Kapitel 4
Reise in ferner Zeit
Norman und Katja schliefen noch den Schlaf der
Gerechten. Und Norman durchlebte wieder einmal den gleichen Traum.
Er sah das Klagen und Weinen der Dogon auf diesem wunderschönen
und doch von einem grauen Schatten umhüllten Planeten. Abermals
wurde es ihm schwer ums Herz, als er in die traurigen Gesichter
dieser unbekannten Wesen blickte, die die Verzweiflung selbst
widerspiegelten. Dieses eine Mal wollte Norman nicht mehr aus
diesem immer wiederkehrenden Traum zurück. Er war bereit,
bereit den eigentlichen Grund für so viel unendliche
Traurigkeit zu finden und zu beseitigen. Katja erging es nicht anders.
Sie wollte mit all ihrer geistigen Kraft Norman in ihrem Traum zu
Hilfe kommen. Eigenartigerweise schienen die beiden in ihren
Träumen zu verschmelzen, natürlich auf geistiger
Ebene. Und es fiel ihr nicht schwer, Norman in ihrem Traum fragen zu
stellen.
»Norman, Norman.«, flehte Katja in ihrem Traum nach ihm.
»Norman, kannst du mich hören?«
Und Norman hörte Katja, ja er wunderte
sich nicht einmal darüber. Es war für ihn in diesem
Augenblick eine ganz normale Sache. Es war, als wären Norman
und Katja schon immer in ihren Träumen verschmolzen gewesen.
»Ja, Katja, ich kann dich hören.«
»Sag mal, sind wir wach oder schlafen
wir? Ich kann dich nicht sehen, Norman, und ich kann auch nicht sagen
wo ich bin.«, klang Katja sehr aufgeregt.
»Beruhige
dich doch, Katja, ich weiß es doch auch nicht, außer den
Traumbildern von dem Wehklagen dieser Wesen habe ich nichts gesehen.
Ob wir träumen oder uns in der Realität befinden, kann ich
dir auch nicht sagen. Eines ist jedoch sicher: Dieser Spuk, sofern
es einer sein sollte, wird irgendwann einmal ein Ende finden.
Deshalb, mach dir keine Sorgen, Schwesterchen.«, antwortete er
mit einer Gelassenheit, als wäre es eine ganz normale Sache,
dass sich beide zeitgleich in ihren Träumen treffen und unterhalten
können.
Katja begann, in ihren Träumen zu
schweigen und auf Normans Rat zu hören. Sie hatte von Anfang an
nicht diese mentalen Fähigkeiten wie Norman. Dennoch, ohne sie
wäre das eigentliche Ziel, nämlich den Dogon zu helfen,
nicht möglich. Doch trotz alledem traten ihre menschlichen
Unsicherheiten oft hervor.
»Es ist wunderbar, nicht wahr?«
»Ja, Norman, obwohl es mir Angst macht,
ist es wunderbar, man fühlt sich nicht mehr so hilflos, wie in
den meisten Träumen, wo einem keine Wahl bleibt und jeden Traum
träumen muss, ohne ihn verändern zu können.«
»Du hast Recht, Katja, ich fühle
sogar wie du dich fühlst. Ist das nicht grenzenlos?«
»Norman, es ist, als wäre ich
eigentlich du, als hätten wir die Rollen getauscht.«
»Und mir scheint es so, als hätte
ich deine Sinne. Wie findest du das, Katja?«
»Norman, ich wünschte, es nähme
nie ein Ende.«, erwiderte Katja.
Was Norman und Katja nun erlebten, war die
Gleichheit, mit der die Dogon lebten. Eine kollektive Einheit des
Ganzen. Norman und Katja erlebten nicht nur eine chemische
Veränderung für die enormen Geschwindigkeiten, die das Raumschiff
bald aufnehmen wird, ja, sie durften für einige Augenblicke das
Kollektiv erfahren, so zu fühlen wie sie, sich als Einheit des
Ganzen zu empfinden. Zu begreifen, wenn nur eine Einheit sich in
Trauer befand, alle diese Traurigkeit spürten, wenn ein
Dogon litt, alle litten. Es mag sich für das nüchterne
Denken des Menschen schrecklich anhören, auf eine andere
Bewusstseinsebene, wie es die Dogon in vielen Jahrmilliarden lernten,
zu vertrauen, für die seines Nächsten. Mit seines Nächsten
Gleichheit zu leben, zu atmen, zu fühlen und wenn gar nötig
zu opfern. Eine durchaus und für das Überleben der so
komplexen Spezies, wie es die Dogon sind, sinnvolle und ganz andere
Art der Erhaltung. Obwohl sie die gleichen Körper in einer Art
Evolution erhielten, wie die des Menschen, waren doch große
geistige Unterschiede vorhanden. Doch auch diese Gabe hatte ihren
Preis. Der bei einer Nichteinhaltung des Einzelnen oder gar
einem nicht vorhersehbaren Ereignis fatale Folgen mit sich führen
würde. Dort bei den Dogon ging es nicht um Reichtümer
oder Machtansprüche, für die sich die Menschen auf ihrem
ach so kleinen Planeten gegenseitig dahinmordeten. Nein, im
Gegenteil, hier ging es um ihre geistige und seelische Kraft, die
die Dogon genau wie die Menschen zum Überleben brauchten. Und
genau da lag der Dogon wunder Punkt. Sie konnten genau wie die
Menschen seelisch und geistig zugrundegehen, wenn ihr seelisches
Gleichgewicht durch irgendetwas Außergewöhnliches
durcheinandergebracht wurde. Für Norman und Katja war es ein
Gefühl der absoluten vollkommenen Geborgenheit. So war es ein
schreckliches Gefühl, als der Prozess der Regenerationskammer
beendet war. Beide fühlten eine schreckliche Leere in sich.
Langsam aber behutsam öffnete Katja ihre Augen. Ein Seufzer
der Unzufriedenheit hallte durch die Kammer der Regeneration.
Auch Norman wollte nicht so recht aus diesem Traum zurück in
die Wirklichkeit, zu sehr hatte er dieses Erlebnis genossen. Dann
setzte sich Norman auf, um sich nach Katja umzusehen, die auch schon
in Sitzhaltung saß.
»Mann, was für ein Traum. Ich bin
mir sicher, dass du den gleichen hattest, Katja, oder?«
»Ja, Norman, ich hatte den gleichen Traum
wie du. Was für ein Leben, was für ein Gleichnis der
Gefühle diese Dogon doch besitzen. Da wir nun wissen, wie die
Dogon zusammenleben und auf welcher Art sie sich mitteilen, freue
ich mich schon auf ein baldiges und intensives Kennenlernen mit
ihnen. Du nicht auch, Norman?«
»Ja, Katja, ich freue mich auch, ihre
Bekanntschaft zu machen, ich bin auch sehr neugierig auf ihr
technisches Wissen. Weißt du, vielleicht ist ja etwas dabei, was für
uns Menschen nützlich sein kann. Was sagst du dazu Lyr?«,
fragte Norman ihn, der bereits einige Schritte entfernt auf die
beiden zu warten schien.
»Ja, das könnte durchaus sein,
Norman. Aber ich bitte euch jetzt, mir zu folgen, wir müssen zu
dem Empfang.«
»Empfang, Lyr? Was für ein Empfang denn?«
»Einen Empfang zu euren Ehren.«,
antwortete Lyr voller Freude, dieses Ereignis als erster Verkünden
zu dürfen.
»Oh, ein Empfang extra für uns, wie
niedlich.«, äußerte sich Katja über diese
Neuigkeit.
»Also, darf ich nun bitten, mir zu
folgen.«
»Dann folgten die beiden dem Androiden
Lyr. Wieder ging es durch unzählige Gänge, mal mussten sie
viele Stufen auf- und mal wieder abgehen. Mal gingen sie lange Gänge
nach links und mal wieder nach rechts, so dass sie sich wie in
einem Irrgarten vorkamen, bis sie Lyr schließlich zu einer Art
offenem Lift führte. Es war kein Lift im üblichen Sinne,
so wie es Norman und Katja von ihrem Heimatplaneten her kannten.
Nein, im Gegenteil, dieser Aufzug hatte es in sich. Es gab einen
Boden, auf dem man stehen konnte. Doch dafür keine Wände
die diesen Lift zu einem Kasten formen konnten. Nein, statt Wänden
hatte er ringsherum eigenartige violette Lichtquellen, die von einem
hohen Tonfall begleitet wurden.
»Keine Angst, es wird euch nichts
geschehen, es sind Lichtquellen aus fester Materie, die euch nicht
schaden können. So wie ihr sie aus eurer künstlichen
Luftblase her kennt. Wie ihr seht, haben wir gelernt, mit unseren
Rohstoffen sehr sparsam umzugehen.«
Dann gingen sie mit Lyr, dem Androiden, in den
Fahrstuhl. Und während sie so aufwärts fuhren, bewunderten
Norman und Katja weiterhin die Konstruktion der weiteren Etagen. Und
Norman seufzte.
»Norman, hast du etwa Zweifel an unserem Vorhaben?«
»Ich dachte du könntest meine Gedanken lesen, Lyr?«
»Auf dem Schiff ist es uns allen außer
dem hohen Rat nicht mehr gestattet, eure Gedanken zu lesen. Nur
noch eure Sprache ist erlaubt.«
»Unsere Sprache? Ja, aber können
denn abgesehen von dir die anderen Dogon alle unsere Sprache
sprechen? Wie ich bei dir bemerkte, hattest du anfänglich
einige Schwierigkeiten damit.«
»Natürlich haben fast alle einige
Schwierigkeiten, die Sprachen unserer Urväter zu sprechen, weil
sie nur noch zu Missionszwecken gelehrt wird, aber um sich zu
unterhalten reicht es allemal.«
Norman traute seinen Ohren nicht, als er
eindeutig hörte, wie Lyr seine Sprache als die Sprache ihrer
Urzeitväter bezeichnete.
»Das gibt es doch nicht, Lyr, sagtest du
die Sprache eurer Urzeitväter?«
»Ach, ich Plappermaul, das hättet
ihr doch erst im Empfangsraum erfahren sollen. Na ja, ich hoffe, ihr
werdet mich nicht verraten, sonst komme ich auf den Schrottplatz der
Androiden.«
»Bestimmt nicht, Lyr, nun erzähl mal,
was du damit meintest.«
Dann hielt Lyr den Lift an, indem er leicht in seine Hände
klatschte.
»Nun gut, da es euer Wunsch ist, will ich
mal nicht so sein. Und damit ihr besser verstehen lernt, werde ich
es ein bisschen genauer erzählen.«
»Nun, mit
Urvätern meinte ich, dass wir einst eine zeitlang auf der Erde,
auf eurem Planeten zu Hause waren. Dort waren wir auf allen
Kontinenten vertreten, die aber damals ganz anders formiert waren
als sie es heute sind. Es gab damals nur drei Kontinente und nicht fünf,
wie es heute der Fall ist. Damals lebten wir in Frieden und in
völliger Harmonie mit dem Planeten, den ihr heute Erde nennt. Er
war noch jung und gewissermaßen unberührt. Wir lebten
sehr tief unter der Erdoberfläche. Ganze Städte
errichteten wir in den kommenden Jahrtausenden. Bis der Tag kam, an
dem wir die Erde verlassen mussten. Gewaltige Eruptionen taten sich
auf. Vulkane spien ihre enormen Massen ans Tageslicht, die
Erdmassen zerbarsten unter dem enormen Druck, den sie durch die
ständigen Reibungen der gespalteten Erdschichten ausgesetzt
waren. Ein Meer von Magma und Lava erstreckte sich über riesige
Landmassen, so dass es für alle Lebewesen, die sich an den
gefährdeten Oberflächen befanden, unmöglich war zu
überleben. Schuld daran waren die zahlreichen und aktiven
Vulkane. Durch ihre ständigen Ausbrüche schleuderten sie
gewaltige Massen an Staub gen Himmel, die sogar die Stratosphäre
erreichten und dort quasi hängen blieben und nur sehr langsam
entweichen konnten. Der Himmel verdunkelte sich und machte den Tag
zur andauernden und ewigen Nacht. Der Grund dafür lag auf der
Hand: Die Sonnenstrahlen, die eigentlich die Erde erwärmen
sollten, um Leben überhaupt erst zu ermöglichen,
erreichten die Erdoberfläche nicht mehr. Folglich hielt
eine neue Eiszeit Einzug. Durch die ständige Kälte konnten
sich viele Arten nicht mehr am Leben erhalten. Es gab nämlich
viele Wechselblüter. Die wenigen, die dieser enormen Kälte
trotzten, hatten es sehr schwer, Nahrung zu finden. Letztendlich
verhungerten viele Arten, weil sie keine oder nur wenig Nahrung
fanden oder gar ihr Organismus auf die Sonnenwärme angewiesen
war. Doch zwei wilde Spezies konnten auch diese Katastrophen
überleben, es waren zwei Gruppen der etwas anderen Art: Ihr
nennt Sie heute den Neandertaler und den Homo sapiens. Diese zwei
Randgruppen bewiesen sich in so vielen tausenden von Jahren
durchaus als intelligente Wesen. Aber wie wir heute wissen,
konnte sich letztendlich nur eine Gruppe bis zum heutigen Tag auf
der rauen und in ihrer Entwicklung noch nicht vollendete Erde
behaupten. Es war der Homo sapiens, der heutige Mensch. Die
Neandertaler starben aus, doch die etwas intelligentere Art, nämlich
eure Vorfahren, war der Homo sapiens. Er konnte sich bis heute
erhalten und allen Naturgewalten, die sich ihm entgegensetzten,
trotzen. Und das dank seiner raffinierten Erfindungsgaben und
Anpassungsfähigkeit.«
Jetzt fragt ihr beiden euch sicherlich, warum
wir von der Erde flüchten mussten, da wir ja weit unter der
Erde lebten. Das liegt auf der Hand: Wir lebten nämlich
von den Pflanzen, die auf der Erdoberfläche wuchsen und
gediehen. Anfangs versuchten wir, das notwendigste an
Nahrungsmitteln unter der Erde selbst anzubauen und zu züchten,
was ja am Anfang ganz gut gelang. Bis dann der Tag kam, an dem wir
entsetzt feststellen mussten, dass wir auf die Dauer zu wenig Platz
dafür hatten, um so viel anbauen zu können. Wir mussten
erkennen, dass es unmöglich war, auf die Dauer ein ganzes Volk,
also Millionen von Dogon, ernähren zu können. Wir brauchten
weitaus mehr als die noch primitiven Neandertaler, wie ihr sie
heute zu nennen pflegt. Und die sich nicht nur von gewissen Pflanzen
ernährten, sondern hauptsächlich von rohem Fleisch von den
Tieren ernährten und wie wilde Tiere auf der Erdoberfläche
in Höhlen hausten. Eure Urzeitväter waren im Gegensatz zu
uns, die ja gezwungen waren, hauptsächlich unterirdisch zu leben,
auf der Erdoberfläche flexibler. Wenn sie an einem bestimmten
Ort nichts mehr Essbares fanden, na ja, dann zogen sie einfach
weiter. Sie zogen so lange durch die noch begehbaren Landstriche, bis
sie einen Ort fanden, an dem es noch reichlich an Pflanzen gab und so
allerlei Getier erbeuten konnten. Wir dagegen waren an unseren,
sagen wir einmal Untergrund, gebunden. Natürlich konnten wir für
eine Weile an die Oberfläche, aber nicht für lange. Auch
hierfür gab es einen Grund: Wir waren nicht so wild und
anpassungsfähig wie eure Urzeitväter. Wir hätten
diese Kälte und die Rohheit des Planeten Erde niemals überleben
können. Zudem kam noch hinzu, dass wir absolute Vegetarier
waren. Wir konnten uns also nur von Pflanzen ernähren. Nicht so
wie zum Beispiel eure Urzeitväter, die den Vorteil an der
Oberfläche auf ihrer Seite hatten, denn Sie konnten fast alles
essen was ihnen vor die Füße kam. Sie waren wild und zäh,
wie manche tierische Spezies, die bis heute überlebt hat in eurer
modernen Zeit. Außer natürlich
mal wieder meiner Wenigkeit, da ich, wie ihr schon wisst, ein Androide
bin und überhaupt nichts zu mir nehme außer ab und zu
eine bestimmte Form von Energie. Nein, wir brauchten sehr viel mehr. Und
außerdem wuchsen unsere gezüchteten Pflanzen nicht so,
wie wir es uns erhofft hatten. Schuld war das künstliche
Licht. Es hatte nicht im Entferntesten die Eigenschaft eurer
Sonne, so dass alle Arten kleinwüchsig blieben und nur ein
Drittel an Ertrag brachten. Aber nicht nur das Problem der
Ernährung tat sich auf. Da kam etwas später noch ein weit
größeres Problem auf uns zu. Durch die ständigen
Eruptionen, also auch unterirdische Plattenverschiebungen hatten
wir sehr viele Erdbeben, die immer mehr unsere Städte
zerstörten und viele tausende Opfer forderten. Nun, ihr
könnt euch vorstellen, dass wir dort unten, egal wo, nie
hätten überleben können. Doch glücklicherweise
waren wir in Sachen technischen Fortschritts den anderen Lebewesen
auf der Erdoberfläche weit, weit voraus. Wir hatten ja noch
unser Wissen und das wiederum von unseren Urvätern, die uns
damals Freiwilligen auf diesem Planeten aussetzten. Sie wollten
sehen, ob es möglich war, auf diesem Planeten, wo ja schon Leben
existierte, sich zu entwickeln und seine Art zu erhalten. Doch
schließlich mussten wir einsehen, dass jeder Planet seine
Eigenheit besaß und wir vor diesem Planeten Erde letztendlich
kapitulieren mussten. Er war noch zu wild, zu rau und zu sehr
beschäftigt, seiner Evolutionen zu folgen. Wir sandten einen
Bericht auf unseren Planeten und wurden dann nach einer gewissen
Zeit von einigen unseren Brüdern und Schwestern wieder nach
Hause gebracht. So, und alles andere was ihr noch von uns erfahren
möchtet, erzähle ich euch während der Rückfahrt
zu unserem Planeten. Ich habe euch sowieso schon zu viel erzählt.
Ich hoffe auf absolute Verschwiegenheit eurer Seite.«
Und Lyr klatschte abermals leicht in die Hände
und sofort fuhr der Lift noch das letzte Stück bis in die
vierte Etage. Uns fiel auf, dass es hier eigenartig still war. Lyr
ging ein Stück voraus und blieb dann stehen. Dann drehte er
sich langsam und behutsam um und gab ein sanftes Lächeln zu
seinem Besten, was aber mit seinen stechenden bläulich
schimmernden Augen nicht gerade beruhigend auf Norman und Katja
einzuwirken schien.
»Seid doch nicht so nervös. Ah, sehr
gut, wir sind gleich dort. So, da ist die Vorhalle zu dem Raum wo sich
die Festlichkeit befindet. Der Empfangsraum befindet sich dort etwa
noch 10 Meter gerade aus. Folgt mir, Norman und Katja?«
»Warum ist es so still hier, Lyr?«,
fragte Norman berechtigterweise den Androiden.
»Nun, ich
glaube, das liegt daran, dass sich alle zu euren Ehren im
Empfangsraum aufhalten und jener ist absolut schallgeschützt.
Ihr könnt also demnach nichts und niemanden hören. Meine
Güte, seid ihr Erdlinge misstrauisch. Na ja, irgendwie kann ich
euch ja verstehen. Ich hoffe, dass wir bald Freunde werden. Ich hoffe
es zumindest.«
Ja, Lyr hatte Recht, Norman und Katja waren von
Geburt an misstrauisch. Das zeichnet eben einen Menschen aus.
Dann noch einige Meter und Lyr blieb vor einer
großen und schwarz schimmernden Lichtquelle stehen. Norman und
Katjas Herzen rasten vor Aufregung. Was würde sie hinter dieser
massiven Tür aus fester Lichtmaterie erwarten.
»Beruhigt euch doch. Ich versichere euch
nochmals, es wird euch nichts geschehen. Es erwartet euch ein großer
Empfang. Seid ihr so weit?«
»Norman, ich glaube, jetzt müssen wir
in den Sauren Apfel beißen.«
»Ja, Katja, das werden wir wohl oder
übel müssen. Gut, ich bin bereit.«
Beiden sahen zu Lyr und nickten ihm bejahend zu.
Dann klatschte Lyr zweimal in seine Hände
und die große Lichtquelle begann sich langsam aufzulösen,
bis die beiden schließlich in den riesigen Empfangsraum
hineinsehen konnten. Lyr ging wie immer voran. Norman folgte ihm und Katja
folgte Norman, so dass sich ihre Schritte wie ein Entenmarsch
ansahen. Ja, fast wie ein Militärmarsch wirkte ihr
hintereinander hergehen. Und während sie den großen
Empfangsraum betraten, guckten sie sich nach allen Seiten gründlich
um. Norman kam sich wie in einer Kirche vor. In der Mitte des Saales
befand sich ein ungefähr fünf Meter breiter und bis zum
Podest, hinter dem der Anführer protzig stand, ein langer
ausgerollter Teppich aus samtgelbem Stoff. Links und rechts und bis nach
vorne reihten sich die Sitzplätze, auf denen die Dogon in Reih
und Glied völlig eingemummt saßen und ab und zu einen
verstohlenem Blick auf die beiden warfen. Doch ihre Gesichter
zeigten sie nicht dabei. Kein freundliches Lächeln, kein
rührseliger Empfang, den Norman und Katja erwartete. Nach all
den Strapazen hatten sie sich wenigstens eine schöne
Willkommensfeier erhofft. Aber das war ihnen in diesen Augenblick
auch nicht mehr so wichtig. Vielmehr beschäftigte sie die Frage,
warum ausgerechnet sie auserwählt worden waren.
Sie kamen kurz vor dem Podest zum Stehen und
blickten mit erhobenen Hauptes zu dem Anführer der Dogon, der
auf dem Podest stand.
»Ah, endlich, endlich. Seid willkommen,
meine Lieben. Lieber Norman und liebe Katja, mein Volk und meine
Wenigkeit haben euch mit größter Ungeduld erwartet. Nun
seid ihr endlich da. Ich kann euch gar nicht genug sagen, meine
Freunde, wie sehr ich mich freue, euch gesund und munter hier bei uns
zu sehen. Nun kommt hoch zu mir, ja kommt beide hoch zu mir, so dass
die Besatzung vom Planeten Goderijan euch besser sehen und begrüßen
kann.«
»Mann, der kann vielleicht schleimen.«, flüsterte Norman leise in
Katjas Ohr.
»Da hast du Recht Norman, und ich dachte,
dass es das nur bei uns auf der Erde gäbe.«, erwiderte
im Gegenzug Katja.
Dann gingen die beiden die kleine Treppe, die
sich wendelartig nach oben formierte, hinauf. Oben angekommen stand
schon der Anführer der Dogon bereit, und mit einem Lächeln
auf den Lippen, dass man glauben konnte, er würde von uns
persönlich zu einem General befördert werden.
Trotz alledem tat es den beiden gut, wieder
einmal außer sich selbst mit jemandem zu reden. Dann hob der
Anführer seine Hände und Norman und Katja bekamen einen
Applaus, der einem Staatsbesuch gleich kam. Verlegenheit, absolute
Verlegenheit machte sich bei den beiden breit. So langsam fand der
ausschweifende Applaus sein Ende.
»Gut, es ist gut, meine Brüder und
Schwestern. Hier, wie ihr alle sehen könnt, ist es soweit, sie
sind gekommen. Gekommen, um uns und unseren Planeten zu retten.«
Als Norman und Katja diesen und entscheidenden
Satz von dem Anführer hörten, sahen sie sich verdutzt an
und fragten sich, wie sie diesen Wesen überhaupt helfen
könnten. Noch wussten sie ja nicht, in was für
Schwierigkeiten sich die Dogon befanden. Es war ihnen offensichtlich
peinlich, jetzt und in dieser Situation einen öffentlichen
Rückzieher zu machen. Ja, es wurde richtig peinlich für die
beiden. Dann wandte sich der Anführer wieder Norman und Katja
zu. Und in der Halle wurde es wieder einmal totenstill.
»So, Norman und Katja, nochmals herzlich
willkommen bei uns. Setzt euch, sucht euch ein Plätzchen unter
euren neuen Freunden aus. Ich werde euch erzählen, wie es dazu
kam, dass wir unbedingt eure Hilfe benötigen. Und wie ihr uns
helfen könnt. Doch vergisst nie, es liegt in eurer Hand und
Macht, uns zu helfen. Niemand wird euch drängen oder gar
nötigen, wenn ihr euch anders entscheidet. Keiner wird euch
jemals böse deswegen sein. Es ist und wird ganz euer freier
Wille und eure freie Entscheidung bleiben.«
Dann gingen Norman und Katja auf die Ränge
zu und natürlich Lyr wieder voraus. Ganz wohl war ihnen bei
diesem Gang nicht, aber, so dachten sie, ist es ihre von Gott
gegebene Pflicht. Als sie dann in einer der ersten Reihen einen
Platz gefunden hatten, lauschten sie den Worten des Anführers,
so wie alle in dem Raum. Und so begann der Anführer zu
erzählen. Den Anfang kannten wir ja schon, als Lyr, das
Plappermaul mal wieder seinen Mund nicht zu halten vermochte. Dann
kam der Anführer endlich an einen Punkt der Norman und Katja
sehr interessierte. Nämlich, wie und warum sollen sie den Dogon
helfen.
»... So, und
sicher fragt ihr euch schon eine ganze Weile, wie ihr uns helfen
könnt und wodurch uns Gefahr droht. Auch dieses will ich euch
nun erzählen: Damals, als unsere Aussiedler, die wir auf deren
eigenen Wunsch wieder nach Goderijan zurückbrachten, auf
unserem und ihrem Heimatplaneten wieder angekommen und in unsere
Gesellschaft eingegliedert waren, erkrankten diese Aussiedler
zunehmend. Anfangs nur wenige, dann aber immer mehr, bis schließlich
alle die von der Erde kamen, schwer krank wurden. Es waren immerhin
Millionen, die an einer Krankheit litten, bei der wir nichts tun
konnten. Wir stellten natürlich Vorsichtsmaßnahmen auf,
indem wir diese armen Kranken von den Gesunden trennten. Es war
keine Krankheit, die sich in ihren Leibern verkroch. Nein, diese
Krankheit war von geistiger und seelischer Form. Trotz unseres
medizinischen Wissens und psychologischen Kenntnissen, auch die dazu
gehörende Technik, vermochten wir nicht diesen unseren
Brüdern und Schwestern zu helfen. Dann, eines Tages, kam das, wovor
wir uns seit vielen Generationen gefürchtet hatten. Diese
Krankheit, die wir inzwischen Gudami nannten, was soviel wie
die unendliche Traurigkeit oder gar Geist- und Seelen-Entzug
bedeutete, überfiel auch die Gemüter unserer gesunden
Dogon. Die, bei denen sich diese so schreckliche Krankheit erst einmal
sozusagen eingenistet hatte, überfiel eine unendliche
Traurigkeit, die bis zum Tode führte. Auch jene welche, die
hier auf Goderijan geboren wurden, bekamen die gleichen
Krankheitsanzeichen, obwohl sie niemals mit eurer Erde in Berührung
gekomen waren. Die Katastrophe war im eigentlichen Sinne nicht zu berechnen
oder gar vorherzusehen, wann genau sie zuschlagen würde.
Inzwischen sind zwanzig Prozent unserer Bewohner auf Goderijan
schwer krank, Tendenz steigend. Zwei Prozent sind schon an Kummer
und Traurigkeit gestorben. Tja, und wenn die Krankheit weiterhin
mit einer solchen Geschwindigkeit voranschreitet, wird Sie wohl
früher oder später die anderen achzig Prozent auch
anstecken. Wie auch immer, ich hoffe doch, dass die wenigen, die sich
hier an Bord befinden, wenigstens lange genug verschont werden, bis
wir mit eurer Hilfe die Heilung erlangen.«
Ihr seid die einzigen, die uns helfen können.
Dann hob Norman seine rechte Hand hoch - als
säße er in der Schule mit der Bitte, seinem Lehrer eine
Frage stellen zu dürfen - man spürte förmlich Normans
Ungeduld.
Leicht verstimmt unterbrach der Anführer seine wichtige Rede.
»Ja Norman, du wolltest mir etwas sagen?«
Und Norman zögerte anfangs noch.
»Verzeihen Sie mir bitte diese
Unterbrechung, ich kenne auch nicht ihren Namen. Daher hoffe ich
inständig, dass Sie mir nicht böse sind, wenn ich Sie
einfach Anführer nenne. Sie sind, wie mir scheint, der einzige,
der meine Sprache perfekt spricht. Deshalb glaube ich, dass Sie mich
am ehesten verstehen werden, wenn ich ihnen eine Frage stelle.«
Norman wurde knallrot und wartete auf eine Reaktion des von ihm
ernannten Anführers.
»Aber gewiss Norman, sprich, habe keine Hemmungen.«
»Nun gut,
wie kommen Sie darauf, dass Katja und meine Wenigkeit Ihnen und Ihrem
ganzen Volk helfen könnten. Ich meine, wir wissen nichts von
ihrer Krankheit. Wir sind auch keine Psychologen oder ausgebildete
Ärzte in irgendeinem dieser Fächer, wirklich nicht. So
leid es mir tut, ich und Katja sind zu allem bereit, wenn wir
wüssten, wie wir beide Ihnen und ihrem Volk helfen könnten.«
Mit beruhigender, leicht verzogener und lächelnder Mimik auf seinem Gesicht war der
Anführer offensichtlich von Normans Worten gerührt.
»Deine Milde und dein Mitleid für mein Volk in deinem
Herzen spricht für dich, Norman. Aber
dennoch wird uns dies nicht weiterhelfen und dessen seid euch
beide gewiss, ihr besitzt zwei Eigenschaften die wir, laut unseres
heiligen Xarmax, in euch tragt. Die erste ist von biologischer
Form und die zweite in Form einer in euch innewohnenden Macht.
Wenn wir beides von euch verschmelzen dürfen, so unser heiliger
Xarmax, sind die nächsten Generationen geheilt von dieser für
uns so schrecklichen Krankheit. Seid nicht ungeduldig, ich werde es
euch erzählen. Zu gegebener Zeit, wir wollen euch nicht
überanstrengen, ihr werdet wenn es soweit ist, eure ganze Kraft
brauchen um uns in unserem Unterfangen zu helfen. So, und nun dürft
ihr euch frei und unbeschwert in unserem Raumschiff bewegen. Ihr
wollt euch sicherlich erst ein bisschen frisch machen. Lyr, euer
treuer Diener und Berater wird euch auf Wunsch stets zur Seite
stehen. Folgt ihm nur, er wird euch erst einmal in eure Quartiere
bringen. Dann bis morgen Nachmittag, meine Lieben.«
Norman und Katja sahen sich an, als wolle
jeder von ihnen sagen, hoffentlich irrt sich dieser Anführer.
Sie hätten eine Kraft in sich, von der sie noch nichts ahnten?
Und was meinte er mit "in Biologischer Form". Verschmelzen wollen
sie diese beiden Eigenschaften.
Norman schauerte es bei dem Gedanken, wenn er an die Verschmelzung
dachte, denn er hatte einen ganz bestimmten Verdacht, was es
hinsichtlich der biologischer Form auf sich hatte. Er glaubte,
es sogar zu wissen. Doch seinen Verdacht, so dachte er, mochte er
noch eine gewisse Zeit für sich behalten. Es hatte zu diesem
Zeitpunkt keinen Sinn, Katja in Aufregung zu versetzen.
»Norman, ich dachte, es sei so dringend,
und nun geben sie uns noch bis morgen Nachmittag Zeit. Verstehst du
das?«
»Also Katja, das verstehe ich auch
nicht. Lyr, kannst du uns das mal erklären? Erst erklärt
ihr uns, dass es sich bei eurem Volk um Leben oder Tod handelt und
dann das?«
Lyr kam ganz dicht zu Norman heran, gefolgt von vielen Dogon, die es
offensichtlich nicht abwarten konnten, Norman und Katja zu begrüßen.
Und Lyr beugte sich zu Normans rechtem Ohr, um
ihm einige Worte ins Ohr zu flüstern.
»Beruhige dich doch Norman, du kannst
uns sowieso erst auf dem Planeten Goderijan helfen. Also würde
ich euch beiden einen Rat geben, wenn ihr es mir gestattet?«
Das klang nach Logik für Norman.
»Aber natürlich, Lyr.«
»So genießt es, genießt doch einfach
eure vorhandene Freizeit. Geht in eure Quartiere und reinigt eure
Körper mit Wasser, dann zeige ich euch beiden, wo es hier ein
ausgezeichnetes Essen gibt. Und zum Schluss geht doch einfach in die
Erholungsräume und lernt ein paar Freunde kennen, okay?«
»Tja, das ist zwar kein Rat, aber
immerhin eine gute Idee. Was sagst du dazu, Katja?«
Man sah Norman an, dass er von diesem Androiden,
den sie den Namen Lyr gegeben hatten, begeistert war.
»Ja, Norman, ist eine ausgezeichnete
Idee, eine Dusche, wie herrlich, ich weiß schon gar nicht mehr,
wie eine Dusche aussieht, geschweige denn, wie sich heißes
Wasser anfühlt. Und essen, ja essen, ich könnte einen
ganzen Elefanten mit Haut und Haaren verdrücken.«
Als Lyr den letzten Satz von Katja hörte, wurde er sichtlich
zappelig und sehr, sehr nachdenklich.
»Einen Elefanten mit Haut und Haaren
verdrücken?«, gab Lyr offensichtlich erregt zum Ausdruck.
Und gerade wollte Lyr diesen Ausdruck in Worte
fassen, als Katja geschickt seine Redewendung unterbrach. Nur allzu gut
kannten die beiden Lyr. Begann er erst einmal zu reden, war kein
Ende mehr abzusehen. Wahrlich, und dazu hatten die beiden an dem
heutigen Tag keine Lust, geschweige denn Geduld.
»Lyr, das ist auch nur eine unserer Redensarten, okay?«
»Ah, so ist das, nun gut, wenn ihr
wollt, bringe ich euch in eure Quartiere?«
»Gut reagiert, Katja.«,entgegnete Norman.
»Danke Norman.«, erwiderte Katja stolz.
Dann gingen sie, geführt von Lyr, dem
Androiden, in Richtung ihrer zugeteilten Quartiere, die angeblich
genauso aussehen sollten, wie ihr eigenes Zuhause. Norman und Katja
platzten vor Neugier, ob ihre Quartiere wirklich so aussehen wie zu
Hause. Und vor allem, so fragte sich Norman selber, wie die Dogon es
wohl fertig brachten, sich dieses Wissen anzueignen. Wieder einmal
gingen die drei durch ein Labyrinth von Gängen und Sälen,
bis Lyr schließlich vor einem dunklen Saal stehen blieb.
Norman und Katja staunten nicht schlecht, als
sie ins dunkle Nichts hineinschauten.
»Was soll das, Lyr, so sieht es aber
nicht nach meinem trauten Heim aus, oder was meinst du, Katja?«
»Ja, Norman, ich finde da hast du Recht,
das gefällt mir gar nicht.«, fügte Katja
verteidigend hinzu.
»Beruhigt euch doch, es ist doch die
Vorhalle.«
Und Lyr klatschte wieder einmal in seine Hände
und die dunkle Halle wurde hell erleuchtet. Dann traute Norman
seinen Augen nicht mehr. Es war das erste mal, dass Norman und
Katja Türen auf diesem Raumschiff zu Gesicht bekamen. Doch
diese Türen waren nicht irgendwelche.
»Moment mal, die eine Türe kenne ich
doch. Das gibt es doch nicht, das ist ja meine Türe. Das ist
meine Eingangstür von zuhause. Ja das ist sie, ich erkenne sie
ganz genau wieder. Oh Mann, ich hätte niemals gedacht, dass ich
mich einmal so sehr über diese Türe freuen würde.
Das ist doch verrückt, nicht wahr, Lyr?«
»Durchaus nicht, Norman.«, entgegnete Lyr.
Katja erging es genau so.
Aber Katja konnte sich irgendwie nicht so
richtig freuen. Norman wurde zusehends nachdenklicher.
»Was ist, freut ihr euch denn nicht
darüber?«, fragte Lyr, der es wieder einmal nicht verstand,
um was er hier ging.
»Nun, doch, Lyr.« All das ist
nichts wert, wenn meine Familie nicht bei mir ist.«
»Ich verstehe.«, sagte Lyr.
»Nein Lyr, ich glaube das tust du
nicht. Ich meine, was ist dieses nachgebildete Zuhause denn wert,
wenn ich abends hier eintrete und meine Familie nicht bei mir habe,
wenn ich meine Kinder nicht lachen, weinen, ja sogar streiten sehe.
Wenn ich meinem Weib nicht ein Lächeln schenken kann, das ein
Dankeschön für ihre ganze Mühe zum Ausdruck bringt.
Lyr, auch wir Menschen haben ein sehr enges Zugehörigkeitsgefühl,
wenn wir uns für einen Partner fürs Leben entschieden
haben.«, warf Norman ein.
»Ich und meine Schwester sind
sicherlich nicht undankbar, aber ich hoffe, dass du mich und Katja
verstehen kannst.«
Lyr machte einen Gesichtsausdruck, als
wollte er ihnen Glauben machen, dass er wirklich fähig sei, als
Androide bzw. künstlicher Dogon ein wirkliches Gefühl zu
zeigen.
Auch Katja fügte nichts mehr hinzu, weil zu diesem Punkt alles
gesagt war.
»In der Tat, ihr beide seid
außergewöhnliche und empfindsame Geschöpfe. Ich
fühle mit euch, dessen seid euch gewiss. Dennoch, diese Wünsche
kann ich euch beim besten Willen nicht erfüllen. So leid es mir
auch tut. Nun bin ich derjenige, der auf euer Verständnis
hofft. Nun geht hinein und seht euch um. Ich hole euch dann zur
Essensstunde ab.«
Norman guckte auf seine Uhr, die anscheinend
stehen geblieben war.
»Lyr, mein Bester, wann ist denn bei euch
Essenszeit?«
»Wir Dogon haben keine festgesetzten
Zeiten in der Nahrungsaufnahme. Also,
ich meine im eigentlichen Sinne, aber wir wissen, dass ihr in
bestimmten Zyklen Nahrung zu euch nehmt. Das ist also morgens,
mittags und schließlich abends. Wir dachten, dass wir feste
Zeiten für euch machen, an denen wir alle zusammen dinieren, solange ihr bei uns
seid. Das wäre dann acht Uhr morgens, zwölf
Uhr mittags und schließlich achtzehn Uhr abends. Ich hoffe,
dass es euch so recht ist.«
»Aber natürlich Lyr, wir fühlen uns geehrt.«
»Danke, ich werde eure Entscheidung
gleich weiterleiten. Ach, übrigens, eure Uhren funktionieren hier
nicht. Wegen des Magnetismus dem sie ausgesetzt sind. Aber das
werde ich euch wenn ihr wollt beim Essen erzählen.«
»Ja, das wäre prima.«, gab Norman zur Antwort,
den dieses Thema brennend interessierte.
Eigentlich interessierte Norman alles Technische auf diesem
Raumschiff und er beschloss schon vor seiner Reise, so viel wie
möglich von den Dogon zu lernen. Vielleicht ist etwas dabei,
was seinen Mitmenschen auf der Erde nützlich sein könnte.
Lyr blieb stehen. Es hatte den Anschein, dass
er noch auf irgendetwas wartete.
»Ist noch etwas, Lyr?«, fragte Katja drängend.
»Ja, dürfte ich noch um die
Bestellung für das heutige Abendessen bitten?«
Norman und Katja waren baff. Eigentlich, so
dachten sie, müssten sie die ganze Fahrt über Grünzeug
zu sich nehmen, da sie wussten, dass die Dogon absolute Vegetarier
waren. Aber dass sie sich irgendetwas bestellen konnten, wunderte sie
doch sehr.
»Bestellen? Du meinst, wir können
uns bestellen was wir wollen? Auf was wir gerade Lust haben?«
»Gewiss, wir haben für euch keine
Mühe gescheut, für euch im Vorfeld alles zu besorgen, was
ihr für eure Lebensweise benötigt. Schließlich
werden wir ja die nächsten, wenn wir nach eurer Zeitrechnung
gehen, Jahre zusammen verbringen.«
Lyr, das Plappermaul, bemerkte erst zu spät,
dass er sich mal wieder in die Nesseln gesetzt hatte. Diese Lange
Zeit hatte zwar am Ende der Reise, also wenn sie wieder nach Hause
kamen, keine sonderliche Bedeutung, da ja auf der Erde für sie
beide keine Zeit vergangen war, aber dennoch, im Bezug auf die
jetzige Realität auf dem Raumschiff wies sie durchaus Bedeutung auf.
Sie erlebten und fühlten die Zeit genauso lange auf dem
Raumschiff, wie daheim auf der Erde.
»Jahre, Lyr, was meinst du mit Jahre?«
»Oh, ich Plappermaul. Das wollten wir
euch doch schonend beibringen. Nun gut, ihr gebt ja sowieso keine
Ruhe, ehe ich euch nicht aufs Genauste aufgeklärt habe. Macht
euch darüber keine sonderlichen Gedanken. Wenn ihr mich fragt,
ob ihr dabei altern werdet: Nein. Wenn ihr mich fragt, ob sich etwas
bei euch zuhause verändern wird: Nein. Ihr werdet zu euren
Lieben nach Hause zurückkehren, als wärt ihr überhaupt
nicht weg gewesen. Und wenn ihr mich fragt, ob ihr euch bei eurer
Rückkehr an alles erlebte erinnern werdet, dann kann ich euch
beruhigen, weil wir diese Entscheidung euch überlassen.«
»Mann, das ist ja ein Ding.«, fügte noch Katja hinzu.
Und Norman war fassungslos vor Begeisterung und dennoch
nachdenklich.
»Ja, aber fürchtet ihr nicht, dass
wir alles über euch erzählen könnten.«
Eine durchaus kluge und berechtigte Frage, die von Norman kam.
»Norman, wer würde euch denn
glauben? Und wenn, wie wollt ihr uns in unserem Dasein stören.
Wir wissen definitiv, dass ihr Menschen noch sehr, sehr lange braucht,
bis ihr nur ein Zehntel des Wissens und der Technik beherrschen werdet, das
wir uns bereits angeeignet haben. Ich
wollte euch damit nicht beleidigen. Ihr Menschen besitzt durchaus
Vorzüge, von denen selbst wir noch etwas lernen könnten.«
Tja, eine durchaus korrekte und wahre These, die Lyr zu seinem
Besten gab.
»Also darf ich nun um die Bestellung
bitten.«, drängte Lyr auf eine höfliche Art und
Weise, dass man ihm nicht böse sein konnte.
»Nun, Katja, auf was hättest du denn
Appetit?«, fragte Norman.
»Ja, ich hätte jetzt Lust auf einen
riesig großen Salatteller mit ganz vielen Miesmuscheln. Und du
Norman?«
»Ich hätte jetzt auf ein schönes
fettes gebratenes Hühnchen Lust und dazu gebratene Kartoffeln
mit Eiern überbacken und dazu ein schönes kühles Glas
Bier.«
Norman wartete gespannt auf eine Verneinung von Lyr, aber er nickte
nur bejahend und ging des Weges.
»Mann, Katja, ich hätte eigentlich
mit einem "Nein" gerechnet. Die scheinen sich wohl doch sehr gut auf
unser Kommen vorbeireitet zu haben, nicht wahr?«
»Oh ja, Norman, da kann ich dir mit gutem
Gewissen beipflichten. Die haben an alles gedacht, bis, so scheint
es mir, aufs I-Tüpfelchen.«, aber dass finde ich richtig
nett von den Dogon.«
»Ich weiß nicht, Katja, das kommt
mir alles zu perfekt vor.«
»Ach, Norman, du und dein ewiges
Misstrauen. Sei doch froh, dass es uns so gut geht. Oder habe ich da
etwa Unrecht. Und außerdem, was sagen denn deine Ahnungen
darüber?«
»Das ist es ja gerade, was mich so
nervös macht, sie sagen mir gar nichts mehr, seit wir in dieser
Regenerationskammer waren. Das ist doch nicht normal, oder?«
»Doch Norman, das ist schon normal.
Meine Gefühle sagen mir, dass wir von den Dogon überhaupt
nichts zu befürchten haben. Es ist ein Volk kurz vor dem
Untergang, das verzweifelt um seine Existenz kämpft und unsere
Hilfe braucht. Und, verdammt noch mal, ich werde diesem Volk, sofern
es mir möglich ist, helfen, mit oder ohne dich.«
Katja wurde sichtlich etwas böse auf Norman, der nun etwas
beleidigt reagierte.
»Ist ja gut,
Katja, du brauchst dich doch deshalb nicht gleich so aufzuregen.
Sicherlich hast du Recht, es wird bestimmt alles sein gutes Ende
nehmen und das für beide Seiten.«
»So gefällst du mir wieder, Norman.
Und nun lass uns endlich in unsere Quartiere
gehen, ich brauche unbedingt eine heiße Dusche. Am besten wir
gehen gleichzeitig hinein.«
»Ist gut, Katja. Also, auf drei.«
Dann nahmen sie beide unter gegenseitiger
Beobachtung die Türklinken in die Hand und drückten sie
langsam und behutsam nach unten um, so wie eigentlich von zu Hause
gewohnt, die Türen zu öffnen.
Als erstes ging Norman hinein. Was er dann sah,
glich doch einem Wunder, tatsächlich, es sah haargenau wie zu
Hause aus. Das große Ölgemälde auf der rechten
Wandseite des Wohnzimmers, das man gleich nach dem kleinen Flur
erreichte. Und die alte Kommode, die er als Erbstück vor gut 15
Jahren von seiner verstorbenen Mutter erhalten hatte, befand sich
genau da, wo sie stehen sollte. Der etwas ältere Fernseher, den
er ständig mit seiner Antenne bei schlechtem Wetter ausrichten
musste, stand auch am rechten Fleck und das Familienbild, das am
Tag seiner Hochzeit von einem Fotografen aufgenommen wurde, befand
sich auch da, wo es sein sollte. Alles, ja einfach alles war
so, wie Norman seine Wohnung verlassen hatte. Selbst das
Abenteuerbuch, das er zuletzt gelesen hatte, lag noch aufgeschlagen
auf Seite 214 unverändert da. Norman hatte keinerlei
Schwierigkeiten, sich an all solche Kleinigkeiten zu erinnern, da er
ein fotografisches Gedächtnis besaß. Dann ging er in
Richtung Badezimmer. Auch hier war alles da, wo es sein sollte, die
giftgrüne Badewanne und sogar das Deospray, das er nach der
morgendlichen Toilette zu benutzen pflegte, war vorhanden, und wie
ihm auffiel, war es sogar schon benutzt worden. Dann ging er in
Richtung Kinderzimmer und öffnete behutsam dessen Türe.
Schwer wurde es ihm ums Herz, als er diesen Raum verlassen und stumm
vorfand. All diese vielen Spielsachen lagen da, wo sie zuletzt von
seinen Lieben Kindern herumgeworfen wurden.
Und Norman wieder mal im Selbstgespräch:
»Diese Rabauken, wie oft hatte ich sie
geschimpft, wenn sie ihre Spielsachen einfach durch das Zimmer
warfen und nicht mehr aufräumten.«
Und jetzt wünschte er sich, sie wären hier.
Obwohl Norman seine Familie
schrecklich vermisste, so war er doch begeistert von der Genauigkeit
der Dogon. Er musste unbedingt zu Katja gehen, die sich nebenan in
ihrem Quartier befand. Kaum hatte er seine Türe, die nach
draußen in den dunklen Vorraum führte, geöffnet, da
stieß er schon auf Katja, die er fast umrannte. Fast
gleichzeitig fanden sie die gleichen Worte.
»Hast du das gesehen, Norman?«, sprach Katja.
»Hast du das gesehen, Katja?«, sprach Norman.
»Oh, entschuldige Norman?«, aber du
musst dir unbedingt mein Quartier ansehen, ich glaube es einfach
nicht.«
»Ich glaube es dir ja, Katja, du, das
grenzt an Zauberei, nicht wahr?«
»Ja, Norman, du hast Recht, das grenzt an Zauberei.«
Ja, beide waren nicht nur erstaunt, dass die
Dogon so etwas überhaupt vollbringen konnten. Sondern, dass
ihnen klar wurde, wie wichtig sie doch für diese Wesen sein
mussten. Denn mit jeder neuen Erfahrung, die sie mit diesem
einzigartigem Volk machten, begriffen die beiden, dass sie eine enorm
wichtige Rolle im weltlichen Geschehen der Dogon spielten.
*
So gegen Abend bei Sarah und ihrem Vater:
Stephan genoss noch einige Zeit seinen kleinen
Erfolg, den er bei Günter Henning, seinem Freund und Taufpaten
seiner Tochter Sarah erlangt hatte. Dann stand er von seinem purpurroten
Sessel wieder auf und beschloss, seiner Tochter Sarah davon zu
berichten. So machte er sich auf den Weg zu Sarahs Zimmer. Dort
angekommen fing er gleich zu erzählen an.
»Liebes, darf ich eintreten?«
»Klar Papa, komm doch herein.«
»So, Kleines, ich habe meinen Freund,
deinen Taufpaten, telefonisch um den Finger wickeln können.«
»Günter ist eine gute Seele, er
meckert zwar gerne, aber für uns ist er doch immer da. Wie geht
es denn Günter?«, fügte Sarah noch hinzu.
»Oh ihm geht es gut. Übrigens, ich
soll dir von ihm einen schönen Gruß ausrichten.«
»Also, Papa, was hast du bei Günter
erreicht?«, fragte Sarah neugierig nach.
»Na ja, weißt du, Günter, dein Pate,
hat die Möglichkeit sich irgendeine Person auszusuchen und im
Computer zu checken. Wenn dann dieser jenige welche irgendwann
einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, dann bekommt Günter
es heraus. Und sei es nur ein kleiner Ladendiebstahl, der angezeigt
wurde. Nun, und ich habe Günter in diesem Bezug um einen kleinen
Gefallen gebeten.«
»Was hast du, Papa? Über wen willst
du denn Erkundigungen einziehen?«
Sarah hatte schon einen Verdacht, und dieser Gedanke gefiel ihr
überhaupt nicht.
Doch ihr Vater begann verlegen herumzudrucksen,
was Sarahs Verdacht erhärtete.
»Also, Papa, über wen hast du
Erkundigungen eingezogen?«, fragte Sarah drängend zum
wiederholten Male.
»Weißt du,
das dient nur zu deinem Schutz, Sarah. Ich lasse gerade über
diesen Peter Lenz und der Katja Moser Erkundigungen einziehen.«
Ja ,jetzt war der Groschen gefallen.
»Papa, was hast du dir dabei gedacht. Du
kennst diese Menschen doch gar nicht. Du kannst doch nicht einfach
in der Privatsphäre anderer und vielleicht friedliebender
Menschen herumspionieren. Weißt du denn nicht, dass das sogar
strafbar ist. Du verletzt ihre Privatsphäre und
darüberhinaus auch noch das Datenschutzgesetz. Und was ist, wenn es
herauskommt? Wie stehen wir denn dann da. Alle in unserer
Nachbarschaft werden sich ihre Mäuler über uns zerreißen
und uns elende Schnüffler nennen. Papa, das hätte ich
niemals von dir gedacht.«
»Weißt du, ich wollte nur auf Nummer
sicher gehen. Ich wollte vermeiden, dass du vielleicht an einen
Scharlatan gerätst. Ich hoffe, Liebes, dass du mir das nicht
ganz so übel nimmst, dann würde ich sofort den Auftrag, den ich
Günter gab, zurücknehmen. Ich verspreche es dir.«
Einen Moment lang dachte Sarah nach und kam zu
dem Entschluss, dass es vielleicht doch nicht so falsch sein konnte,
über einen Menschen, den man nicht kennt, Bescheid zu wissen.
Schaden kann es eigentlich niemanden.
»Lass nur, Papa, vielleicht hast du ja
Recht. Lassen wir doch Günter ein bisschen über die beiden
nachforschen, einverstanden, Papa?«
»Ja Sarah, und es ist dir wirklich recht,
ich meine, du gibst doch nicht nur wegen mir nach, oder?«
Aber nein, Papa. Warum, sollte ich dir nicht
vertrauen?«
Stephan war sehr stolz auf seine Tochter.
»So, Sarah, ich glaube, dass es jetzt Zeit
ist, schlafen zu gehen. Es ist schon ziemlich spät geworden.«
»Ja, Papa, das ist eine gute Idee. Heute
können wir sowieso nichts mehr machen.«, fügte
Sarah sehr müde hinzu, und während ihre Augenlieder immer
schwerer wurden, bemerkte sie nicht einmal mehr, dass ihr Vater sie
aus ihrem Rollstuhl hob und in ihr Bett legte.
Und als er sie so sanft und mit einem
zufriedenen Lächeln schlafen sah, da kamen ihm die Bilder wie
in einen Traum vor Augen. Er sah sie wieder als kleines Kind und
noch bevor sie mit zwei Jahren diese Krankheit bekam. Eine Krankheit,
die sie für immer an den Rollstuhl fesselte. Und er erinnerte
sich, als sie zu laufen begann und durch den Garten tippelte. Ja es
fiel ihm schwer, zu begreifen, dass seine Tochter niemals mehr in
ihrem Leben ein normales Leben führen kann. Dieser Gedanke
brachte ihn öfter an den Rand der Verzweiflung. Und immer wieder
die selbe Frage: Warum ausgerechnet seine Sarah, warum, ja warum?
Das ließ in ihm die Frage nach dem Sinn des Ganzen wachsen. Nun,
die einzige Erkenntnis, die er seit dieser Zeit in Erfahrung bringen
konnte, war die, dass das Leben weitergehen wird und muss. Und
das mit oder ohne ihn. Dass es Menschen gibt, die viel kränker
und im Lebenskampf viel stärker sind als seine Tochter, was ihm
daraufhin immer wieder Mut schöpfen ließ und er von
Neuem begann. Daran zu glauben begann, dass es vielleicht einmal ein
Wunder für seine Tochter geben könnte. Vielleicht in Form
irgendeiner Wundermedizin oder vielleicht in Form einer neuen
Operation, die seine Tochter wieder heilen könnte. Er war nicht
nur ein sensibler Träumer, vielmehr war Stephan auch ein
knallharter Geschäftsmann, der nach außen hin nichts und
niemanden, das nicht mit dem Geschäft zu tun hatte, an sich
heran ließ. Dennoch, für seine Sarah war er bereit, alles
zu tun. Wie so viele Väter, die ein solches Schicksal mit
ihren Kindern ereilte, fühlte auch er sich irgendwie
mitschuldig. Dann ging Stephan in sein Arbeitszimmer und setzte sich
in seinen purpurroten Sessel und begann, mit ihm zu schaukeln. Wie an
so vielen Abenden, so betete er auch heute für seine Tochter.
Und wie an so vielen Abenden suchte er nach einem Warum und nach dem
Sinn des Lebens. Wie immer überkam ihn dann ein Gefühl der
Hilflosigkeit und Leere in seinem Herzen, die ihm in diesen
Augenblicken sehr zusetzten, was ihn dann öfter weinen ließ.
Er stand auf und sah dabei aus dem Fenster, das weit offen stand. Er
beobachtete den nächtlichen Himmel, der mit seinem
Sternenfirmament Gottes Zeugnis abzulegen schien. An solchen Tagen
spürte Stephan, wie grausam doch das Schicksal über
manche Menschen, über Familien, zuschlagen konnte. Aber nichts
desto trotz schienen ihn genau diese Gedanken zu festigen. Sie
machten ihn stark, weil Stephan eine kämpferische Natur war.
*
München. Freibergstr. 11, 6 Uhr 30, am nächsten Morgen,
14 Stunden nach dem Telefongespräch mit Sarahs Vater:
Wie schon einmal angesprochen, hatte Peter
noch eine Zweitwohnung in München, ungefähr 10 Kilometer
östlich von seiner Agentur. Diese zweite Wohnung benutzte
Peter nur unter der Woche zum Übernachten. An den Wochenenden,
Feiertagen oder im Urlaub wohnte er wie wir ja schon in Erfahrung
bringen konnten, in seinem Häuschen am See.
6 Uhr 30! Der Wecker klingelte zum an die Wand werfen.
Langsam und mit größter Ausdauer
griff Peter aus der Bettdecke in Richtung Wecker, der neben dem Bett,
auf dem er den Schlaf der Gerechten zu halten pflegte, auf dem
Nachtkästchen stand. Dann der Fund und tatsächlich ein
kurzer Wurf, dann ein dumpfer Knall und der Wecker landete an der
Wand. Tiefste Ruhe kehrte wieder in Peters Schlafzimmer ein. Dann
wieder ein schriller und zum verrücktwerden hässlich,
heulender und den letzen Nerv raubender Ton. Und wieder ein
mühseliger Griff, in gleicher Richtung und eine sich
ausstreckende Hand nach dem ruhestörenden Wecker. Doch diesmal
ein Griff ins Leere. Dann ein kurzer Gedanke unter der Decke und
Peter war wach und kampfbereit für einen neuen Tag. Ein
Stolpern, ein Getrampel und einige schleppende und quälende
Schritte unter die rettende Dusche und Peter war der Alte. Peter
hatte zwei Wecker, einen auf dem Nachttisch und einen in etwa drei
Metern am inneren Fensterbrett positionierter laut heulender
elektronischer Wecker. Einen von den zwei Uhren musste Peter so
alle zwei bis drei Tage durch einen neuen ersetzen. Kein Wunder,
wenn er ihn jeden Morgen gegen die Wand warf. Peter wurde es
allmählich zu teuer, jeden zweiten oder dritten Tag einen neuen
Wecker zu kaufen. Also kam Susanne, seine Mitarbeiterin und Mädchen
für alles, auf die etwas weniger kostspielige Idee. Bei einem
Gespräch zwischen seinen Kollegen machte Susanne den rettenden
Vorschlag. Sie riet ihren Chef, doch alle Wecker außer
Reichweite vor seinem morgendlichen Zugriff in seinem Schlafzimmer
zu stellen. So war Norman gewissermaßen gezwungen aufzustehen,
um diese nervtötenden Uhren-Geräusche abzustellen. Was,
wie wir eben miterleben durften sich noch nicht erledigte. Peter war ein
ausgesprochener Morgenmuffel und das bis zur morgendlichen Dusche.
Er stand noch unter der Dusche, als sein Telefon klingelte. Diesen
Anruf kannte Peter, es war seine dritte und letzte Sicherheit, nicht
zu verschlafen. Susanne, die als einzige schon um 6 Uhr morgens in
der Agentur zu arbeiten begann und Kaffee aufbrühte, meldete
sich. Sie erledigte schon im Vorfeld die verschiedenen
Arbeitsschritte des Tages, die sie auf die Schreibtische verteilte
und gegebenenfalls Telefonanrufe annahm. Susanne hatte die Order,
Peters Telefon so lange klingeln zu lassen, bis er ran ging und ein
Lebenszeichen von sich gab.
»Mist noch mal, das ist Susanne, sie
hatte ich ganz vergessen.«
Und Peter schlug sich das lange Badetuch um
die Hüften, das an einem Haken an der Badtür hing.
Voller Schaum und triefnass stolperte er aus dem Badezimmer in
Richtung Telefon, das sich im Gang auf einem dafür geeigneten
Tisch befand.
»Ja doch, ja doch, ich komme ja schon.«,
eilte er im Selbstgespräch - als könnte dass Telefon
ihn verstehen - zu diesem Apparat hin. Endlich dort angekommen, hob
er sogleich den Hörer von der Gabel ab.
»Ich bin ja wach, Susanne?«
»Guten Morgen Chef, es ist 6 Uhr 45.
Morgenstunde hat Gold im Munde.«, gab Susanne mit freudigem
Ton von sich.
»Guten Morgen Susanne, alles klar bei
dir, irgendwelche besonderen Vorkommnisse?‟
»Nein, Che... Hä... Peter, keine
besonderen Vorkommnisse.«
Das war für Peter kein gutes Zeichen,
die Ruhe vor dem Sturm. Er konnte darauf gehen, dass, wenn der Tag
ruhig anging, er in Stress endete.
»OK, wenn Gregor kommt, soll er sich
sofort auf nen Ansturm vorbereiten. Also, bis nachher, Susanne.«,
sagte Peter.
»Ja, bis nachher, Peter.«, erwiderte Susanne.
Peter legte den Hörer wieder auf. Dann
zog er noch seine Jacke über, die im Flur an der Garderobe hing,
und sauste nach unten zu seinem Auto das gleich vor dem Haus stand.
*
Zur gleichen Zeit etwa 6 Uhr 53 in der Ruferstrasse 16:
Susanne befand sich noch alleine mit den
Vorbereitungen für diesen neuen Arbeitstag in der Agentur. Der
Kaffee war schon fertig aufgebrüht und in die einzelnen
Thermokannen gefüllt und in jedes Büro verteilt. Susanne
war bereits dabei, die Tassen auf die verschiedenen Schreibtischpulte
zu stellen, als das Fax sich mit einem Piepsen meldete.
»Ah, das Fax meldet sich. Mal sehen,
wer uns da eine Nachricht zukommen lässt.«
Und eilig ging Susanne in ihr Büro, wo
sich dass Faxgerät befand. Susanne begann laut für sich
vorzulesen.
»Es grüßt euch Mary Ritley von den Malediven - Stop -
Auftrag ausgeführt - Stop - Komme
mit der ersten Maschine nach Hause - Stop - Treffe so gegen Abend um
18 Uhr am Münchener Flughafen ein - Stop - Freue mich riesig,
euch wiederzusehen - Stop.
»Wau, endlich, die Mary kommt heute
zurück. Gott sei es gedankt! Da wird Peter sehr erleichtert
sein.«, gab Susanne im Selbstgespräch wieder.
Ja, da hatte Susanne nicht einmal so Unrecht.
Wie wir wissen, war Peter ein tüchtiger Geschäftsmann. Doch
ohne Mary war er ein Choleriker. Er wirkte zusehends hilflos und
angespannt. Doch wenn Mary im Hause war, strotzte er vor
Selbstsicherheit und Elan. Das lag daran, dass Marie ihm immer zur
Seite stand, wenn es mal Probleme gab. Der Rest der Crew stand ihm
ebenfalls zur Seite, aber Mary hatte immer die besten, und was noch
viel wichtiger für Peter war, die rettenden Ideen. Diese Ideen
fruchteten zu 90 Prozent immer. Wie schon mal angesprochen, war Mary
für Peter unentbehrlich. Am liebsten würde Peter Mary
nicht aus dem Haus lassen. Jedoch, um die Gelder zum Erhalt
der Agentur zu beschaffen, war nun mal Mary nicht zu ersetzten.
Einmal versuchte Peter es mit Gregor. Er schickte ihn nach
Frankreich, wo er sich mit einem Kunden treffen sollte. Das Treffen
fand zwar statt, aber der Auftrag ging verloren. Er brachte es in
den Gesprächsverhandlungen nicht fertig, den Kunden für die
Sache der Agentur zu überzeugen. Peter wusste, dass Gregor ein
ausgezeichneter Techniker und Elektroniker ist. Doch was
Gesprächsverhandlungen betraf, erwies er sich als
absoluter Laie. Was auch die nächsten Kunden bestätigten.
Susanne konnte sich noch genau daran erinnern, als vor ungefähr
zehn Jahren Mary zum ersten mal zur Tür in die Agentur hereinkam.
Peter war damals gerade beschäftigt, einen Kunden zu
beknien. Zwei Stunden lang dauerten schon die Verhandlungen mit
diesem Kunden und Peter war so weit wie am Anfang. Mary gab erst
Peter die Hand und stellte sich als neue Kollegin vor, dann strahlte
sie mit einem unvergleichlichen Lächeln den Kunden an, so dass
dieser gar keine andere Wahl mehr hatte, als sich irgendwie aus dem
Staube zu machen. Wie von einem Magneten angezogen und von einer
Aura, also von einer Ausstrahlung, beschenkt, ging sie mit diesem
Kunden ins gegenüberliegende Café. Peter trottete wie
ein kleines Kind, das seiner Mami nachtippelte, als letzter Mary
und dem Kunden hinterher. Dort im Café angekommen, setzten
sich alle Beteiligten an einen Tisch. Ein kleiner Aperitif und ein
wiederholtes Lächeln von Mary. Ein paar überzeugende Sätze,
und der Kunde hing zappelnd im Netz. Fortan war Peter von Mary
begeistert. Nach und nach wurde so Mary für Peter
unentbehrlich. Aber das außergewöhnlichste war für
Peter, dass Mary, seit sie in seiner Agentur arbeitete, nie einen
Auftrag verlor. Im Gegenteil, Mary steigerte ihre Aufträge von
Mal zu Mal. Je schwieriger ein Auftrag Peter erschien, desto
leichter ergatterte Mary diesen. Unglaublich, aber wahr. Mary Ritley
war in diesem Bezug für Peter ein geschäftliches Wunder,
ja sogar ein Phänomen.
Susanne beschloss, sofort Peter auf seinem Handy anzurufen, um ihm
sogleich diese Neuigkeit noch vor seiner Ankunft zu berichten.
»Wie war doch gleich seine Handynummer?
Ja, jetzt weiß ich sie wieder. Ich glaube fast, dass meine
Gehirnzellen so langsam einschlafen.« Und Susanne wählte
seine Nummer.
*
Zur gleichen Zeit bei Peter im Auto auf dem Weg in seine Agentur:
Peter hörte sich gerade seine neueste
Rock'n Roll Kassette an, die er sich letzte Woche als
Sonderangebot in einem Supermarkt gekauft hatte, als sein Handy
klingelte.
»Mist, wer ruft mich da in aller
Herrgottsfrühe an. Das darf doch nicht war sein.«,
sprach er laut vor sich hin.
Dann drückte Peter an seinem an der Freisprechanlage
angeschlossenem Handy auf den dazugehörenden Knopf und lauschte
gespannt.
»Ja, hier ist Peter Lenz, Sie wünschen?«
»Hier ist Susanne, Peter, entschuldige
bitte, dass ich dich während der Fahrt anrufe. Aber ich fand,
dass du als zweites die neue und freudige Nachricht hören
solltest.«
»Susanne, ich glaube du tickst nicht
richtig. Ich bin in drei Minuten da, kann denn das nicht bis dahin
warten?«
»Also, ich glaube nicht, Peter.«
»Na gut also, was ist denn geschehen,
Susanne?«, fragte Peter nach.
»Rate mal, wer uns heute eine Nachricht gefaxt hat?«
»Na wer schon, ich bin doch kein
Hellseher. Du, Susanne, ich bin schon vor der Agentur, komme gleich
zur Türe herein und gnade dir Gott, wenn das Gespräch
nichts wert ist, dann ziehe ich dir diese Kosten von deinem Gehalt
ab. Hast du mich verstanden?«
Dann stand Peter mit dem
Handy am Ohr in der Tür seiner Agentur und guckte axelzuckend mit einem
leicht irritierten Blick Susanne an.
»Mary kommt heute zurück.«
Als Peter diese frohe Botschaft hörte, fiel ihm sichtlich ein
Stein von seinem Herzen und aller Ärger war mit einem Mal von
ihm gefallen.
»Mary? Mary kommt heute?«,
versicherte sich Peter noch einmal.
Und selbst Gregor stand in der Tür seines
Büros und horchte auf. Man sah Susanne an, dass sie sich mit
Peter freute.
»Ja, Peter, hier lies es doch selbst nach.«
Freudig nahm Peter das Fax von Susanne mit
zittrigen Händen entgegen. Peter las die Frohe Botschaft.
»Na also, jetzt kann der morgige Tag
kommen. Wir sind wieder komplett. Mann, den Auftrag hatte sie sich
auch noch unter den Nagel gerissen. Tja, was für ein Weib.
Einfach großartig!«
Da kam Peter eine Idee.
»Sagt mal, was haltet ihr beiden davon,
wenn wir Mary mit einer Flasche Sekt empfangen, sie mag doch so
gerne... Wie hieß doch gleich dieser süße Sekt noch
mal?«, fragte Peter nach.
»Asti!«, antwortete Gregor auf die Frage.
»Ja, genau, Asti. Susanne, würdest
du so nett sein und zu Mittag diesen Sekt besorgen und bringe noch
einen dieser leckeren Kuchen mit und frische Erdbeeren. Wir machen
eine tolle Willkommensfeier für Mary. Wir holen sie alle heute
Abend um 18 Uhr vom Flughafen ab. Und ich meinte alle. Ihr bekommt
die Überstunden bezahlt. Punktum. Und reserviere bis Abend um
19 Uhr einen Tisch für fünf Personen im Restaurant
Schönberg. Hast du dir alles notiert, Susanne?« ,
vergewisserte sich Peter noch einmal.
»Aber klar doch, Chef.«
»Wie oft soll ich es dir eigentlich noch
sagen, nenne mich bitte nicht immer Chef? Irgendwann werde ich dir
den Mund zunähen, Susanne.«, fauchte er wieder einmal
Susanne an, die natürlich wieder einmal beleidigt ihren
Aufträgen nachging.
Dann ging wieder jeder seiner Aufgabe nach und
verschwand nach und nach in seinem Büro. Die Freude und
Aufregung legte sich allmählich wieder und der angestaute enge
Gang, der noch immer links und rechts mit unzähligen Kartons
vollgestopft bis an die Decke stand, wurde wieder von den
Angestellten seinem Ursprung mit den vielen Kartons überlassen.
Kapitel 5, Das Attentat
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
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