichtlich in die Zukunft blicken kann.
Wenn das nicht geschieht, ist diese letzte Chance, den Kranken
und die es noch von Generation zu Generation werden zu helfen, für immer
zunichte. So ist mein Wunsch und so berichte auch deinen
Schützlingen von mir. Die wahre Macht kommt nur aus dem inneren
Herzen. Noch etwas, und höre, mein getreuer guter Freund und
Androide. Schon vor kurzem beschloss ich und in Beratung mit dem
Hohen Rat, dass du als der erste künstliche Goderijaner von
mir höchst persönlich den besten
Gefühls- und Speicherverarbeitungschip, der je entwickelt wurde,
als Belohnung deiner bisherigen Verdienste im Sinne deiner von mir
zugetragenen Aufgaben, erhalten wirst. Trete näher, damit ich
dir diesen außergewöhnlichen Chip mit großer
Freude überreichen darf. Darüber hinaus bist du mit deinen
neuen Fähigkeiten durch diesen Chip durchaus in der Lage, eines
der Mutterschiffe zu führen und zu kommandieren. Deswegen
ernenne ich dich in meinem Namen und im Segen des unseren
Heiligen aller Heiligen Oberhauptes, Goderes (Gottheit - Schöpfer),
zum Ikachee Te (Kommandant).«
»Lyr verschlug es mächtig seine
Sprachmembranen, in diesem einen Augenblick brachte er kein
einziges Wort heraus und um seine Nervosität zu vertuschen,
verbeugte er sich demütig. Lyr
wusste, dass es noch nie einen Androiden gab, der ein Kommando über
eines der gigantischen Mutterschiffe erhielt. Lyr rang mit sich
selbst. Er war zwar sehr stolz, einer solchen Ehre teilhaben zu
dürfen, dennoch machte er sich Sorgen. Sorgen darüber, dass
er vielleicht durch dieses Kommando, das er übernehmen sollte,
jedoch eigentlich musste, von seinen Schützlingen getrennt
würde.
»Mein
Schöpfer, ich weiß nicht, ob ich all diese Auszeichnungen
verdient habe, dennoch werde ich, wie die Menschen zu sagen pflegen,
nach bestem Wissen und Gewissen meine neuen Aufgaben im Sinne deiner
Zufriedenheit beginnen und auch beenden.
Ich danke mit ganzer Kraft und Ehrlichkeit,
meinem Heiligen Xarmax und schwöre auch weiterhin auf ewige
Treue und Loyalität.«, beehrte Lyr seinen Schöpfer.
»Sehr zufrieden scheint mein treuer
Androide nicht zu wirken, aber mache dir nicht so viele unnötige
Gedanken, Xarmax weiß, was seinen Androiden bedrückt. Es sind
die Erdlinge.«, wies der Heilige Xarmax darauf hin.
»Ja, mein Schöpfer, ich bin mir
sicher, dass sie stets meiner bedürfen.«, erklärte
Lyr mit bedrückter Stimme.
»Aber, aber, mein treuer Freund, dessen
bin auch ich mir bewusst, so habe ich im Vornherein, alles zu deiner
Zufriedenheit geregelt, wie die Menschen belieben zu sagen.
Du wirst bis zur Rückkehr deiner
Schützlinge auf diesen blauen Planeten, den die Menschen
sonderlicherweise Erde nennen, bei ihnen verharren. Wenn es soweit
ist. Jedes der acht Menschlein sollte sich genau dort
wiederfinden, wo wir sie einst von ihrer Heimat entführten und ihrer
Örtlichkeit beraubten. Wer sich an uns und das
Erlebte erinnern möchte, ist jedem freigestellt. Doch muss er
vorerst in die Kammer des Schweigens, so dass er sich in seinen
Gedanken an das Geschehene erinnern möge, jedoch, ihm darüber
zu reden für immer versagt sei. Merke auf, mein treuer Freund,
meine Wünsche und die des gesamten Volkes sollten dein Begehr
sein.«
Als Lyr diese Worte von seinem Schöpfer, dem Heiligen Xarmax
empfing, waren seine Schaltkreise und seine Matrix trunken vor
Überwältigung und Freude.
»Oh... Wie weise und gutherzig mein
Schöpfer doch ist. Ich, Lyr, wünsche meinem Heiligen
Xarmax ewiges und ein weiteres zufriedenes Herrschen über das
ganze Volk des Planeten Goderijan.«
Das war keine Schmeichelei, die da Lyr
äußerte. Nein, im Gegenteil, Lyr meinte dies aus seiner
vollsten Gefühlsmatrix.
»So sei es und so soll es geschehen, im
Namen unseres Oberhauptes Goderes. Nur noch ein letztes, mein
Androide und zukünftiger Kommandant. Wie gedenkt mein treuer
Lyr diese so prekäre, nun sagen wir, diesen Zwiespalt zwischen
meiner Wenigkeit und die deiner geschätzten Schützlinge
wieder... Äh... Wie belieben die Menschen doch zu sagen? Ins
rechte Licht zu rücken? Lyr, gewiss ist dir unseres Volkes
Abhängigkeit, was die beiden Menschlinge Norman und Katja betrifft,
bewusst, dessen bin ich mir sicher. Mir, Xarmax, wäre es eine
innige Wonne, ja ein freudiges Seelenheil in meines Geistes Gefüge,
wenn die Menschen wieder meiner Gütlich wären.«
Ja der Heilige Xarmax machte sich große
Sorgen, dass Lyrs Schützlinge nicht mehr dazu bereit wären,
die Dogon von dieser so schrecklichen Krankheit zu heilen.
»Mein
Schöpfer, ich kann nichts versprechen, doch sei dir gewiss, dass
ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um meine Schützlinge
wieder friedlich dir gegenüber zu stimmen. Dennoch, so glaube
ich sie gut genug zu kennen, dass sie nicht im Stande wären,
unser Volk mit dieser heimtückischen Krankheit sich selbst zu
überlassen. Und einfach so, als ginge sie all dieses
Schreckliche nichts an, anschließend nach Hause gebracht
zu werden. Nein, nein, und nochmals nein. sie sind für mich die
friedlichsten, gutmütigsten, liebevollsten und empfindsamsten
Geschöpfe, die ich je kennenlernen durfte. Wie sie es schon
des Öfteren zu mir sagten, für sie würde ich meine
Hände ins Feuer legen. Nun, mein Schöpfer, nochmals
tiefsten Dank.«
Lyr verbeugte sich tiefer denn je vor dem
Heiligen Xarmax und verließ den Thronsaal.
Lyr beschloss, sofort die neue Botschaft
seinen Schützlingen zu berichten und machte sich auf den Weg
zu ihren Quartieren.
*
Währenddessen noch immer im Quartier von Norman, wo sich ja
alle versammelt hatten:
»Tja, ich sage euch, wir werden zu
diesem arroganten Xarmax gehen und ihn mal so richtig bescheitstoßen,
ja ihm mal so richtig die Meinung blasen. Ich meine, was bildet der
sich überhaupt ein! Und außerdem sagen wir ihm gleich,
dass wir gleich morgen wieder nach Hause wollen. Lieber verbringe
ich abermals viele Jahre auf diesem Mutterschiff, als diesem elenden
Monster, das sich sogar heiligsprechen lässt, irgendwann nochmal
zu begegnen. Na, was haltet ihr von meinem Vorschlag?«
Gregor ging mal wieder mit seinem Mundwerk zu weit.
»Gregor, wenn du heute noch ein einziges
Mal dein verdammtes Schandmaul aufmachst, dann sorge ich dafür,
dass du den Rest dieses Aufenthaltes hier auf Goderijan deine
Mahlzeiten aus einem Strohhalm saugen wirst. Hast du das kapiert?«,
machte Peter deutlich.
Doch Gregor ließen diese Worte kalt. Und so kam es, wie es
kommen musste.
»Was geht dich Milchbubi an, was ich zu
sagen habe und, weißt du was, du kannst mich mal, du weißt schon wie,
sag mir nur wie du es gerne hast.«
Gregor hätte dies nicht sagen dürfen,
denn für Peter, der eigentlich sein Chef auf der Erde ist, war
das Maß endgültig voll. Mit einem Satz sprang Peter zu
Gregor, der ungefähr einen Meter vor Peter auf einem Stuhl saß,
hinüber und gab ihm mit seiner rechten
geballten Faust einen solch kräftigen Schlag aufs Kinn,
dass Gregor mitsamt Stuhl rückwärts fiel, als hätte
dieser Stuhl, auf dem Gregor saß, einen Raketenantrieb
eingebaut. Im Nu rangelten die beiden in Normans Quartier wie
wild gewordene Geier umher, die sich um einen Kadaver streiten.
Natürlich gingen alle dazwischen, als es zu heftig wurde, und
trennten die beiden Streithähne.
»Sagt mal,
was ist denn mit euch beiden los, seid ihr jetzt ganz Übergeschnappt
oder was? Haben wir denn nicht schon genug Kummer? Müsst ihr
euch denn wie kleine Kinder aufführen? Mann, ich kann es nicht
fassen! Gregor, und du wirst dich in Zukunft etwas mehr mit deinem
Spötteln und deinem ewigen Gejammer zurückhalten, oder
glaubst du, dass du der einzige hier bist, der Grund hätte sich
aufzuregen? Vergiss bitte niemals, dass wir alle im gleichen
Boot sitzen, ob es uns nunmal gefällt oder nicht. Wir dürfen
nicht anfangen, gegen uns selbst zu handeln. Im Gegenteil, wir müssen
zusammenhalten.« Und während die gesamte Gruppe aus
ihrer Diskussion nicht herauszukommen schien, stand Lyr schon vor
Normans Quartier. Lyr ging gezielt dorthin. Eigentlich sollte dies
ein merkwürdiges Verhalten seitens Lyrs darstellen, doch weit
gefehlt, Lyr wusste stets, wo sich seine Schäflein
aufhielten, ja, dass sich die Gruppe jetzt bei Norman aufhielt. Nun, das
ist ganz einfach zu erklären, nämlich durch Lyrs
ausgezeichnetes Gehör, was ihm ermöglichte, sogar
durch bis zu einem Meter dicke Stahlbetonmauern zu hören und
Wärme von sämtlichen Lebewesen zu analysieren, sozusagen
abzutasten. Ja, in Lyr steckte eine enorme Elektronik, die ihm
enorme Fähigkeiten verlieh. Wenn die Menschen ihn in die
Finger bekämen, wäre es um ihn geschehen. Es wäre
nicht auszudenken, wenn Lyr einem der Mächtigen der Erde in die
Fänge geriete, denn sie würden ihn mit Sicherheit
nachkonstruieren und eine ganze Armee von seiner Art und Gattung
erschaffen. Ohne Zweifel wäre diese Streitmacht aus jenen
Androiden ein Heer der Vernichtung, ja ein Heer der Verdammnis. Und
das Land, welches dieses Heer besäße, würde sich den
Rest der Menschheit untertan machen. Nun, nichts desto Trotz, fiel
es Lyr dennoch etwas schwer, an die Tür von Normans Quartier
anzuklopfen. Denn, so glaubte er, nicht ganz unschuldig an der
Misere, die sich vor des Heiligen Xarmax großen gräulichen
und nichtssagenden Tür zutrug. Doch es half nichts, da
musste Lyr durch, was er auch gleich in die Tat umsetzte. Zaghaft,
und dennoch hörbar, klopfte Lyr an Normans Tür, wo
sogleich 'Herein' zur Antwort nach außen hallte. Ganz langsam
öffnete Lyr die Tür und blieb vorerst zwischen Tür
und Angel stehen.
»Darf ich hereinkommen? Ich habe euch
eine Neuigkeit zu berichten?«, fragte Lyr etwas kleinlaut.
»Aber sicher doch, Lyr, komm doch rein
und setz dich in die Runde.«, forderte Norman ihn auf.
Doch irgendwie zögerte Lyr ein wenig, was der Runde natürlich
sofort auffiel.
»Was ist mit dir, Lyr? Hast wohl heute
Morgen zu wenig Energie getankt?«, gab Gregor belustigt von
sich.
»Sei still, Gregor, und lass ihn in Ruhe.
Du Siehst doch, dass ihn etwas bedrückt.«, rügte
Sarah den lästernden Gregor, der nun etwas beschämt auf
den Fußboden guckte.
»Ich komme nicht nur meinetwegen,
sondern im eigentlichen Sinne von unserem Heiligen Xarmax.«,
äußerte Lyr respektvoll.
»Nun gut, wir hören?«, sprach Katja im Namen aller.
»In den
Verhandlungen mit meinem Schöpfer, dem Heiligen Xarmax, kam
folgendes Ergebnis zu Tage. Der Heilige Xarmax bedauert sehr, euch in
euren geistigen Freiheiten eingeschränkt zu haben. Sein Herz
ist sehr betrübt, diesen Zwiespalt und Zweifel an seiner
Ehrlichkeit euch gegenüber verursacht zu haben. Er bittet euch
daher um Verzeihung und erbittet eine neue Audienz, die ihr aber
selbst zu einem gewissen Zeitpunkt eurer Wahl, erteilen dürft.
Die Antwort soll noch heute seine Heiligkeit erreichen. Denn seine
Zeit ist sehr begrenzt, wie ihr natürlich verstehen werdet.«
Natürlich hat Lyr ein bisschen
übertrieben und die Erklärungen seitens Xarmax in eine
Art Bitten verwandelt. Dennoch, was Lyr vielmehr damit erreichen
wollte, war Harmonie und Freundschaft zwischen beiden Parteien, also
zwischen den Dogon und deren Führer, seiner Heiligkeit dem
Heiligen Xarmax, darzureichen und zu vollenden. Dazu fühlte
sich nun einmal Lyr berufen. Während Lyr noch immer neben der
Runde stand und auf eine Antwort wartete, beriet sich die Runde im
Eilverfahren.
»Lyr, sage deinem Schöpfer, dass wir
einverstanden sind, wenn der Heilige Xarmax auch in Zukunft uns
unsere geistigen und seelischen Freiheiten lässt. Uns ist nicht
daran gelegen, Zwietracht zwischen beiden Parteien zu stiften oder
gar zu ernten. Wir werden auch weiterhin daran festhalten, dem Volke
der Dogon zur Seite zu stehen und alles in unserer menschlichen
Macht stehende daranzusetzen, euer Volk von dieser so
schrecklichen Krankheit zu heilen. Ich hoffe, nein, wir hoffen, dass
das ehrbare und liebevolle Volk der Dogon baldmöglichst wieder
ohne Angst in die Zukunft blicken kann. Richte jene Worte seiner
Heiligkeit in unseren Namen aus. Dafür Bedanken wir uns bei
dir im voraus, Freund Lyr, unser Androide.«, sprach Norman in
aller Namen und Einvernehmen.
Als Lyr diese Worte hörte, war er so
sehr gerührt, dass es in seiner Gefühlsmatrix förmlich
zu brodeln begann. Er brachte in diesem Augenblick der herzlichen
Worte eines seiner Schützlinge kein einziges Wort heraus und
begann mit seinen azurblauen Augen zu rollen.
»Ach ja, Lyr, wolltest du uns denn nicht
noch etwas sagen?«, fragte Stephan nun Lyr.
»Es ist nicht so wichtig.«,
antwortete dieser.
»Lyr, deine Sorgen sind uns genauso
wichtig, wie für dich die unseren. Also, was ist jetzt, wirst
du uns jetzt berichten oder nicht?«, fragte Mary.
»Na ja, Sorgen sind es nicht. Ich bin
zum Kommandanten eines Mutterschiffes befördert worden.«,
gab Lyr voller Stolz seinen Schützlingen preis.
»Lyr, das ist ja wundervoll. Ich finde,
das hast du dir auch redlich verdient.«, gab Mary Lyr zu
verstehen.
»Ja, das wurde auch mal Zeit. Keiner
leistet so viel Arbeit, und das in allen Bereichen, wie du, Lyr. Ich
gratuliere dir, nein wir gratulieren dir alle.«
Dann gingen allesamt auf Lyr zu und reichten ihm mit Freude die
Hände.
»Sag mal, Lyr, ist es ein neues
Mutterschiff, das dir zugewiesen wird?«, wollte nun Norman
wissen.
Lyr spürte förmlich, dass diese Frage
nicht von ungefähr von Norman kam, er sah es an allen Augen
seiner Schützlinge, dass sie eine gewisse Angst hatte,n ihn
durch eine neue Aufgabe auf einem anderen fremden Schiff zu
verlieren.
»Ich muss
sagen, dass ihr eine gerissene Bande seid, aber durchaus meine
Lieblingsrasse, seit ich euch kenne. Es macht mich stolz, euch
dienen zu dürfen. Dennoch braucht ihr keine Angst zu haben, es
ist das gleiche Mutterschiff, in dem wir die letzten Jahre zusammen
verbrachten. So heißt nun mal dieses Mutterschiff eben
Surenech, was soviel wie 'Suchende Kraft' in eurer menschlichen
Sprache bedeutet.«, gab Lyr bei dieser Erklärung mal
wieder sein Bestes von sich. Es war schön, zu sehen, und vor
allem zu hören, dass Lyr mal wieder ganz der alte war, und was
ganz wichtig für alle war, dass sich Lyr wie immer in seinem
Element befand.
Nachdem beide Parteien zufrieden waren,
verabschiedete sich Lyr und ging schweigend von Dannen, sozusagen
seines Weges.
» Mann, Lyr war ganz schön mit den
Nerven fertig, nicht wahr, oder hat es von euch keiner bemerkt?«,
wollte nun Peter wissen.
»Aber
sicher war er das, ihr wisst doch, wie empfindlich er doch ist, wenn
es um uns geht. Ihr dürft nicht vergessen, dass er nur für
uns zuständig ist, dass es um seinen Existenzinhalt geht,
uns von allen Gefahren und allem erdenklichen Bösen
fernzuhalten. Er lebt eigentlich nur für uns acht kleine
Menschlein. Und wenn ich ehrlich sein soll, tut er mir irgendwie
leid. Er hat es halt doch nicht so leicht mit uns.«, sagte
Susanne, die sich eigentlich aus fast allen Diskussionen
heraushielt. Da alles besprochen wurde, was besprochen werden
musste, gingen alle wieder in ihre Quartiere, um auf das
anstehende Mittagsessen zu warten, denn bis dahin war es ja nur noch
ungefähr eine Stunde. Lyr hingegen übermittelte die
Entscheidung seiner Schützlinge zu seinem Schöpfer per
Signalübermittlung. Natürlich nicht wortgetreu, er hat
ein kleines bisschen geflunkert, aber nicht im bösen Sinne,
sondern nur, um die Spannungen zwischen den Parteien mal wieder zu
entschärfen. Dann ging Lyr in sein Quartier, er hatte ja noch
Zeit, bis er seine Schützlinge zum Mittagsmahl abholen musste.
Lyr wollte sich nun den besten Chip aller Zeiten, den die Dogon je
konstruiert hatten und den er von seinem Schöpfer, dem Heiligen
Xarmax für besondere Verdienste erhalten hatte, in sich
einbauen. Dieser Chip sollte Lyr vervollkommnen, ja, ihn
goderijanischer machen. Dieser Chip war sozusagen das
I-Tüpfelchen in seinen Wesenszügen. Lyr hielt den Chip noch
immer fest umklammert in seiner rechten Hand. Dann öffnete er
seine Hand und sah ihn sich sehr intensiv an. Und so etwas Kleines
soll in der Lage sein, mein gesamtes künstliches Leben
entscheidend zu verändern? Ungewöhnlich, in der Tat, sehr
ungewöhnlich. 'Nun denn, wenn es denn sein muss', dachte sich
Lyr noch insgeheim. Dennoch legte er den neuen Chip vorerst auf
seine Tischeinheit. Anschließend setzte er sich auf den dazu
gehörenden Stuhl und starrte auf den Chip. Er starrte und
starrte und starrte auf eben diesen Chip. Eine ganze Weile verging,
ehe er ihn wieder an sich nahm. In Lyr begann seine Gefühlsmatrix
das Gefühl der Angst und Unsicherheit freizusetzen. Ob es
nicht doch die falsche Entscheidung ist, ihn in sich einzubauen?
Dachte sich noch Lyr. Zudem befürchtete er, sich durch diesen
Chip zu verändern, sich so zu verändern, dass er sich
vielleicht am Ende selbst nicht mehr erkannte. Und dass er in
diesem Augenblick nicht mehr Herr seiner selbst ist. Jedoch, was ihm am
meisten Angst bereitete, war: Wird er die gleichen Gefühle der
Freundschaft, die er sich mühsam in Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit
aufgebaut hatte, noch immer für seine Schützlinge
empfinden können? Lyr wägte schon ein paarmal, diesen
Chip einfach zu vernichten und seiner jetzigen Konstruktion
freien Lauf zu lassen, sie einfach zu akzeptieren? Doch Lyr wäre
nicht Lyr, wenn da nicht seine grenzenlose Neugier auf alles Neue
in ihm steckte. So kam, was kommen musste: Ganz vorsichtig, also mit
größter Vorsicht nahm er den Chip mit seiner linken Hand
von seinem Tisch und mit seiner rechten Hand hob er sein
kuttenähnliches Gewand hoch, hielt es mit seinem Kinn fest, so
dass sein Oberkörper frei war. Dann drückte er unterhalb
seines Brustkorbes, ungefähr in der Mitte des Solarplexus einen
unter seiner künstlichen Haut befindlichen Schalter von dem nur
er und seine Konstrukteure wussten, leicht ein, worauf sich ein
Quadrat, in etwa einem streichholzschachtelgroßen
Stück vergleichbar, von seiner Haut auftat und sein Inneres,
sein Speichermedium, seine Synapsen, seine Gefühlsmatrixeinheit
und, und, und, zum Vorschein kamen. Anschließend schaltete sich
Lyr in einen Zustand, in dem nur noch die wichtigsten seiner
Lebensfunktionen in Energie standen. Als nächstes entfernte er
seinen sozusagen, alten Chip, der ja nunmehr ausgedient hatte, aus
seiner Schalt- und Verbindungseinheit, seiner inneren Hauptzentrale.
Im nächsten Moment setzte er mit seiner linken Hand, mit der er den
Chip noch immer festhielt, diesen in seine Schalt- und Verbindungseinheit, die sich in seiner
inneren Hauptzentrale befand, ganz, ja fast unnatürlich und
übertrieben vorsichtig ein. Danach, als es vollbracht war,
versetzte er sich in seine ursprüngliche Energie, so dass er
wieder voll funktionstüchtig war. Es folgte ein
spannungsgeladenes Warten. Es brauchte natürlich einige Momente,
bis seine Steuerungseinheit mit dem neuartigen Chip kompatibel
wurde. Dann kam der Augenblick, vor dem Lyr sich etwas fürchtete.
Doch im Gegenteil, Lyrs Ängste, nach dem Einsatz des neuen Chip
sich verändert zu haben, waren völlig unbegründet.
Denn was nun Lyr in diesem Augenblick empfand und erleben durfte war
schier unbegreiflich:
Er konnte mit seinen künstlichen Augen
bisher nur das sehen, was sein Weitstrahlscanner ertastete, es für
ihn umwandelte und als bewegliches, ja fast gezeichnetes Bild
wiedergab. Doch was Lyr nun sah, ließ fast seine
Schaltkreise durchschmoren. Er war, wie die Menschen sagen würden,
schlicht und einfach weg. Er konnte plötzlich alles in
seiner Echtheit sehen, nichts mehr umgewandeltes in Dimensionen, die
nur Strukturen wiedergaben, um sich darauf zuzubewegen, und sich
somit auf seine Ziele zu orientieren. Nein, diesmal war es so
echt, dass er durchaus mit seinen Kameraden den Dogon und sogar mit
seinen Schützlingen den Menschen konkurrieren konnte. Es war
unglaublich, richtige Farben sehen zu dürfen. Lyr ging daraufhin
zu seinem Fenster. Dort befand sich unter seinen zehn Stockwerken
ein wunderschöner Park mit einzigartigen grünflächigen
Wiesen, Pflanzen, Sträuchern und Blumen mit prächtig leuchtenden
Farben aller Art. Lyr war dem Weinen nahe, obwohl er keine
Tränendrüsen besaß, stimmte es ihn doch in eine
gewisse Art Freudentrance, die kein Ende nehmen wollte. Es
bedeutete für Lyr, ein neues künstliches Leben zu leben, ja,
zu leben wie er es sich doch so oft in seiner künstlichen
Gefühlsmatrix insgeheim wünschte. Man kann es immer
wieder wiederholen, dass sich Lyr in voller Glückseligkeit
befand, doch halt, was verspürte er nun? Ist es Wirklichkeit?
Oder täuschen mich etwa meine Matrixen, dachte sich Lyr.
Geschwind, ja fast mit einem gekonnten Satz, stürzte Lyr
nochmals zum Fenster und öffnete es. Im Nu und wie von selbst
begann Lyr zu atmen und sein Brustkorb begann sich gleichmäßig,
aber nur ein bisschen, erst nach innen und dann nach außen
hin zu wölben. Dabei empfing er einen der fünf Sinne, die
auch seine Kameraden, die Dogon (Goderijaner,) seit jener Geburt
hatten. Nämlich den Geruchssinn. Lyr beugte sich nun ganz weit
aus dem Fenster, um jene Düfte, die sich außen von überall
her verbreiteten, zu riechen. Er wollte kein einziges Duftmolekül
verpassen. Lyr war schlichtweg begeistert und von Sinnlichkeit
durchdrungen. Alles veränderte sich um ihn und in ihm. Sein
Tastsinn war enorm, um ein Hundertfaches gestiegen. Auch seine
Bewegungen in seiner Gesamtheit wurden flüssiger und nicht mehr
so steif und ruckartig wirkend. Es kam ihm so vor, als könne
er nun fast wie alle, die aus Fleisch und Blut bestanden, gehen,
sich drehen, in ungeahnter Dimension sich leiten lassend, von
feinfühlig geschmeidiger Beweglichkeit. Es war zwar noch
etwas gewöhnungsbedürftig, doch nach einigen Minuten ging
es schon fast wie von selbst, als hätte er sich niemals anders
bewegt oder gar verhalten. Als sei er gar kein Androide, als sei er
genau wie all die anderen hier auf Goderijan. Ja, was für ein
Bad der Gefühle, die ihn buchstäblich überfielen, es waren
Gefühle, die er niemals mehr missen möchte. Aber Lyr war
ein nüchterner und verantwortungsbewusster Androide. Und er
wusste auch, dass es noch einige Zeit bräuchte, bis er mit
seinen neuen Fähigkeiten richtig und im Sinne seiner
gestellten Aufgaben umzugehen, also, sie richtig und nutzvoll
einzusetzen, ja sie bis zur absoluten Perfektion auszuschöpfen
vermochte und das zum Wohle aller. Negative Gedanken machte er
sich trotzdem. Wie werden meine Schützlinge denn auf meine
Wandlung, Veränderung, reagieren? Werden sie mich verspotten,
mich nicht mehr akzeptieren oder gar verstoßen? dachte sich
Lyr. Er beseitigte das Problem auf ganz einfache Weise: Er würde
es seinen Schützlingen gar nicht erst erzählen, dass er
sich den neuen Chip schon längst eingebaut hatte. So konnte
er wenigstens feststellen, ob seine Veränderung auch auffiel,
und was für Auswirkungen sie mit sich bringen würde.
Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sich noch Lyr, während er seine
innere Uhr kontaktierte, um das Treffen mit seinen Schützlingen
am Lift nicht zu verpassen, denn auch in der Residenz seiner
Heiligkeit, wurde natürlich stets zu den Mahlzeiten
geschlossen gegangen. Die Zeit verging für Lyr nach seinen
durch den Chip verursachten völlig neuen Erfahrungen und
Emotionen sprichwörtlich wie im Fluge. Oh... noch fünf
Minuten, es wird höchste Zeit, dachte sich Lyr. So zog er sich
rasch das genau dafür passende Gewand über, das mit
herrlich anzuschauenden vielen, vielen Mustern verziert war, die
Lyr sozusagen natürlich, jetzt in einem anderen Licht, sah. Ein
kleines Schmunzeln fiel über Lyrs Gesicht und er ging aus seinem
Quartier in Richtung Lift, der sich ganz in seiner Nähe befand,
und wo, wie sollte es auch anders sein, schon alle versammelt waren
und auf ihn warteten.
Kapitel 18, Flucht vom Planeten Goderijan
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
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