Zu den Grenzen des Planeten Goderijan

Science Fiction Roman von Peter Althammer

Kapitel 4

Reise in ferner Zeit

Norman und Katja schliefen noch den Schlaf der Gerechten. Und Norman durchlebte wieder einmal den gleichen Traum. Er sah das Klagen und Weinen der Dogon auf diesem wunderschönen und doch von einem grauen Schatten umhüllten Planeten. Abermals wurde es ihm schwer ums Herz, als er in die traurigen Gesichter dieser unbekannten Wesen blickte, die die Verzweiflung selbst widerspiegelten. Dieses eine Mal wollte Norman nicht mehr aus diesem immer wiederkehrenden Traum zurück. Er war bereit, bereit den eigentlichen Grund für so viel unendliche Traurigkeit zu finden und zu beseitigen. Katja erging es nicht anders. Sie wollte mit all ihrer geistigen Kraft Norman in ihrem Traum zu Hilfe kommen. Eigenartigerweise schienen die beiden in ihren Träumen zu verschmelzen, natürlich auf geistiger Ebene. Und es fiel ihr nicht schwer, Norman in ihrem Traum fragen zu stellen.

»Norman, Norman.«, flehte Katja in ihrem Traum nach ihm.

»Norman, kannst du mich hören?«

Und Norman hörte Katja, ja er wunderte sich nicht einmal darüber. Es war für ihn in diesem Augenblick eine ganz normale Sache. Es war, als wären Norman und Katja schon immer in ihren Träumen verschmolzen gewesen.

»Ja, Katja, ich kann dich hören.«

»Sag mal, sind wir wach oder schlafen wir? Ich kann dich nicht sehen, Norman, und ich kann auch nicht sagen wo ich bin.«, klang Katja sehr aufgeregt.

»Beruhige dich doch, Katja, ich weiß es doch auch nicht, außer den Traumbildern von dem Wehklagen dieser Wesen habe ich nichts gesehen. Ob wir träumen oder uns in der Realität befinden, kann ich dir auch nicht sagen. Eines ist jedoch sicher: Dieser Spuk, sofern es einer sein sollte, wird irgendwann einmal ein Ende finden. Deshalb, mach dir keine Sorgen, Schwesterchen.«, antwortete er mit einer Gelassenheit, als wäre es eine ganz normale Sache, dass sich beide zeitgleich in ihren Träumen treffen und unterhalten können.

Katja begann, in ihren Träumen zu schweigen und auf Normans Rat zu hören. Sie hatte von Anfang an nicht diese mentalen Fähigkeiten wie Norman. Dennoch, ohne sie wäre das eigentliche Ziel, nämlich den Dogon zu helfen, nicht möglich. Doch trotz alledem traten ihre menschlichen Unsicherheiten oft hervor.

»Es ist wunderbar, nicht wahr?«

»Ja, Norman, obwohl es mir Angst macht, ist es wunderbar, man fühlt sich nicht mehr so hilflos, wie in den meisten Träumen, wo einem keine Wahl bleibt und jeden Traum träumen muss, ohne ihn verändern zu können.«

»Du hast Recht, Katja, ich fühle sogar wie du dich fühlst. Ist das nicht grenzenlos?«

»Norman, es ist, als wäre ich eigentlich du, als hätten wir die Rollen getauscht.«

»Und mir scheint es so, als hätte ich deine Sinne. Wie findest du das, Katja?«

»Norman, ich wünschte, es nähme nie ein Ende.«, erwiderte Katja.

Was Norman und Katja nun erlebten, war die Gleichheit, mit der die Dogon lebten. Eine kollektive Einheit des Ganzen. Norman und Katja erlebten nicht nur eine chemische Veränderung für die enormen Geschwindigkeiten, die das Raumschiff bald aufnehmen wird, ja, sie durften für einige Augenblicke das Kollektiv erfahren, so zu fühlen wie sie, sich als Einheit des Ganzen zu empfinden. Zu begreifen, wenn nur eine Einheit sich in Trauer befand, alle diese Traurigkeit spürten, wenn ein Dogon litt, alle litten. Es mag sich für das nüchterne Denken des Menschen schrecklich anhören, auf eine andere Bewusstseinsebene, wie es die Dogon in vielen Jahrmilliarden lernten, zu vertrauen, für die seines Nächsten. Mit seines Nächsten Gleichheit zu leben, zu atmen, zu fühlen und wenn gar nötig zu opfern. Eine durchaus und für das Überleben der so komplexen Spezies, wie es die Dogon sind, sinnvolle und ganz andere Art der Erhaltung. Obwohl sie die gleichen Körper in einer Art Evolution erhielten, wie die des Menschen, waren doch große geistige Unterschiede vorhanden. Doch auch diese Gabe hatte ihren Preis. Der bei einer Nichteinhaltung des Einzelnen oder gar einem nicht vorhersehbaren Ereignis fatale Folgen mit sich führen würde. Dort bei den Dogon ging es nicht um Reichtümer oder Machtansprüche, für die sich die Menschen auf ihrem ach so kleinen Planeten gegenseitig dahinmordeten. Nein, im Gegenteil, hier ging es um ihre geistige und seelische Kraft, die die Dogon genau wie die Menschen zum Überleben brauchten. Und genau da lag der Dogon wunder Punkt. Sie konnten genau wie die Menschen seelisch und geistig zugrundegehen, wenn ihr seelisches Gleichgewicht durch irgendetwas Außergewöhnliches durcheinandergebracht wurde. Für Norman und Katja war es ein Gefühl der absoluten vollkommenen Geborgenheit. So war es ein schreckliches Gefühl, als der Prozess der Regenerationskammer beendet war. Beide fühlten eine schreckliche Leere in sich. Langsam aber behutsam öffnete Katja ihre Augen. Ein Seufzer der Unzufriedenheit hallte durch die Kammer der Regeneration. Auch Norman wollte nicht so recht aus diesem Traum zurück in die Wirklichkeit, zu sehr hatte er dieses Erlebnis genossen. Dann setzte sich Norman auf, um sich nach Katja umzusehen, die auch schon in Sitzhaltung saß.

»Mann, was für ein Traum. Ich bin mir sicher, dass du den gleichen hattest, Katja, oder?«

»Ja, Norman, ich hatte den gleichen Traum wie du. Was für ein Leben, was für ein Gleichnis der Gefühle diese Dogon doch besitzen. Da wir nun wissen, wie die Dogon zusammenleben und auf welcher Art sie sich mitteilen, freue ich mich schon auf ein baldiges und intensives Kennenlernen mit ihnen. Du nicht auch, Norman?«

»Ja, Katja, ich freue mich auch, ihre Bekanntschaft zu machen, ich bin auch sehr neugierig auf ihr technisches Wissen. Weißt du, vielleicht ist ja etwas dabei, was für uns Menschen nützlich sein kann. Was sagst du dazu Lyr?«, fragte Norman ihn, der bereits einige Schritte entfernt auf die beiden zu warten schien.

»Ja, das könnte durchaus sein, Norman. Aber ich bitte euch jetzt, mir zu folgen, wir müssen zu dem Empfang.«

»Empfang, Lyr? Was für ein Empfang denn?«

»Einen Empfang zu euren Ehren.«, antwortete Lyr voller Freude, dieses Ereignis als erster Verkünden zu dürfen.

»Oh, ein Empfang extra für uns, wie niedlich.«, äußerte sich Katja über diese Neuigkeit.

»Also, darf ich nun bitten, mir zu folgen.«

»Dann folgten die beiden dem Androiden Lyr. Wieder ging es durch unzählige Gänge, mal mussten sie viele Stufen auf- und mal wieder abgehen. Mal gingen sie lange Gänge nach links und mal wieder nach rechts, so dass sie sich wie in einem Irrgarten vorkamen, bis sie Lyr schließlich zu einer Art offenem Lift führte. Es war kein Lift im üblichen Sinne, so wie es Norman und Katja von ihrem Heimatplaneten her kannten. Nein, im Gegenteil, dieser Aufzug hatte es in sich. Es gab einen Boden, auf dem man stehen konnte. Doch dafür keine Wände die diesen Lift zu einem Kasten formen konnten. Nein, statt Wänden hatte er ringsherum eigenartige violette Lichtquellen, die von einem hohen Tonfall begleitet wurden.

»Keine Angst, es wird euch nichts geschehen, es sind Lichtquellen aus fester Materie, die euch nicht schaden können. So wie ihr sie aus eurer künstlichen Luftblase her kennt. Wie ihr seht, haben wir gelernt, mit unseren Rohstoffen sehr sparsam umzugehen.«

Dann gingen sie mit Lyr, dem Androiden, in den Fahrstuhl. Und während sie so aufwärts fuhren, bewunderten Norman und Katja weiterhin die Konstruktion der weiteren Etagen. Und Norman seufzte.

»Norman, hast du etwa Zweifel an unserem Vorhaben?«

»Ich dachte du könntest meine Gedanken lesen, Lyr?«

»Auf dem Schiff ist es uns allen außer dem hohen Rat nicht mehr gestattet, eure Gedanken zu lesen. Nur noch eure Sprache ist erlaubt.«

»Unsere Sprache? Ja, aber können denn abgesehen von dir die anderen Dogon alle unsere Sprache sprechen? Wie ich bei dir bemerkte, hattest du anfänglich einige Schwierigkeiten damit.«

»Natürlich haben fast alle einige Schwierigkeiten, die Sprachen unserer Urväter zu sprechen, weil sie nur noch zu Missionszwecken gelehrt wird, aber um sich zu unterhalten reicht es allemal.«

Norman traute seinen Ohren nicht, als er eindeutig hörte, wie Lyr seine Sprache als die Sprache ihrer Urzeitväter bezeichnete.

»Das gibt es doch nicht, Lyr, sagtest du die Sprache eurer Urzeitväter?«

»Ach, ich Plappermaul, das hättet ihr doch erst im Empfangsraum erfahren sollen. Na ja, ich hoffe, ihr werdet mich nicht verraten, sonst komme ich auf den Schrottplatz der Androiden.«

»Bestimmt nicht, Lyr, nun erzähl mal, was du damit meintest.«

Dann hielt Lyr den Lift an, indem er leicht in seine Hände klatschte.

»Nun gut, da es euer Wunsch ist, will ich mal nicht so sein. Und damit ihr besser verstehen lernt, werde ich es ein bisschen genauer erzählen.«

»Nun, mit Urvätern meinte ich, dass wir einst eine zeitlang auf der Erde, auf eurem Planeten zu Hause waren. Dort waren wir auf allen Kontinenten vertreten, die aber damals ganz anders formiert waren als sie es heute sind. Es gab damals nur drei Kontinente und nicht fünf, wie es heute der Fall ist. Damals lebten wir in Frieden und in völliger Harmonie mit dem Planeten, den ihr heute Erde nennt. Er war noch jung und gewissermaßen unberührt. Wir lebten sehr tief unter der Erdoberfläche. Ganze Städte errichteten wir in den kommenden Jahrtausenden. Bis der Tag kam, an dem wir die Erde verlassen mussten. Gewaltige Eruptionen taten sich auf. Vulkane spien ihre enormen Massen ans Tageslicht, die Erdmassen zerbarsten unter dem enormen Druck, den sie durch die ständigen Reibungen der gespalteten Erdschichten ausgesetzt waren. Ein Meer von Magma und Lava erstreckte sich über riesige Landmassen, so dass es für alle Lebewesen, die sich an den gefährdeten Oberflächen befanden, unmöglich war zu überleben. Schuld daran waren die zahlreichen und aktiven Vulkane. Durch ihre ständigen Ausbrüche schleuderten sie gewaltige Massen an Staub gen Himmel, die sogar die Stratosphäre erreichten und dort quasi hängen blieben und nur sehr langsam entweichen konnten. Der Himmel verdunkelte sich und machte den Tag zur andauernden und ewigen Nacht. Der Grund dafür lag auf der Hand: Die Sonnenstrahlen, die eigentlich die Erde erwärmen sollten, um Leben überhaupt erst zu ermöglichen, erreichten die Erdoberfläche nicht mehr. Folglich hielt eine neue Eiszeit Einzug. Durch die ständige Kälte konnten sich viele Arten nicht mehr am Leben erhalten. Es gab nämlich viele Wechselblüter. Die wenigen, die dieser enormen Kälte trotzten, hatten es sehr schwer, Nahrung zu finden. Letztendlich verhungerten viele Arten, weil sie keine oder nur wenig Nahrung fanden oder gar ihr Organismus auf die Sonnenwärme angewiesen war. Doch zwei wilde Spezies konnten auch diese Katastrophen überleben, es waren zwei Gruppen der etwas anderen Art: Ihr nennt Sie heute den Neandertaler und den Homo sapiens. Diese zwei Randgruppen bewiesen sich in so vielen tausenden von Jahren durchaus als intelligente Wesen. Aber wie wir heute wissen, konnte sich letztendlich nur eine Gruppe bis zum heutigen Tag auf der rauen und in ihrer Entwicklung noch nicht vollendete Erde behaupten. Es war der Homo sapiens, der heutige Mensch. Die Neandertaler starben aus, doch die etwas intelligentere Art, nämlich eure Vorfahren, war der Homo sapiens. Er konnte sich bis heute erhalten und allen Naturgewalten, die sich ihm entgegensetzten, trotzen. Und das dank seiner raffinierten Erfindungsgaben und Anpassungsfähigkeit.«

Jetzt fragt ihr beiden euch sicherlich, warum wir von der Erde flüchten mussten, da wir ja weit unter der Erde lebten. Das liegt auf der Hand: Wir lebten nämlich von den Pflanzen, die auf der Erdoberfläche wuchsen und gediehen. Anfangs versuchten wir, das notwendigste an Nahrungsmitteln unter der Erde selbst anzubauen und zu züchten, was ja am Anfang ganz gut gelang. Bis dann der Tag kam, an dem wir entsetzt feststellen mussten, dass wir auf die Dauer zu wenig Platz dafür hatten, um so viel anbauen zu können. Wir mussten erkennen, dass es unmöglich war, auf die Dauer ein ganzes Volk, also Millionen von Dogon, ernähren zu können. Wir brauchten weitaus mehr als die noch primitiven Neandertaler, wie ihr sie heute zu nennen pflegt. Und die sich nicht nur von gewissen Pflanzen ernährten, sondern hauptsächlich von rohem Fleisch von den Tieren ernährten und wie wilde Tiere auf der Erdoberfläche in Höhlen hausten. Eure Urzeitväter waren im Gegensatz zu uns, die ja gezwungen waren, hauptsächlich unterirdisch zu leben, auf der Erdoberfläche flexibler. Wenn sie an einem bestimmten Ort nichts mehr Essbares fanden, na ja, dann zogen sie einfach weiter. Sie zogen so lange durch die noch begehbaren Landstriche, bis sie einen Ort fanden, an dem es noch reichlich an Pflanzen gab und so allerlei Getier erbeuten konnten. Wir dagegen waren an unseren, sagen wir einmal Untergrund, gebunden. Natürlich konnten wir für eine Weile an die Oberfläche, aber nicht für lange. Auch hierfür gab es einen Grund: Wir waren nicht so wild und anpassungsfähig wie eure Urzeitväter. Wir hätten diese Kälte und die Rohheit des Planeten Erde niemals überleben können. Zudem kam noch hinzu, dass wir absolute Vegetarier waren. Wir konnten uns also nur von Pflanzen ernähren. Nicht so wie zum Beispiel eure Urzeitväter, die den Vorteil an der Oberfläche auf ihrer Seite hatten, denn Sie konnten fast alles essen was ihnen vor die Füße kam. Sie waren wild und zäh, wie manche tierische Spezies, die bis heute überlebt hat in eurer modernen Zeit. Außer natürlich mal wieder meiner Wenigkeit, da ich, wie ihr schon wisst, ein Androide bin und überhaupt nichts zu mir nehme außer ab und zu eine bestimmte Form von Energie. Nein, wir brauchten sehr viel mehr. Und außerdem wuchsen unsere gezüchteten Pflanzen nicht so, wie wir es uns erhofft hatten. Schuld war das künstliche Licht. Es hatte nicht im Entferntesten die Eigenschaft eurer Sonne, so dass alle Arten kleinwüchsig blieben und nur ein Drittel an Ertrag brachten. Aber nicht nur das Problem der Ernährung tat sich auf. Da kam etwas später noch ein weit größeres Problem auf uns zu. Durch die ständigen Eruptionen, also auch unterirdische Plattenverschiebungen hatten wir sehr viele Erdbeben, die immer mehr unsere Städte zerstörten und viele tausende Opfer forderten. Nun, ihr könnt euch vorstellen, dass wir dort unten, egal wo, nie hätten überleben können. Doch glücklicherweise waren wir in Sachen technischen Fortschritts den anderen Lebewesen auf der Erdoberfläche weit, weit voraus. Wir hatten ja noch unser Wissen und das wiederum von unseren Urvätern, die uns damals Freiwilligen auf diesem Planeten aussetzten. Sie wollten sehen, ob es möglich war, auf diesem Planeten, wo ja schon Leben existierte, sich zu entwickeln und seine Art zu erhalten. Doch schließlich mussten wir einsehen, dass jeder Planet seine Eigenheit besaß und wir vor diesem Planeten Erde letztendlich kapitulieren mussten. Er war noch zu wild, zu rau und zu sehr beschäftigt, seiner Evolutionen zu folgen. Wir sandten einen Bericht auf unseren Planeten und wurden dann nach einer gewissen Zeit von einigen unseren Brüdern und Schwestern wieder nach Hause gebracht. So, und alles andere was ihr noch von uns erfahren möchtet, erzähle ich euch während der Rückfahrt zu unserem Planeten. Ich habe euch sowieso schon zu viel erzählt. Ich hoffe auf absolute Verschwiegenheit eurer Seite.«

Und Lyr klatschte abermals leicht in die Hände und sofort fuhr der Lift noch das letzte Stück bis in die vierte Etage. Uns fiel auf, dass es hier eigenartig still war. Lyr ging ein Stück voraus und blieb dann stehen. Dann drehte er sich langsam und behutsam um und gab ein sanftes Lächeln zu seinem Besten, was aber mit seinen stechenden bläulich schimmernden Augen nicht gerade beruhigend auf Norman und Katja einzuwirken schien.

»Seid doch nicht so nervös. Ah, sehr gut, wir sind gleich dort. So, da ist die Vorhalle zu dem Raum wo sich die Festlichkeit befindet. Der Empfangsraum befindet sich dort etwa noch 10 Meter gerade aus. Folgt mir, Norman und Katja?«

»Warum ist es so still hier, Lyr?«, fragte Norman berechtigterweise den Androiden.

»Nun, ich glaube, das liegt daran, dass sich alle zu euren Ehren im Empfangsraum aufhalten und jener ist absolut schallgeschützt. Ihr könnt also demnach nichts und niemanden hören. Meine Güte, seid ihr Erdlinge misstrauisch. Na ja, irgendwie kann ich euch ja verstehen. Ich hoffe, dass wir bald Freunde werden. Ich hoffe es zumindest.«

Ja, Lyr hatte Recht, Norman und Katja waren von Geburt an misstrauisch. Das zeichnet eben einen Menschen aus.

Dann noch einige Meter und Lyr blieb vor einer großen und schwarz schimmernden Lichtquelle stehen. Norman und Katjas Herzen rasten vor Aufregung. Was würde sie hinter dieser massiven Tür aus fester Lichtmaterie erwarten.

»Beruhigt euch doch. Ich versichere euch nochmals, es wird euch nichts geschehen. Es erwartet euch ein großer Empfang. Seid ihr so weit?«

»Norman, ich glaube, jetzt müssen wir in den Sauren Apfel beißen.«

»Ja, Katja, das werden wir wohl oder übel müssen. Gut, ich bin bereit.«

Beiden sahen zu Lyr und nickten ihm bejahend zu.

Dann klatschte Lyr zweimal in seine Hände und die große Lichtquelle begann sich langsam aufzulösen, bis die beiden schließlich in den riesigen Empfangsraum hineinsehen konnten. Lyr ging wie immer voran. Norman folgte ihm und Katja folgte Norman, so dass sich ihre Schritte wie ein Entenmarsch ansahen. Ja, fast wie ein Militärmarsch wirkte ihr hintereinander hergehen. Und während sie den großen Empfangsraum betraten, guckten sie sich nach allen Seiten gründlich um. Norman kam sich wie in einer Kirche vor. In der Mitte des Saales befand sich ein ungefähr fünf Meter breiter und bis zum Podest, hinter dem der Anführer protzig stand, ein langer ausgerollter Teppich aus samtgelbem Stoff. Links und rechts und bis nach vorne reihten sich die Sitzplätze, auf denen die Dogon in Reih und Glied völlig eingemummt saßen und ab und zu einen verstohlenem Blick auf die beiden warfen. Doch ihre Gesichter zeigten sie nicht dabei. Kein freundliches Lächeln, kein rührseliger Empfang, den Norman und Katja erwartete. Nach all den Strapazen hatten sie sich wenigstens eine schöne Willkommensfeier erhofft. Aber das war ihnen in diesen Augenblick auch nicht mehr so wichtig. Vielmehr beschäftigte sie die Frage, warum ausgerechnet sie auserwählt worden waren.

Sie kamen kurz vor dem Podest zum Stehen und blickten mit erhobenen Hauptes zu dem Anführer der Dogon, der auf dem Podest stand.

»Ah, endlich, endlich. Seid willkommen, meine Lieben. Lieber Norman und liebe Katja, mein Volk und meine Wenigkeit haben euch mit größter Ungeduld erwartet. Nun seid ihr endlich da. Ich kann euch gar nicht genug sagen, meine Freunde, wie sehr ich mich freue, euch gesund und munter hier bei uns zu sehen. Nun kommt hoch zu mir, ja kommt beide hoch zu mir, so dass die Besatzung vom Planeten Goderijan euch besser sehen und begrüßen kann.«

»Mann, der kann vielleicht schleimen.«, flüsterte Norman leise in Katjas Ohr.

»Da hast du Recht Norman, und ich dachte, dass es das nur bei uns auf der Erde gäbe.«, erwiderte im Gegenzug Katja.

Dann gingen die beiden die kleine Treppe, die sich wendelartig nach oben formierte, hinauf. Oben angekommen stand schon der Anführer der Dogon bereit, und mit einem Lächeln auf den Lippen, dass man glauben konnte, er würde von uns persönlich zu einem General befördert werden.

Trotz alledem tat es den beiden gut, wieder einmal außer sich selbst mit jemandem zu reden. Dann hob der Anführer seine Hände und Norman und Katja bekamen einen Applaus, der einem Staatsbesuch gleich kam. Verlegenheit, absolute Verlegenheit machte sich bei den beiden breit. So langsam fand der ausschweifende Applaus sein Ende.

»Gut, es ist gut, meine Brüder und Schwestern. Hier, wie ihr alle sehen könnt, ist es soweit, sie sind gekommen. Gekommen, um uns und unseren Planeten zu retten.«

Als Norman und Katja diesen und entscheidenden Satz von dem Anführer hörten, sahen sie sich verdutzt an und fragten sich, wie sie diesen Wesen überhaupt helfen könnten. Noch wussten sie ja nicht, in was für Schwierigkeiten sich die Dogon befanden. Es war ihnen offensichtlich peinlich, jetzt und in dieser Situation einen öffentlichen Rückzieher zu machen. Ja, es wurde richtig peinlich für die beiden. Dann wandte sich der Anführer wieder Norman und Katja zu. Und in der Halle wurde es wieder einmal totenstill.

»So, Norman und Katja, nochmals herzlich willkommen bei uns. Setzt euch, sucht euch ein Plätzchen unter euren neuen Freunden aus. Ich werde euch erzählen, wie es dazu kam, dass wir unbedingt eure Hilfe benötigen. Und wie ihr uns helfen könnt. Doch vergisst nie, es liegt in eurer Hand und Macht, uns zu helfen. Niemand wird euch drängen oder gar nötigen, wenn ihr euch anders entscheidet. Keiner wird euch jemals böse deswegen sein. Es ist und wird ganz euer freier Wille und eure freie Entscheidung bleiben.«

Dann gingen Norman und Katja auf die Ränge zu und natürlich Lyr wieder voraus. Ganz wohl war ihnen bei diesem Gang nicht, aber, so dachten sie, ist es ihre von Gott gegebene Pflicht. Als sie dann in einer der ersten Reihen einen Platz gefunden hatten, lauschten sie den Worten des Anführers, so wie alle in dem Raum. Und so begann der Anführer zu erzählen. Den Anfang kannten wir ja schon, als Lyr, das Plappermaul mal wieder seinen Mund nicht zu halten vermochte. Dann kam der Anführer endlich an einen Punkt der Norman und Katja sehr interessierte. Nämlich, wie und warum sollen sie den Dogon helfen.

»... So, und sicher fragt ihr euch schon eine ganze Weile, wie ihr uns helfen könnt und wodurch uns Gefahr droht. Auch dieses will ich euch nun erzählen: Damals, als unsere Aussiedler, die wir auf deren eigenen Wunsch wieder nach Goderijan zurückbrachten, auf unserem und ihrem Heimatplaneten wieder angekommen und in unsere Gesellschaft eingegliedert waren, erkrankten diese Aussiedler zunehmend. Anfangs nur wenige, dann aber immer mehr, bis schließlich alle die von der Erde kamen, schwer krank wurden. Es waren immerhin Millionen, die an einer Krankheit litten, bei der wir nichts tun konnten. Wir stellten natürlich Vorsichtsmaßnahmen auf, indem wir diese armen Kranken von den Gesunden trennten. Es war keine Krankheit, die sich in ihren Leibern verkroch. Nein, diese Krankheit war von geistiger und seelischer Form. Trotz unseres medizinischen Wissens und psychologischen Kenntnissen, auch die dazu gehörende Technik, vermochten wir nicht diesen unseren Brüdern und Schwestern zu helfen. Dann, eines Tages, kam das, wovor wir uns seit vielen Generationen gefürchtet hatten. Diese Krankheit, die wir inzwischen Gudami nannten, was soviel wie die unendliche Traurigkeit oder gar Geist- und Seelen-Entzug bedeutete, überfiel auch die Gemüter unserer gesunden Dogon. Die, bei denen sich diese so schreckliche Krankheit erst einmal sozusagen eingenistet hatte, überfiel eine unendliche Traurigkeit, die bis zum Tode führte. Auch jene welche, die hier auf Goderijan geboren wurden, bekamen die gleichen Krankheitsanzeichen, obwohl sie niemals mit eurer Erde in Berührung gekomen waren. Die Katastrophe war im eigentlichen Sinne nicht zu berechnen oder gar vorherzusehen, wann genau sie zuschlagen würde. Inzwischen sind zwanzig Prozent unserer Bewohner auf Goderijan schwer krank, Tendenz steigend. Zwei Prozent sind schon an Kummer und Traurigkeit gestorben. Tja, und wenn die Krankheit weiterhin mit einer solchen Geschwindigkeit voranschreitet, wird Sie wohl früher oder später die anderen achzig Prozent auch anstecken. Wie auch immer, ich hoffe doch, dass die wenigen, die sich hier an Bord befinden, wenigstens lange genug verschont werden, bis wir mit eurer Hilfe die Heilung erlangen.«

Ihr seid die einzigen, die uns helfen können.

Dann hob Norman seine rechte Hand hoch - als säße er in der Schule mit der Bitte, seinem Lehrer eine Frage stellen zu dürfen - man spürte förmlich Normans Ungeduld.

Leicht verstimmt unterbrach der Anführer seine wichtige Rede.

»Ja Norman, du wolltest mir etwas sagen?«

Und Norman zögerte anfangs noch.

»Verzeihen Sie mir bitte diese Unterbrechung, ich kenne auch nicht ihren Namen. Daher hoffe ich inständig, dass Sie mir nicht böse sind, wenn ich Sie einfach Anführer nenne. Sie sind, wie mir scheint, der einzige, der meine Sprache perfekt spricht. Deshalb glaube ich, dass Sie mich am ehesten verstehen werden, wenn ich ihnen eine Frage stelle.« Norman wurde knallrot und wartete auf eine Reaktion des von ihm ernannten Anführers.

»Aber gewiss Norman, sprich, habe keine Hemmungen.«

»Nun gut, wie kommen Sie darauf, dass Katja und meine Wenigkeit Ihnen und Ihrem ganzen Volk helfen könnten. Ich meine, wir wissen nichts von ihrer Krankheit. Wir sind auch keine Psychologen oder ausgebildete Ärzte in irgendeinem dieser Fächer, wirklich nicht. So leid es mir tut, ich und Katja sind zu allem bereit, wenn wir wüssten, wie wir beide Ihnen und ihrem Volk helfen könnten.«

Mit beruhigender, leicht verzogener und lächelnder Mimik auf seinem Gesicht war der Anführer offensichtlich von Normans Worten gerührt.

»Deine Milde und dein Mitleid für mein Volk in deinem Herzen spricht für dich, Norman. Aber dennoch wird uns dies nicht weiterhelfen und dessen seid euch beide gewiss, ihr besitzt zwei Eigenschaften die wir, laut unseres heiligen Xarmax, in euch tragt. Die erste ist von biologischer Form und die zweite in Form einer in euch innewohnenden Macht. Wenn wir beides von euch verschmelzen dürfen, so unser heiliger Xarmax, sind die nächsten Generationen geheilt von dieser für uns so schrecklichen Krankheit. Seid nicht ungeduldig, ich werde es euch erzählen. Zu gegebener Zeit, wir wollen euch nicht überanstrengen, ihr werdet wenn es soweit ist, eure ganze Kraft brauchen um uns in unserem Unterfangen zu helfen. So, und nun dürft ihr euch frei und unbeschwert in unserem Raumschiff bewegen. Ihr wollt euch sicherlich erst ein bisschen frisch machen. Lyr, euer treuer Diener und Berater wird euch auf Wunsch stets zur Seite stehen. Folgt ihm nur, er wird euch erst einmal in eure Quartiere bringen. Dann bis morgen Nachmittag, meine Lieben.«

Norman und Katja sahen sich an, als wolle jeder von ihnen sagen, hoffentlich irrt sich dieser Anführer. Sie hätten eine Kraft in sich, von der sie noch nichts ahnten? Und was meinte er mit "in Biologischer Form". Verschmelzen wollen sie diese beiden Eigenschaften.

Norman schauerte es bei dem Gedanken, wenn er an die Verschmelzung dachte, denn er hatte einen ganz bestimmten Verdacht, was es hinsichtlich der biologischer Form auf sich hatte. Er glaubte, es sogar zu wissen. Doch seinen Verdacht, so dachte er, mochte er noch eine gewisse Zeit für sich behalten. Es hatte zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn, Katja in Aufregung zu versetzen.

»Norman, ich dachte, es sei so dringend, und nun geben sie uns noch bis morgen Nachmittag Zeit. Verstehst du das?«

»Also Katja, das verstehe ich auch nicht. Lyr, kannst du uns das mal erklären? Erst erklärt ihr uns, dass es sich bei eurem Volk um Leben oder Tod handelt und dann das?«

Lyr kam ganz dicht zu Norman heran, gefolgt von vielen Dogon, die es offensichtlich nicht abwarten konnten, Norman und Katja zu begrüßen.

Und Lyr beugte sich zu Normans rechtem Ohr, um ihm einige Worte ins Ohr zu flüstern.

»Beruhige dich doch Norman, du kannst uns sowieso erst auf dem Planeten Goderijan helfen. Also würde ich euch beiden einen Rat geben, wenn ihr es mir gestattet?«

Das klang nach Logik für Norman.

»Aber natürlich, Lyr.«

»So genießt es, genießt doch einfach eure vorhandene Freizeit. Geht in eure Quartiere und reinigt eure Körper mit Wasser, dann zeige ich euch beiden, wo es hier ein ausgezeichnetes Essen gibt. Und zum Schluss geht doch einfach in die Erholungsräume und lernt ein paar Freunde kennen, okay?«

»Tja, das ist zwar kein Rat, aber immerhin eine gute Idee. Was sagst du dazu, Katja?«

Man sah Norman an, dass er von diesem Androiden, den sie den Namen Lyr gegeben hatten, begeistert war.

»Ja, Norman, ist eine ausgezeichnete Idee, eine Dusche, wie herrlich, ich weiß schon gar nicht mehr, wie eine Dusche aussieht, geschweige denn, wie sich heißes Wasser anfühlt. Und essen, ja essen, ich könnte einen ganzen Elefanten mit Haut und Haaren verdrücken.«

Als Lyr den letzten Satz von Katja hörte, wurde er sichtlich zappelig und sehr, sehr nachdenklich.

»Einen Elefanten mit Haut und Haaren verdrücken?«, gab Lyr offensichtlich erregt zum Ausdruck.

Und gerade wollte Lyr diesen Ausdruck in Worte fassen, als Katja geschickt seine Redewendung unterbrach. Nur allzu gut kannten die beiden Lyr. Begann er erst einmal zu reden, war kein Ende mehr abzusehen. Wahrlich, und dazu hatten die beiden an dem heutigen Tag keine Lust, geschweige denn Geduld.

»Lyr, das ist auch nur eine unserer Redensarten, okay?«

»Ah, so ist das, nun gut, wenn ihr wollt, bringe ich euch in eure Quartiere?«

»Gut reagiert, Katja.«,entgegnete Norman.

»Danke Norman.«, erwiderte Katja stolz.

Dann gingen sie, geführt von Lyr, dem Androiden, in Richtung ihrer zugeteilten Quartiere, die angeblich genauso aussehen sollten, wie ihr eigenes Zuhause. Norman und Katja platzten vor Neugier, ob ihre Quartiere wirklich so aussehen wie zu Hause. Und vor allem, so fragte sich Norman selber, wie die Dogon es wohl fertig brachten, sich dieses Wissen anzueignen. Wieder einmal gingen die drei durch ein Labyrinth von Gängen und Sälen, bis Lyr schließlich vor einem dunklen Saal stehen blieb.

Norman und Katja staunten nicht schlecht, als sie ins dunkle Nichts hineinschauten.

»Was soll das, Lyr, so sieht es aber nicht nach meinem trauten Heim aus, oder was meinst du, Katja?«

»Ja, Norman, ich finde da hast du Recht, das gefällt mir gar nicht.«, fügte Katja verteidigend hinzu.

»Beruhigt euch doch, es ist doch die Vorhalle.«

Und Lyr klatschte wieder einmal in seine Hände und die dunkle Halle wurde hell erleuchtet. Dann traute Norman seinen Augen nicht mehr. Es war das erste mal, dass Norman und Katja Türen auf diesem Raumschiff zu Gesicht bekamen. Doch diese Türen waren nicht irgendwelche.

»Moment mal, die eine Türe kenne ich doch. Das gibt es doch nicht, das ist ja meine Türe. Das ist meine Eingangstür von zuhause. Ja das ist sie, ich erkenne sie ganz genau wieder. Oh Mann, ich hätte niemals gedacht, dass ich mich einmal so sehr über diese Türe freuen würde. Das ist doch verrückt, nicht wahr, Lyr?«

»Durchaus nicht, Norman.«, entgegnete Lyr.

Katja erging es genau so.

Aber Katja konnte sich irgendwie nicht so richtig freuen. Norman wurde zusehends nachdenklicher.

»Was ist, freut ihr euch denn nicht darüber?«, fragte Lyr, der es wieder einmal nicht verstand, um was er hier ging.

»Nun, doch, Lyr.« All das ist nichts wert, wenn meine Familie nicht bei mir ist.«

»Ich verstehe.«, sagte Lyr.

»Nein Lyr, ich glaube das tust du nicht. Ich meine, was ist dieses nachgebildete Zuhause denn wert, wenn ich abends hier eintrete und meine Familie nicht bei mir habe, wenn ich meine Kinder nicht lachen, weinen, ja sogar streiten sehe. Wenn ich meinem Weib nicht ein Lächeln schenken kann, das ein Dankeschön für ihre ganze Mühe zum Ausdruck bringt. Lyr, auch wir Menschen haben ein sehr enges Zugehörigkeitsgefühl, wenn wir uns für einen Partner fürs Leben entschieden haben.«, warf Norman ein.

»Ich und meine Schwester sind sicherlich nicht undankbar, aber ich hoffe, dass du mich und Katja verstehen kannst.«

Lyr machte einen Gesichtsausdruck, als wollte er ihnen Glauben machen, dass er wirklich fähig sei, als Androide bzw. künstlicher Dogon ein wirkliches Gefühl zu zeigen.

Auch Katja fügte nichts mehr hinzu, weil zu diesem Punkt alles gesagt war.

»In der Tat, ihr beide seid außergewöhnliche und empfindsame Geschöpfe. Ich fühle mit euch, dessen seid euch gewiss. Dennoch, diese Wünsche kann ich euch beim besten Willen nicht erfüllen. So leid es mir auch tut. Nun bin ich derjenige, der auf euer Verständnis hofft. Nun geht hinein und seht euch um. Ich hole euch dann zur Essensstunde ab.«

Norman guckte auf seine Uhr, die anscheinend stehen geblieben war.

»Lyr, mein Bester, wann ist denn bei euch Essenszeit?«

»Wir Dogon haben keine festgesetzten Zeiten in der Nahrungsaufnahme. Also, ich meine im eigentlichen Sinne, aber wir wissen, dass ihr in bestimmten Zyklen Nahrung zu euch nehmt. Das ist also morgens, mittags und schließlich abends. Wir dachten, dass wir feste Zeiten für euch machen, an denen wir alle zusammen dinieren, solange ihr bei uns seid. Das wäre dann acht Uhr morgens, zwölf Uhr mittags und schließlich achtzehn Uhr abends. Ich hoffe, dass es euch so recht ist.«

»Aber natürlich Lyr, wir fühlen uns geehrt.«

»Danke, ich werde eure Entscheidung gleich weiterleiten. Ach, übrigens, eure Uhren funktionieren hier nicht. Wegen des Magnetismus dem sie ausgesetzt sind. Aber das werde ich euch wenn ihr wollt beim Essen erzählen.«

»Ja, das wäre prima.«, gab Norman zur Antwort, den dieses Thema brennend interessierte. Eigentlich interessierte Norman alles Technische auf diesem Raumschiff und er beschloss schon vor seiner Reise, so viel wie möglich von den Dogon zu lernen. Vielleicht ist etwas dabei, was seinen Mitmenschen auf der Erde nützlich sein könnte.

Lyr blieb stehen. Es hatte den Anschein, dass er noch auf irgendetwas wartete.

»Ist noch etwas, Lyr?«, fragte Katja drängend.

»Ja, dürfte ich noch um die Bestellung für das heutige Abendessen bitten?«

Norman und Katja waren baff. Eigentlich, so dachten sie, müssten sie die ganze Fahrt über Grünzeug zu sich nehmen, da sie wussten, dass die Dogon absolute Vegetarier waren. Aber dass sie sich irgendetwas bestellen konnten, wunderte sie doch sehr.

»Bestellen? Du meinst, wir können uns bestellen was wir wollen? Auf was wir gerade Lust haben?«

»Gewiss, wir haben für euch keine Mühe gescheut, für euch im Vorfeld alles zu besorgen, was ihr für eure Lebensweise benötigt. Schließlich werden wir ja die nächsten, wenn wir nach eurer Zeitrechnung gehen, Jahre zusammen verbringen.«

Lyr, das Plappermaul, bemerkte erst zu spät, dass er sich mal wieder in die Nesseln gesetzt hatte. Diese Lange Zeit hatte zwar am Ende der Reise, also wenn sie wieder nach Hause kamen, keine sonderliche Bedeutung, da ja auf der Erde für sie beide keine Zeit vergangen war, aber dennoch, im Bezug auf die jetzige Realität auf dem Raumschiff wies sie durchaus Bedeutung auf. Sie erlebten und fühlten die Zeit genauso lange auf dem Raumschiff, wie daheim auf der Erde.

»Jahre, Lyr, was meinst du mit Jahre?«

»Oh, ich Plappermaul. Das wollten wir euch doch schonend beibringen. Nun gut, ihr gebt ja sowieso keine Ruhe, ehe ich euch nicht aufs Genauste aufgeklärt habe. Macht euch darüber keine sonderlichen Gedanken. Wenn ihr mich fragt, ob ihr dabei altern werdet: Nein. Wenn ihr mich fragt, ob sich etwas bei euch zuhause verändern wird: Nein. Ihr werdet zu euren Lieben nach Hause zurückkehren, als wärt ihr überhaupt nicht weg gewesen. Und wenn ihr mich fragt, ob ihr euch bei eurer Rückkehr an alles erlebte erinnern werdet, dann kann ich euch beruhigen, weil wir diese Entscheidung euch überlassen.«

»Mann, das ist ja ein Ding.«, fügte noch Katja hinzu.

Und Norman war fassungslos vor Begeisterung und dennoch nachdenklich.

»Ja, aber fürchtet ihr nicht, dass wir alles über euch erzählen könnten.« Eine durchaus kluge und berechtigte Frage, die von Norman kam.

»Norman, wer würde euch denn glauben? Und wenn, wie wollt ihr uns in unserem Dasein stören. Wir wissen definitiv, dass ihr Menschen noch sehr, sehr lange braucht, bis ihr nur ein Zehntel des Wissens und der Technik beherrschen werdet, das wir uns bereits angeeignet haben. Ich wollte euch damit nicht beleidigen. Ihr Menschen besitzt durchaus Vorzüge, von denen selbst wir noch etwas lernen könnten.« Tja, eine durchaus korrekte und wahre These, die Lyr zu seinem Besten gab.

»Also darf ich nun um die Bestellung bitten.«, drängte Lyr auf eine höfliche Art und Weise, dass man ihm nicht böse sein konnte.

»Nun, Katja, auf was hättest du denn Appetit?«, fragte Norman.

»Ja, ich hätte jetzt Lust auf einen riesig großen Salatteller mit ganz vielen Miesmuscheln. Und du Norman?«

»Ich hätte jetzt auf ein schönes fettes gebratenes Hühnchen Lust und dazu gebratene Kartoffeln mit Eiern überbacken und dazu ein schönes kühles Glas Bier.«

Norman wartete gespannt auf eine Verneinung von Lyr, aber er nickte nur bejahend und ging des Weges.

»Mann, Katja, ich hätte eigentlich mit einem "Nein" gerechnet. Die scheinen sich wohl doch sehr gut auf unser Kommen vorbeireitet zu haben, nicht wahr?«

»Oh ja, Norman, da kann ich dir mit gutem Gewissen beipflichten. Die haben an alles gedacht, bis, so scheint es mir, aufs I-Tüpfelchen.«, aber dass finde ich richtig nett von den Dogon.«

»Ich weiß nicht, Katja, das kommt mir alles zu perfekt vor.«

»Ach, Norman, du und dein ewiges Misstrauen. Sei doch froh, dass es uns so gut geht. Oder habe ich da etwa Unrecht. Und außerdem, was sagen denn deine Ahnungen darüber?«

»Das ist es ja gerade, was mich so nervös macht, sie sagen mir gar nichts mehr, seit wir in dieser Regenerationskammer waren. Das ist doch nicht normal, oder?«

»Doch Norman, das ist schon normal. Meine Gefühle sagen mir, dass wir von den Dogon überhaupt nichts zu befürchten haben. Es ist ein Volk kurz vor dem Untergang, das verzweifelt um seine Existenz kämpft und unsere Hilfe braucht. Und, verdammt noch mal, ich werde diesem Volk, sofern es mir möglich ist, helfen, mit oder ohne dich.«

Katja wurde sichtlich etwas böse auf Norman, der nun etwas beleidigt reagierte.

»Ist ja gut, Katja, du brauchst dich doch deshalb nicht gleich so aufzuregen. Sicherlich hast du Recht, es wird bestimmt alles sein gutes Ende nehmen und das für beide Seiten.«

»So gefällst du mir wieder, Norman.

Und nun lass uns endlich in unsere Quartiere gehen, ich brauche unbedingt eine heiße Dusche. Am besten wir gehen gleichzeitig hinein.«

»Ist gut, Katja. Also, auf drei.«

Dann nahmen sie beide unter gegenseitiger Beobachtung die Türklinken in die Hand und drückten sie langsam und behutsam nach unten um, so wie eigentlich von zu Hause gewohnt, die Türen zu öffnen.

Als erstes ging Norman hinein. Was er dann sah, glich doch einem Wunder, tatsächlich, es sah haargenau wie zu Hause aus. Das große Ölgemälde auf der rechten Wandseite des Wohnzimmers, das man gleich nach dem kleinen Flur erreichte. Und die alte Kommode, die er als Erbstück vor gut 15 Jahren von seiner verstorbenen Mutter erhalten hatte, befand sich genau da, wo sie stehen sollte. Der etwas ältere Fernseher, den er ständig mit seiner Antenne bei schlechtem Wetter ausrichten musste, stand auch am rechten Fleck und das Familienbild, das am Tag seiner Hochzeit von einem Fotografen aufgenommen wurde, befand sich auch da, wo es sein sollte. Alles, ja einfach alles war so, wie Norman seine Wohnung verlassen hatte. Selbst das Abenteuerbuch, das er zuletzt gelesen hatte, lag noch aufgeschlagen auf Seite 214 unverändert da. Norman hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich an all solche Kleinigkeiten zu erinnern, da er ein fotografisches Gedächtnis besaß. Dann ging er in Richtung Badezimmer. Auch hier war alles da, wo es sein sollte, die giftgrüne Badewanne und sogar das Deospray, das er nach der morgendlichen Toilette zu benutzen pflegte, war vorhanden, und wie ihm auffiel, war es sogar schon benutzt worden. Dann ging er in Richtung Kinderzimmer und öffnete behutsam dessen Türe. Schwer wurde es ihm ums Herz, als er diesen Raum verlassen und stumm vorfand. All diese vielen Spielsachen lagen da, wo sie zuletzt von seinen Lieben Kindern herumgeworfen wurden.

Und Norman wieder mal im Selbstgespräch: »Diese Rabauken, wie oft hatte ich sie geschimpft, wenn sie ihre Spielsachen einfach durch das Zimmer warfen und nicht mehr aufräumten.«

Und jetzt wünschte er sich, sie wären hier.

Obwohl Norman seine Familie schrecklich vermisste, so war er doch begeistert von der Genauigkeit der Dogon. Er musste unbedingt zu Katja gehen, die sich nebenan in ihrem Quartier befand. Kaum hatte er seine Türe, die nach draußen in den dunklen Vorraum führte, geöffnet, da stieß er schon auf Katja, die er fast umrannte. Fast gleichzeitig fanden sie die gleichen Worte.

»Hast du das gesehen, Norman?«, sprach Katja.

»Hast du das gesehen, Katja?«, sprach Norman.

»Oh, entschuldige Norman?«, aber du musst dir unbedingt mein Quartier ansehen, ich glaube es einfach nicht.«

»Ich glaube es dir ja, Katja, du, das grenzt an Zauberei, nicht wahr?«

»Ja, Norman, du hast Recht, das grenzt an Zauberei.«

Ja, beide waren nicht nur erstaunt, dass die Dogon so etwas überhaupt vollbringen konnten. Sondern, dass ihnen klar wurde, wie wichtig sie doch für diese Wesen sein mussten. Denn mit jeder neuen Erfahrung, die sie mit diesem einzigartigem Volk machten, begriffen die beiden, dass sie eine enorm wichtige Rolle im weltlichen Geschehen der Dogon spielten.


*

So gegen Abend bei Sarah und ihrem Vater:
 

Stephan genoss noch einige Zeit seinen kleinen Erfolg, den er bei Günter Henning, seinem Freund und Taufpaten seiner Tochter Sarah erlangt hatte. Dann stand er von seinem purpurroten Sessel wieder auf und beschloss, seiner Tochter Sarah davon zu berichten. So machte er sich auf den Weg zu Sarahs Zimmer. Dort angekommen fing er gleich zu erzählen an.

»Liebes, darf ich eintreten?«

»Klar Papa, komm doch herein.«

»So, Kleines, ich habe meinen Freund, deinen Taufpaten, telefonisch um den Finger wickeln können.«

»Günter ist eine gute Seele, er meckert zwar gerne, aber für uns ist er doch immer da. Wie geht es denn Günter?«, fügte Sarah noch hinzu.

»Oh ihm geht es gut. Übrigens, ich soll dir von ihm einen schönen Gruß ausrichten.«

»Also, Papa, was hast du bei Günter erreicht?«, fragte Sarah neugierig nach.

»Na ja, weißt du, Günter, dein Pate, hat die Möglichkeit sich irgendeine Person auszusuchen und im Computer zu checken. Wenn dann dieser jenige welche irgendwann einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, dann bekommt Günter es heraus. Und sei es nur ein kleiner Ladendiebstahl, der angezeigt wurde. Nun, und ich habe Günter in diesem Bezug um einen kleinen Gefallen gebeten.«

»Was hast du, Papa? Über wen willst du denn Erkundigungen einziehen?«

Sarah hatte schon einen Verdacht, und dieser Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht.

Doch ihr Vater begann verlegen herumzudrucksen, was Sarahs Verdacht erhärtete.

»Also, Papa, über wen hast du Erkundigungen eingezogen?«, fragte Sarah drängend zum wiederholten Male.

»Weißt du, das dient nur zu deinem Schutz, Sarah. Ich lasse gerade über diesen Peter Lenz und der Katja Moser Erkundigungen einziehen.« Ja ,jetzt war der Groschen gefallen.

»Papa, was hast du dir dabei gedacht. Du kennst diese Menschen doch gar nicht. Du kannst doch nicht einfach in der Privatsphäre anderer und vielleicht friedliebender Menschen herumspionieren. Weißt du denn nicht, dass das sogar strafbar ist. Du verletzt ihre Privatsphäre und darüberhinaus auch noch das Datenschutzgesetz. Und was ist, wenn es herauskommt? Wie stehen wir denn dann da. Alle in unserer Nachbarschaft werden sich ihre Mäuler über uns zerreißen und uns elende Schnüffler nennen. Papa, das hätte ich niemals von dir gedacht.«

»Weißt du, ich wollte nur auf Nummer sicher gehen. Ich wollte vermeiden, dass du vielleicht an einen Scharlatan gerätst. Ich hoffe, Liebes, dass du mir das nicht ganz so übel nimmst, dann würde ich sofort den Auftrag, den ich Günter gab, zurücknehmen. Ich verspreche es dir.«

Einen Moment lang dachte Sarah nach und kam zu dem Entschluss, dass es vielleicht doch nicht so falsch sein konnte, über einen Menschen, den man nicht kennt, Bescheid zu wissen. Schaden kann es eigentlich niemanden.

»Lass nur, Papa, vielleicht hast du ja Recht. Lassen wir doch Günter ein bisschen über die beiden nachforschen, einverstanden, Papa?«

»Ja Sarah, und es ist dir wirklich recht, ich meine, du gibst doch nicht nur wegen mir nach, oder?«

Aber nein, Papa. Warum, sollte ich dir nicht vertrauen?«

Stephan war sehr stolz auf seine Tochter.

»So, Sarah, ich glaube, dass es jetzt Zeit ist, schlafen zu gehen. Es ist schon ziemlich spät geworden.«

»Ja, Papa, das ist eine gute Idee. Heute können wir sowieso nichts mehr machen.«, fügte Sarah sehr müde hinzu, und während ihre Augenlieder immer schwerer wurden, bemerkte sie nicht einmal mehr, dass ihr Vater sie aus ihrem Rollstuhl hob und in ihr Bett legte.

Und als er sie so sanft und mit einem zufriedenen Lächeln schlafen sah, da kamen ihm die Bilder wie in einen Traum vor Augen. Er sah sie wieder als kleines Kind und noch bevor sie mit zwei Jahren diese Krankheit bekam. Eine Krankheit, die sie für immer an den Rollstuhl fesselte. Und er erinnerte sich, als sie zu laufen begann und durch den Garten tippelte. Ja es fiel ihm schwer, zu begreifen, dass seine Tochter niemals mehr in ihrem Leben ein normales Leben führen kann. Dieser Gedanke brachte ihn öfter an den Rand der Verzweiflung. Und immer wieder die selbe Frage: Warum ausgerechnet seine Sarah, warum, ja warum? Das ließ in ihm die Frage nach dem Sinn des Ganzen wachsen. Nun, die einzige Erkenntnis, die er seit dieser Zeit in Erfahrung bringen konnte, war die, dass das Leben weitergehen wird und muss. Und das mit oder ohne ihn. Dass es Menschen gibt, die viel kränker und im Lebenskampf viel stärker sind als seine Tochter, was ihm daraufhin immer wieder Mut schöpfen ließ und er von Neuem begann. Daran zu glauben begann, dass es vielleicht einmal ein Wunder für seine Tochter geben könnte. Vielleicht in Form irgendeiner Wundermedizin oder vielleicht in Form einer neuen Operation, die seine Tochter wieder heilen könnte. Er war nicht nur ein sensibler Träumer, vielmehr war Stephan auch ein knallharter Geschäftsmann, der nach außen hin nichts und niemanden, das nicht mit dem Geschäft zu tun hatte, an sich heran ließ. Dennoch, für seine Sarah war er bereit, alles zu tun. Wie so viele Väter, die ein solches Schicksal mit ihren Kindern ereilte, fühlte auch er sich irgendwie mitschuldig. Dann ging Stephan in sein Arbeitszimmer und setzte sich in seinen purpurroten Sessel und begann, mit ihm zu schaukeln. Wie an so vielen Abenden, so betete er auch heute für seine Tochter. Und wie an so vielen Abenden suchte er nach einem Warum und nach dem Sinn des Lebens. Wie immer überkam ihn dann ein Gefühl der Hilflosigkeit und Leere in seinem Herzen, die ihm in diesen Augenblicken sehr zusetzten, was ihn dann öfter weinen ließ. Er stand auf und sah dabei aus dem Fenster, das weit offen stand. Er beobachtete den nächtlichen Himmel, der mit seinem Sternenfirmament Gottes Zeugnis abzulegen schien. An solchen Tagen spürte Stephan, wie grausam doch das Schicksal über manche Menschen, über Familien, zuschlagen konnte. Aber nichts desto trotz schienen ihn genau diese Gedanken zu festigen. Sie machten ihn stark, weil Stephan eine kämpferische Natur war.


*

München. Freibergstr. 11, 6 Uhr 30, am nächsten Morgen, 14 Stunden nach dem Telefongespräch mit Sarahs Vater:
 

Wie schon einmal angesprochen, hatte Peter noch eine Zweitwohnung in München, ungefähr 10 Kilometer östlich von seiner Agentur. Diese zweite Wohnung benutzte Peter nur unter der Woche zum Übernachten. An den Wochenenden, Feiertagen oder im Urlaub wohnte er wie wir ja schon in Erfahrung bringen konnten, in seinem Häuschen am See.

6 Uhr 30! Der Wecker klingelte zum an die Wand werfen.

Langsam und mit größter Ausdauer griff Peter aus der Bettdecke in Richtung Wecker, der neben dem Bett, auf dem er den Schlaf der Gerechten zu halten pflegte, auf dem Nachtkästchen stand. Dann der Fund und tatsächlich ein kurzer Wurf, dann ein dumpfer Knall und der Wecker landete an der Wand. Tiefste Ruhe kehrte wieder in Peters Schlafzimmer ein. Dann wieder ein schriller und zum verrücktwerden hässlich, heulender und den letzen Nerv raubender Ton. Und wieder ein mühseliger Griff, in gleicher Richtung und eine sich ausstreckende Hand nach dem ruhestörenden Wecker. Doch diesmal ein Griff ins Leere. Dann ein kurzer Gedanke unter der Decke und Peter war wach und kampfbereit für einen neuen Tag. Ein Stolpern, ein Getrampel und einige schleppende und quälende Schritte unter die rettende Dusche und Peter war der Alte. Peter hatte zwei Wecker, einen auf dem Nachttisch und einen in etwa drei Metern am inneren Fensterbrett positionierter laut heulender elektronischer Wecker. Einen von den zwei Uhren musste Peter so alle zwei bis drei Tage durch einen neuen ersetzen. Kein Wunder, wenn er ihn jeden Morgen gegen die Wand warf. Peter wurde es allmählich zu teuer, jeden zweiten oder dritten Tag einen neuen Wecker zu kaufen. Also kam Susanne, seine Mitarbeiterin und Mädchen für alles, auf die etwas weniger kostspielige Idee. Bei einem Gespräch zwischen seinen Kollegen machte Susanne den rettenden Vorschlag. Sie riet ihren Chef, doch alle Wecker außer Reichweite vor seinem morgendlichen Zugriff in seinem Schlafzimmer zu stellen. So war Norman gewissermaßen gezwungen aufzustehen, um diese nervtötenden Uhren-Geräusche abzustellen. Was, wie wir eben miterleben durften sich noch nicht erledigte. Peter war ein ausgesprochener Morgenmuffel und das bis zur morgendlichen Dusche. Er stand noch unter der Dusche, als sein Telefon klingelte. Diesen Anruf kannte Peter, es war seine dritte und letzte Sicherheit, nicht zu verschlafen. Susanne, die als einzige schon um 6 Uhr morgens in der Agentur zu arbeiten begann und Kaffee aufbrühte, meldete sich. Sie erledigte schon im Vorfeld die verschiedenen Arbeitsschritte des Tages, die sie auf die Schreibtische verteilte und gegebenenfalls Telefonanrufe annahm. Susanne hatte die Order, Peters Telefon so lange klingeln zu lassen, bis er ran ging und ein Lebenszeichen von sich gab.

»Mist noch mal, das ist Susanne, sie hatte ich ganz vergessen.«

Und Peter schlug sich das lange Badetuch um die Hüften, das an einem Haken an der Badtür hing. Voller Schaum und triefnass stolperte er aus dem Badezimmer in Richtung Telefon, das sich im Gang auf einem dafür geeigneten Tisch befand.

»Ja doch, ja doch, ich komme ja schon.«, eilte er im Selbstgespräch - als könnte dass Telefon ihn verstehen - zu diesem Apparat hin. Endlich dort angekommen, hob er sogleich den Hörer von der Gabel ab.

»Ich bin ja wach, Susanne?«

»Guten Morgen Chef, es ist 6 Uhr 45. Morgenstunde hat Gold im Munde.«, gab Susanne mit freudigem Ton von sich.

»Guten Morgen Susanne, alles klar bei dir, irgendwelche besonderen Vorkommnisse?‟

»Nein, Che... Hä... Peter, keine besonderen Vorkommnisse.«

Das war für Peter kein gutes Zeichen, die Ruhe vor dem Sturm. Er konnte darauf gehen, dass, wenn der Tag ruhig anging, er in Stress endete.

»OK, wenn Gregor kommt, soll er sich sofort auf nen Ansturm vorbereiten. Also, bis nachher, Susanne.«, sagte Peter.

»Ja, bis nachher, Peter.«, erwiderte Susanne.

Peter legte den Hörer wieder auf. Dann zog er noch seine Jacke über, die im Flur an der Garderobe hing, und sauste nach unten zu seinem Auto das gleich vor dem Haus stand.


*

Zur gleichen Zeit etwa 6 Uhr 53 in der Ruferstrasse 16:
 

Susanne befand sich noch alleine mit den Vorbereitungen für diesen neuen Arbeitstag in der Agentur. Der Kaffee war schon fertig aufgebrüht und in die einzelnen Thermokannen gefüllt und in jedes Büro verteilt. Susanne war bereits dabei, die Tassen auf die verschiedenen Schreibtischpulte zu stellen, als das Fax sich mit einem Piepsen meldete.

»Ah, das Fax meldet sich. Mal sehen, wer uns da eine Nachricht zukommen lässt.«

Und eilig ging Susanne in ihr Büro, wo sich dass Faxgerät befand. Susanne begann laut für sich vorzulesen.

»Es grüßt euch Mary Ritley von den Malediven - Stop - Auftrag ausgeführt - Stop - Komme mit der ersten Maschine nach Hause - Stop - Treffe so gegen Abend um 18 Uhr am Münchener Flughafen ein - Stop - Freue mich riesig, euch wiederzusehen - Stop.

»Wau, endlich, die Mary kommt heute zurück. Gott sei es gedankt! Da wird Peter sehr erleichtert sein.«, gab Susanne im Selbstgespräch wieder.

Ja, da hatte Susanne nicht einmal so Unrecht. Wie wir wissen, war Peter ein tüchtiger Geschäftsmann. Doch ohne Mary war er ein Choleriker. Er wirkte zusehends hilflos und angespannt. Doch wenn Mary im Hause war, strotzte er vor Selbstsicherheit und Elan. Das lag daran, dass Marie ihm immer zur Seite stand, wenn es mal Probleme gab. Der Rest der Crew stand ihm ebenfalls zur Seite, aber Mary hatte immer die besten, und was noch viel wichtiger für Peter war, die rettenden Ideen. Diese Ideen fruchteten zu 90 Prozent immer. Wie schon mal angesprochen, war Mary für Peter unentbehrlich. Am liebsten würde Peter Mary nicht aus dem Haus lassen. Jedoch, um die Gelder zum Erhalt der Agentur zu beschaffen, war nun mal Mary nicht zu ersetzten. Einmal versuchte Peter es mit Gregor. Er schickte ihn nach Frankreich, wo er sich mit einem Kunden treffen sollte. Das Treffen fand zwar statt, aber der Auftrag ging verloren. Er brachte es in den Gesprächsverhandlungen nicht fertig, den Kunden für die Sache der Agentur zu überzeugen. Peter wusste, dass Gregor ein ausgezeichneter Techniker und Elektroniker ist. Doch was Gesprächsverhandlungen betraf, erwies er sich als absoluter Laie. Was auch die nächsten Kunden bestätigten. Susanne konnte sich noch genau daran erinnern, als vor ungefähr zehn Jahren Mary zum ersten mal zur Tür in die Agentur hereinkam. Peter war damals gerade beschäftigt, einen Kunden zu beknien. Zwei Stunden lang dauerten schon die Verhandlungen mit diesem Kunden und Peter war so weit wie am Anfang. Mary gab erst Peter die Hand und stellte sich als neue Kollegin vor, dann strahlte sie mit einem unvergleichlichen Lächeln den Kunden an, so dass dieser gar keine andere Wahl mehr hatte, als sich irgendwie aus dem Staube zu machen. Wie von einem Magneten angezogen und von einer Aura, also von einer Ausstrahlung, beschenkt, ging sie mit diesem Kunden ins gegenüberliegende Café. Peter trottete wie ein kleines Kind, das seiner Mami nachtippelte, als letzter Mary und dem Kunden hinterher. Dort im Café angekommen, setzten sich alle Beteiligten an einen Tisch. Ein kleiner Aperitif und ein wiederholtes Lächeln von Mary. Ein paar überzeugende Sätze, und der Kunde hing zappelnd im Netz. Fortan war Peter von Mary begeistert. Nach und nach wurde so Mary für Peter unentbehrlich. Aber das außergewöhnlichste war für Peter, dass Mary, seit sie in seiner Agentur arbeitete, nie einen Auftrag verlor. Im Gegenteil, Mary steigerte ihre Aufträge von Mal zu Mal. Je schwieriger ein Auftrag Peter erschien, desto leichter ergatterte Mary diesen. Unglaublich, aber wahr. Mary Ritley war in diesem Bezug für Peter ein geschäftliches Wunder, ja sogar ein Phänomen.

Susanne beschloss, sofort Peter auf seinem Handy anzurufen, um ihm sogleich diese Neuigkeit noch vor seiner Ankunft zu berichten.

»Wie war doch gleich seine Handynummer? Ja, jetzt weiß ich sie wieder. Ich glaube fast, dass meine Gehirnzellen so langsam einschlafen.« Und Susanne wählte seine Nummer.


*

Zur gleichen Zeit bei Peter im Auto auf dem Weg in seine Agentur:
 

Peter hörte sich gerade seine neueste Rock'n Roll Kassette an, die er sich letzte Woche als Sonderangebot in einem Supermarkt gekauft hatte, als sein Handy klingelte.

»Mist, wer ruft mich da in aller Herrgottsfrühe an. Das darf doch nicht war sein.«, sprach er laut vor sich hin.

Dann drückte Peter an seinem an der Freisprechanlage angeschlossenem Handy auf den dazugehörenden Knopf und lauschte gespannt.

»Ja, hier ist Peter Lenz, Sie wünschen?«

»Hier ist Susanne, Peter, entschuldige bitte, dass ich dich während der Fahrt anrufe. Aber ich fand, dass du als zweites die neue und freudige Nachricht hören solltest.«

»Susanne, ich glaube du tickst nicht richtig. Ich bin in drei Minuten da, kann denn das nicht bis dahin warten?«

»Also, ich glaube nicht, Peter.«

»Na gut also, was ist denn geschehen, Susanne?«, fragte Peter nach.

»Rate mal, wer uns heute eine Nachricht gefaxt hat?«

»Na wer schon, ich bin doch kein Hellseher. Du, Susanne, ich bin schon vor der Agentur, komme gleich zur Türe herein und gnade dir Gott, wenn das Gespräch nichts wert ist, dann ziehe ich dir diese Kosten von deinem Gehalt ab. Hast du mich verstanden?«

Dann stand Peter mit dem Handy am Ohr in der Tür seiner Agentur und guckte axelzuckend mit einem leicht irritierten Blick Susanne an.

»Mary kommt heute zurück.« Als Peter diese frohe Botschaft hörte, fiel ihm sichtlich ein Stein von seinem Herzen und aller Ärger war mit einem Mal von ihm gefallen.

»Mary? Mary kommt heute?«, versicherte sich Peter noch einmal.

Und selbst Gregor stand in der Tür seines Büros und horchte auf. Man sah Susanne an, dass sie sich mit Peter freute.

»Ja, Peter, hier lies es doch selbst nach.«

Freudig nahm Peter das Fax von Susanne mit zittrigen Händen entgegen. Peter las die Frohe Botschaft.

»Na also, jetzt kann der morgige Tag kommen. Wir sind wieder komplett. Mann, den Auftrag hatte sie sich auch noch unter den Nagel gerissen. Tja, was für ein Weib. Einfach großartig!«

Da kam Peter eine Idee.

»Sagt mal, was haltet ihr beiden davon, wenn wir Mary mit einer Flasche Sekt empfangen, sie mag doch so gerne... Wie hieß doch gleich dieser süße Sekt noch mal?«, fragte Peter nach.

»Asti!«, antwortete Gregor auf die Frage.

»Ja, genau, Asti. Susanne, würdest du so nett sein und zu Mittag diesen Sekt besorgen und bringe noch einen dieser leckeren Kuchen mit und frische Erdbeeren. Wir machen eine tolle Willkommensfeier für Mary. Wir holen sie alle heute Abend um 18 Uhr vom Flughafen ab. Und ich meinte alle. Ihr bekommt die Überstunden bezahlt. Punktum. Und reserviere bis Abend um 19 Uhr einen Tisch für fünf Personen im Restaurant Schönberg. Hast du dir alles notiert, Susanne?« , vergewisserte sich Peter noch einmal.

»Aber klar doch, Chef.«

»Wie oft soll ich es dir eigentlich noch sagen, nenne mich bitte nicht immer Chef? Irgendwann werde ich dir den Mund zunähen, Susanne.«, fauchte er wieder einmal Susanne an, die natürlich wieder einmal beleidigt ihren Aufträgen nachging.

Dann ging wieder jeder seiner Aufgabe nach und verschwand nach und nach in seinem Büro. Die Freude und Aufregung legte sich allmählich wieder und der angestaute enge Gang, der noch immer links und rechts mit unzähligen Kartons vollgestopft bis an die Decke stand, wurde wieder von den Angestellten seinem Ursprung mit den vielen Kartons überlassen.



 Kapitel 5, Das Attentat

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© 2012 by Peter Althammer

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