Kapitel 5
Das Attentat
Zur gleichen Zeit auf den Malediven.
Mary hatte den von Erfolg gekrönten Tag gut
über die Runden gebracht. Die Koffer waren schon gepackt und an
der Rezeption zur Weiterreise an den Flughafen abgegeben.
Mary guckte auf ihre Uhr, die sie nicht wie
die meisten an ihrem linken Handgelenk trug, sondern an dem
rechten.
»So, alles erledigt. Den Auftrag hab ich fest in
meiner Tasche. Was mach ich jetzt, ich habe noch zwei Stunden Zeit bis
die Maschine abfliegt. Na dann gehe ich eben noch ein bisschen am
Strand spazieren.«, dachte sie sich gut gelaunt.
Mary griff in ihre Handtasche, von wo sie
ihre Sonnenbrille herauszog und setzte sie sich auf die Nase. Dann
ging sie mit kleinen und anscheinend gelangweilten Schritten in
Richtung Hotelhalle, wo sich die Ausgänge befanden. Als Mary
nun endlich unten in der Empfangshalle ankam, wurde sie von einem
unangenehmen Gefühl gepackt.
»Irgendetwas ist hier im Busch, das kann ich meilenweit riechen.«
Sie hatte zudem ein außergewöhnliches
Gespür, wenn es ums Geschäft ging. Instinktiv bekam sie
ein beklemmendes Gefühl, wenn sich eine Geschichte anbahnte.
Mary blieb wie von einem Magneten angezogen in der Halle vor dem
Ausgang stehen. Sie wurde sichtlich nervös. Dann sah sie sich
neugierig in der Halle um. Doch es war nichts zu erkennen, was auf
etwas ungewöhnliches hingewiesen hätte. Kurzer Hand
entschloss sie sich, auf einer der Sitzgelegenheiten, die in der
Empfangshalle bereitstanden, Platz zu nehmen und dort aufmerksam das
Treiben der Leute im Bereich der Eingangstüren und Ausgängen
zu beobachten.
»Das gibt es doch gar nicht, ich kann nichts
entdecken. Sollte mich meine Intuition das erste Mal täuschen?
Nun, ich warte noch ein bisschen dann gehe ich wie geplant, an den
Strand.«, dachte sie.
Mary beobachtete weiter. Mittlerweile begann
sie wie von geistiger Hand gelenkt jeden einzelnen der die Halle
verließ und betrat genauestens zu betrachten. Aber sie
verhielten sich nach ihrer Meinung ganz normal. Kein einziger, der
sich daneben verhielt. Alle waren gut gelaunt und aufmunternd
gestimmt. Dann stand Mary axelzuckend auf und hielt es für eine
Art Verstimmung ihres Gemüts.
»Ich glaube,
ich werde langsam alt.«, sprach sie selbstvorwerfend zu sich
und ging abermals Richtung Ausgang.
Kurz davor kam ein mächtig großer
Mann durch die sich ständig drehende Tür herein. Er
wirkte sehr hektisch und nervös, ja er wirkte wie ein Mensch,
der vor etwas Angst hatte. Man konnte es ihm ansehen, dass er vor
irgendetwas auf der Flucht war. Und Mary hielt längst ihre
Kamera in leicht gebeugter und versteckter Position bereit. Langsam
und behutsam wich sie etwas zur Seite, ging in sehr langsamen und
vorsichtigen Schritte rückwärts und stellte sich hinter
eine große Zierpalme, die neben den beiden Fahrstühlen
als Verschönerung protzte.
»Mann, dass der keinem auffällt. Der ist ja
vollkommen fertig. Ich glaube sogar, dass der bald explodiert, ja,
dass der bald durchdreht.«, dachte sie.
Und kaum dachte sie das zu Ende, da zog der
junge Mann eine Pistole aus seiner linken Jackentasche.
»Ich werde euch alle umbringen, ich
werde euch töten. Ich hasse euch alle. Habt ihr gehört?
Ich werde euch alle töten.«, schrie der etwas zu groß
gewachsene und noch recht junge Mann, der außer sich vor
angestauter Wut und Angst war, durch die Empfangshalle.
»Oh Mann, oh Manna, ich glaube ich werd nicht
mehr. Der wird doch nicht schießen. Da, da ist ein Typ, der
wird doch nicht den Helden spielen wollen?«, dachte sie.
Mary hatte eine furchtbare Befürchtung,
denn hinter diesem durchgedrehten jungen Mann schlich sich ein
etwas kleinerer und nur mit einer Badehose bekleideter alter Mann mit
kahlem Kopf und einem Schnauzbart in gebückter Raubkatzen-Haltung
an den bewaffneten jungen Mann heran. Mit einem Blick
entdeckte der Bewaffnete den wahrscheinlichen Angreifer und
streckte ihn mit mehreren Schüssen nieder. Eine Kugel traf den
unbewaffneten Mann in den Kopf und ein Schuss in die Bauchgegend und
der letzte Schuss durchschlug seine linke Hand, prallte vermutlich
irgendwo an der Deckengegend ab und traf eine Frau, die bei den
Drohrufen des Täters schon vorzeitig auf dem Boden in Deckung
gegangen war, ins linke Bein, die natürlich alsgleich bis ins
Mark erschütternd fürchterlich zu schreien begann. Dann
ließ der Täter die Waffe fallen und rannte wie vom
Teufel gehetzt aus der Halle ins Freie hinaus und verschwand in den
Fluten des Tourismus. In Marys Gesicht zeichnete sich pure Angst und
verfärbte sich zu einem blassen Weiß, das man mit einem
Leichentuch verwechseln konnte.
»Oh mein Gott, und das habe ich alles auf der Kamera!«
Marys Knie zitterten, ihr ganzer Körper
vibrierte wie Espenlaub und das Stehen fiel ihr schwer. Ihr Puls
befand sich zu dieser Minute auf höchsten Touren. Langsam und
zögernd kam sie aus dem versteckten Winkel der Schattenseite
des zwei Meter großen Palmengewächses hervor. Da stand
sie nun mit gesenkter Haltung und der noch laufender Kamera in der
Hand. Mary bemerkte nicht einmal, wie viel Zeit seit der Tragödie
vergangen war. Denn als sie aus dem vermeintlichen Schock zu sich
kam, ziepte sie jemand an ihr leichtes und fast durchsichtiges Hemd,
mit der Aufforderung, ihm zu folgen. Erst nach nochmaligem Hhinsehen
bemerkte sie, dass es ein Polizist war, der sie darum gebeten hatte.
»Entschuldigen Sie, Sie sind doch die
Dame, die diese ganze Tragödie gesehen hat?«, fragte sie
der Polizist, der für einen Insulaner sehr gut Deutsch sprach.
»Hä was? Ja.«, antwortete
Mary noch zögernd und geschwächt von dem Schock den sie
durch dieses Erlebnis erlitten hatte.
Dann sah der Polizist nach unten auf ihre
rechte Hand und entdeckte die Filmkamera.
»Sagen Sie mal, sind Sie Journalistin?
Haben Sie vielleicht zufällig dieses Verbrechen aufgezeichnet?«,
fragte der Beamte Mary, die noch immer unter Schock stand.
»Würden Sie uns bitte begleiten?
Wir bräuchten eine Zeugenaussage von ihnen. Außerdem
haben wir vermutlich schon den Täter. Es wäre sehr schön,
wenn Sie alles auf dieser Kamera aufgezeichnet hätten. Sie
wären uns sehr behilflich damit. Kommen Sie jetzt mit uns.«
Noch immer hörte Mary die Stimme des
Polizisten, als wäre er weit weit weg von ihr, wie in einem
Echo. Dann beruhigte sie sich langsam wieder.
»Natürlich, entschuldigen Sie. Sie
wollen, dass ich eine Zeugenaussage mache?«
»Das wäre sehr nett von ihnen.
Allerdings können wir Sie auch dazu verpflichten.«
Das gefiel Mary überhaupt nicht, sie
könnte ja ihren Heimflug verpassen. Dieses Ereignis war für
Mary zwar kein Phänomen, das gewissermaßen ein Wunder
suchte, aber dennoch konnte ihr Verlag mit dieser Aufnahme etwas
anfangen. Dann kam noch erschwerend hinzu, dass diese Herren der
Polizei ihre Aufzeichnung von dem Mord einfach beschlagnahmen
würden. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ja eine
Zweite Aufnahme besaß. Mary war ein Profi und hatte folglich
eine spezielle Kamera. Sobald sie die Kamera einschaltete nahmen zwei
Kassetten die Ereignisse auf und nicht wie üblich eine. Aber
mehr dazu etwas später. Trotz alledem musste sie auf der Hut
sein. ihr einziger Gedanke war es nun, so schnell wie möglich
diese Aufnahme nach Hause in ihre Agentur zu bringen und noch bevor
es all die anderen Presse-Verlage aus anderen Quellen erfuhren.
Hinzu kommt noch, dass Mary nicht gerne auf ihre Profession
verzichtete. Zumindest müsste sie einen Anruf tätigen
können, damit Peter wenigstens mit einem Bericht der
Presseabteilung aufwarten konnte.
»Nicht nötig, Herr Polizist, dürfte
ich vorher noch schnell einen Anruf tätigen? Ich müsste
meine Mutter anrufen, dass ich einen Flug später komme.
Wissen Sie, die gute passt auf meine vier Kinder auf. Und, wenn ich
nicht pünktlich nach Hause komme, dann ruft sie gleich wieder
die ortsansässige Polizei an und zeigt mich als vermisst an.
Dass wollen wir doch unter allen Umständen vermeiden, nicht
wahr mein Lieber?«, eine gekonnte Notlüge und ein
schüchternes und unschuldiges Lächeln dem Polizisten
entgegen und die Sache war geritzt.
»Hm... Aber beeilen Sie sich. Und die Kamera bleibt derweilen bei mir.«
»Mist,«, dachte sie sich noch, »der hat, so glaube
ich, Lunte gerochen.«
Aber Mary flüsterte es leise vor sich hin,
dass der Polizist es nicht horen konnte.
»Was sagten Sie?«
»Hä nichts, ich bin nur noch etwas
durcheinander.«
»Ach so. Dann entschuldigen Sie bitte.
Das ist ja verständlich.«
Man muss aufpassen, der hat ja Augen und Ohren
wie ein Lux. Ich muss ihm glaubhaft machen, als wäre ich nur
ein Opfer des Zufalls. Ich kann ihm doch nicht erzählen, dass
ich eine Art Erleuchtung vor diesem Verbrechen hatte. Die stecken
mich glatt in die Klapsmühle oder Hängen mir eine gewisse
Mitschuld an. Nein, ich rufe an, berichte Peter so gut es nur geht
darüber und versuche an mein Ersatz-Aufzeichnungsband
heranzukommen.
*
Tja, das war Mary Ritley. Eine eiskalte und
berechnente Person, wenn es um ihren Job ging. Sie hatte nämlich
eine Spezial-Kamera. Sie war schon öfter in Situationen
geraten, wo man ihr beinahe die Aufzeichnungsbänder
konfisziert hätte. Deshalb lies sie sich eine Kamera bauen, bei der
nicht wie gewöhnlich eine, sondern ganze zwei Bänder
gleichzeitig das Geschehen aufzeichneten. Die zweite
Aufzeichnungskassette war so klein und so versteckt, dass man die
Kamera buchstäblich auseinandernehmen musste um sie zu
finden. Damit hatte sie schon einiges Filmmaterial retten können.
Mary ging an die Rezeption und lies sich ein Gespräch nach
Deutschland verbinden.
Während sie wartete, beobachtete der
Beamte Marys Verhalten genau. Gott sei Dank aus einer unhörbaren
Entfernung. Tja, dachte sich Mary, Höflichkeit ist alles.
Dann endlich.
»Miss Ritley, ihr Ferngespräch in
Kabine drei bitte.«, informierte der Page.
»Danke sehr, der Herr.«, und sie gab ihm
traditionell ein kleines Trinkgeld.
Mary ging in Kabine drei und hob den Hörer
von der Gabel. Dann wählte sie die besagte Nummer und wartete
gespannt, ja meldefreudig, dass jemand von der Agentur ans Telefon
ging.
*
Zur gleichen Zeit, in der Ruferstr. 16:
Susanne war mal wieder beschäftigt, für
die gesamte Crew Kaffee aufzubrühen.
»Grund gütiger, bin ich froh, wenn
Mary wieder da ist. Dann ist er wenigstens nicht so schlecht
gelaunt, dieser Choleriker.«
Ja, da hatte Susanne ausnahmsweise mal Recht.
Peter wurde ohne Mary von einer Existenzangst verfolgt, die schon mit
einer Schizophrenie zu vergleichen war. Er war unerträglich und
ließ seine Angst und Nervosität an Susanne aus. Jedes
Klingeln, und es klingelte sehr oft in den vier Büros der
Agentur, ließen ihm Schweißperlen auf der Stirn stehen.
Doch jetzt, wo er wusste, dass Mary wieder nach Hause kam, verhielt er
sich wie ausgewechselt. Er war urplötzlich ein ruhiger und
gemütlicher Mensch geworden.
Dann klingelte das Telefon von Susanne.
»Ja doch, ich komme ja schon. Meine Güte,
dieser Anrufer ist ganz schön hartnäckig.« leierte
Susanne gekonnt den Begrüßungssatz herunter.
»Susanne, ich bin es, Mary, Mary Ritley.«
Hoch erfreut nahm Susanne diese Begrüßung in sich auf.
»Mary, grüß dich. Ist was
geschehen? Wir haben dein Fax erhalten. Du kommst doch heute heim?«
Mary kam kaum zu Wort und musste etwas lauter unterbrechen.
»Susanne, hör doch mal zu, nicht
alles auf einmal. Lass mich doch erst Bericht erstatten, Okay?«
»Oh, entschuldige bitte, aber du kannst
dir nicht vorstellen, was hier alles los war, seit du auf den
Malediven bist.«
Mary bemerkte, dass Susanne am Ende ihrer
nervlichen Belastung angelangt war. Doch sie konnte ihr in diesem
Augenblick nicht zur Seite stehen, viel zu wichtig war nun dieser
Anruf, als dass sie sich Susannes Problemchen anhören könnte.
Sie wusste auch ohne dass sie es sagte, dass Susanne sich wieder einmal mit Peter
nicht vertragen konnte und vermutlich Schwierigkeiten mit ihm hatte.
»Susanne, sei mir nicht böse, aber
ich habe im Augenblick keine Zeit ein Schwätzen mit dir zu
halten. Und wenn du willst, dass ich bald wieder da bin, dann stelle
mich zu Peter durch und das sofort.«
Susanne war es eigentlich nicht gewohnt, von
Mary so abserviert zu werden, aber sie kannte sie genau. Mary
war nicht der Typ von Frau, die sich über alles aufregen musste. Sie
musste sich also in Schwierigkeiten befinden oder gar einer neuen
Geschichte auf der Spur sein. Sofort unterbrach Susanne ihr
Anliegen und stellte Mary gleich durch.
Peter saß gerade über seinem Jahresbericht, als Apparat 4 klingelte und ein gelbes Lämpchen
leuchtete. Das gelbe Lämpchen hatte die Bedeutung, dass
es ein sehr wichtiger und dringender Anruf von außen war und
dass Susanne den Anruf nicht erst vorab ankündigte. Peters Puls
schlug wieder einmal in die Höhe, als er das gelbe Lämpchen
aufleuchten sah.
»Mist, hätte es denn nicht bis
morgen Zeit gehabt. Zumindest bis Mary wieder da ist.«, sprach
Peter noch meckernd vor sich hin.
»Ja, Peter Lenz am Apparat.«
»Peter, mein Bester, ich bin es, Mary
Ritley?«, unterbrach sie Peter in seiner Wortführung.
»Mary, Mary, du, ich freue mich, deine
Stimme zu hören.«
»Peter, entschuldige bitte, dass ich so
telefonisch bei dir einfalle, aber es ist was dringendes dazwischengekommen.
Ich werde vermutlich den heutigen Heimflug auf morgen
verschieben müssen. Ich habe noch eine Geschichte an der Angel.
Es bleibt also nicht genug Zeit, dir alle Einzelheiten zu berichten.
Ich hoffe, dass du dass verstehst, Peter?«
Als Peter endlich begriff was Mary meinte, klingelte es bei ihm.
»Was noch eine Geschichte, Mary? Mann, das
ist ja prima. Du bist ein Schatz. Also kommst du heute gar nicht?
Weißt du, wir wollten dich vom Flughafen abholen und dich danach zum Essen
ins Schönberg einladen.«, sagte Peter, sich noch einmal
behauptend.
»Ah, wie schade, aber vermutlich schaffe
ich es nicht, du kennst ja mein Motto, das Geschäft geht vor.
Nun, ich habe hier noch ein paar Schwierigkeiten zu bewältigen.
Du, Peter, fast hätte ich es vergessen, dieses Mal kann ich dir
keine Ersatzkassette zusenden, ich werde sie dir persönlich
mitbringen...«
Und während Mary Peter erzählte, was
sich vor wenigen Minuten hier auf den Malediven, also in der
Empfangshalle in ihrem Hotel, dramatisches abgespielt hatte, kam der
Polizist zu ihr und klopfte ungeduldig an die Scheibe der
Telefonkabine.
»Also, vergiss nicht, Peter, sag bitte
der Presse, wir sind die einzigen, die das Drama auf Videoband
haben. So Peter, ich muss jetzt auflegen. Tschüss und bis auf
bald. Ah ja, die Feier können wir ja nachholen, wenn ich
spätestens morgen wieder zurück bin. Also, mach es gut
mein Schnuckelchen.«
Peter war sehr entzückt über das
letzte Wort von Mary. Begeisterung durchströhmte sein Gemüt.
Diese Story hatte zwar nichts mit Phänomenen zu tun, konnte aber
leicht an die Presse oder anderweitige Instutionen verkauft werden.
Doch trotz alledem machte sich Peter Sorgen um Mary und es war ihm
anzusehen, wie sich seine Freude in Angst umwandelte. So aufgeregt
hatte er seine treue Geschäftskollegin in all den Jahren noch
nicht erlebt.
»Susanne, Susanne?«, schrie Peter
wieder einmal nach ihr, die sogleich angerannt kam.
»Ja, Peter, was gibt es denn wichtiges.«
»Verbinde mich sofort mit dem Presseverlag Planet.«
»Mach ich,
Chef.«, gab Susanne kaugummikauend zu ihrem Besten und
stolperte förmlich in ihr Büro.
Peter saß wie auf Kohlen in seinem Büro
und wartete auf die Verbindung zu dem Presseverlag Planet. Dann,
endlich, klingelte dass Telefon.
»Ah, dass ging ja hurtig. Ich sage es ja
immer, Susanne ist unentbehrlich in solchen Situationen.«
Dann hob Peter den Hörer von Apparat drei ab.
Ȁh, ja, guten Tag, hier ist Peter
Lenz von der Agentur für rätselhafte Phänomene, kann
ich bitte den Herrn Ritter sprechen.«
»Einen Moment, Herr Lenz, ich verbinde
Sie.«
»Vielen Dank, sehr nett von ihnen.«
Und Peter wartete wieder. Er schaltete auf
Lautsprecher. Jetzt konnte er sich nicht mehr auf seinem Sessel
halten und begann in seinem Büro hin und her zu laufen.
»Hallo, bist du es Peter?«,
vernahm er eine ihm bekannte Stimme.
»Ja, ich bin es.«
»Mensch, Peter, wie geht es dir denn, hast
lang nichts mehr von dir hören lassen.«
» Ach, du weißt doch, Arbeit, Arbeit und
nichts als Arbeit, da bleibt am Ende für Freundschaften nicht
viel übrig. Und dir, ich hoffe doch, dass es dir noch immer
geschäftlich so gut geht wie eh und je, Simon?«
»Na ja, ich Nage zwar nicht am
Hungertuch, dennoch geht es eher schleppend bei uns zu, du weißt ja,
die Konkurrenz wird immer mächtiger. Da könnte eine gute
Story mal ruhig für frischen Geschäftswind sorgen.«
»Deswegen rufe ich ja an, bitte höre
mir jetzt genau zu, ich könnte dir eine heiße Story zu
den üblichen Bedingungen und Konditionen verkaufen, also horche
auf, mein Bester.«
Peter erzählte die ganze Story und machte
im Vorfeld das Geschäft klar. Er wusste, wenn Simon Ritter
sein Wort gab, hatte es Hand und Fuß und man konnte dies als
ein vertragliches Geschäft abschließend beglaubigen.
Mann, Peter, das ist genau das was ich jetzt
gebrauchen könnte. Wann sagtest du, bekäme ich das Band?«
»Ich schicke dir ne einwandfreie Kopie
von dem Ereignis, sobald Mary von den Malediven zurück ist, ich
schätze dass sie spätestens bis morgen Nachmittag
bei uns eintreffen wird. Ich werde das Material gleich nach Erhalt
per Eilboten zu dir senden, du müsstest die Ware dann
spätestens übermorgen haben.«
»Was, die Story ist von Mary, ich hoffe
Peter, dass du Mary Ritley meinst.«
»Aber natürlich Simon, ich meine
Mary Ritley.«
»Mann, wie geht es denn Mary? Hat sie noch
immer diesen Kampfgeist wie vor, na ja das letzte Mal sah ich sie
vor etwa fünf Jahren auf dieser riesigen Party in Köln,
hat sie diesen Kampfgeist noch?«, fragte Simon drängend nach.
»Aber klar doch, sie ist unverändert geblieben, unsere Mary.«,
antwortete Peter sehr stolz.
»Oh Gott, was für eine Frau. Ich
wünschte, ich hätte sie damals für mich gewinnen
können. Peter, du weißt doch, dass du mit dieser Frau den
Treffer deines Lebens hattest. Das ist dir doch bewusst, oder?«
»Aber natürlich weiß ich, dass Mary
ein Glückstreffer ist, das kannst du mir glauben, Simon, ich
hoffe, dass sie noch viele Jahre bei uns arbeitet.«
»Das kann ich mir vorstellen, Peter.
Aber nun gut, sobald das Material bei mir eingegangen ist,
überweise ich dir den vereinbarten Betrag, okay?«
»Bestens, Simon, und danke nochmals. Also,
mach es gut alter Haudegen.«
»Gut, mach es besser, mein Freund.«
Und beide Seiten legten den Hörer wieder auf.
»So, das wäre jetzt auch erledigt.
Jetzt muss nur noch das Band kommen. Aber ich meine, selbst wenn
Mary das Band verschlucken müsste, sie bekäme es von den
Malediven heraus, also warum sich Sorgen machen. Und das
Ersatzband war bis jetzt immer ein gutes Versteck. Warum sollten
diese Beamten es finden? Ach ich muss aufhören zu zweifeln, nicht
den Teufel an die Wand malen. Bis jetzt brachte Mary immer wieder
ihr Material nach Hause.«, sprach Peter wieder im Selbstgespräch zu sich. Dann kam Susanne
aufgeregt den Gang in Peters Büro angerannt.
»Was ist, ist etwas geschehen?«,
fragte Susanne.
»Geschehen? Genau das will ich ja von
dir wissen. Ist dir an Mary etwas aufgefallen oder hatte sie dir
irgendetwas erzählt, was ich wissen müsste?«
»Nein Che... Hä Peter, erzählt
hat sie mir nur, dass sie einer neuen Geschichte hinterherjage. Ich
meine, dass sie eine neue Geschichte habe. Aber sonst ist mir nicht
viel aufgefallen. Außer dass sie es sehr eilig und nicht viel
Zeit zum Reden hatte. Was ist, wie denkst du darüber? Ob da mehr
dahinter steckt, Peter?«
»Ich fürchte, ja. Genau das ist es,
was mich irgendwann einmal in die Klapsmühle bringen wird.
Keiner erzählt mir etwas. Was nützen mir die paar
Informationen, wenn ich daraus keine eindeutigen Schlüsse
ziehen kann. Ich werde noch mal wahnsinnig in diesem Saftladen.«
Susanne hatte das dumpfe Gefühl, dass
Peter mal wieder einem Wutausbruch nahe war und versuchte geschickt,
ihn zu beruhigen.
»Mary hätte bestimmt etwas gesagt,
wenn sie sich in Not befände. Du kennst sie doch, kaum hat sie
eine neue Geschichte an der Angel, ist sie nicht mehr die Selbe.
Sie ist da wie ein kleines Kind, das sich mit Händen und Füßen
wehrt, wenn man versucht, ihr den Schnuller wegzunehmen.«
Peter guckte Susanne an, als wolle er ihr das
erste mal Recht geben - und tatsächlich:
»Du hast Recht, na klar, anders kann es
gar nicht sein. Mary ist nur mit dieser Geschichte beschäftigt.
Und hat folglich keine Zeit.«
Susanne war sehr erfreut und zugleich
erstaunt, dass Peter ihr ausnahmsweise mal Recht gab. Doch sie
ahnte nur zu gut, dass Peter genau wusste, dass Mary sich in
ernsthaften Schwierigkeiten befand. Und dennoch versuchte er es
durch ein tröstendes Wort zu überspielen.
»Nun gut, dann bleibt uns nur noch das
Warten übrig. Wir müssen uns eben in Geduld üben.
Mary wird schon wissen was sie tut. Wie halt immer.«
Da traf Peter den Nagel auf dem Kopf. Mary
wusste was sie tat.
»Ist noch was, Susanne?«, fragte
Peter Susanne, die wie angewurzelt auf irgendetwas zu warten schien.
»Ja, Chef, soll ich den Tisch für
heute Abend absagen?«
»Das, so glaube ich, wird vorerst das
beste sein. Und Susanne, entschuldige dich in meinem Namen für
diese etwaige Unannehmlichkeit. Wir werden die Willkommensfeier für
Mary nachholen. Und nenn mich nicht immer Chef!«
*
Mary saß längst im Wagen des
Polizisten, der von einem Kollegen begleitet wurde und sich mit im
hinteren Teil des Wagens neben Mary setzte. Bewacht von zwei
Polizisten und gefolgt von zwei weiteren Wagen der Polizei kam sich
Mary wie der Staatsfeind Nr.1 vor. Es wirkte, als habe sie und nicht
der durchgeknallte Fremde, den sie bei seinem Verbrechen gefilmt
hatte, den wagemutigen und leichtsinnigen jungen Mann in der Halle
des Hotels in die Hölle geschickt. Mary beobachtete während
der Fahrt zum Präsidium das Treiben und geschäftliche
Gerangel auf den Straßen. Sie machte sich noch Gedanken,
wie unwichtig sie doch sein musste, nur ein winziger Punkt der
vielen Menschen in dem ewigen Kreislauf des Lebens. Nicht
dass sie gegen das Leben etwas hätte, nein, aber genau so ein
Getriebe, ja so eine fleißige Biene oder gar Ameise in dem
unendlichen Mosaik des Lebens und des Schicksals zu sein, das
störte sie ein wenig. Ob all das wohl einen Sinn beinhaltet?
Oder ist nach dem Leben einfach alles Sein und Tun mit einem Mal
erloschen? Ist der Tod wie ein traumloser Schlaf? Ein ewiger Schlaf
des Gerechten? Ja, in solchen Momenten schwelgte Mary gerne in
sinnlichen Gefilden auf der Suche nach dem Sinn der Existenz. Es
schärfte ihre Sinne und brachte etwas Ruhe in ihr bewegtes
Leben. Dann ein Seufzer von nebenan und Mary hatte das Gefühl,
dass der Polizist ihre Gedanken zu lesen vermag. Doch dieser Gedanke
entpuppte sich sehr schnell als absurd, denn der liebe Kollege des
Fahrers zog ein Taschentuch aus seiner uniformierten Hosentasche und
wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Nun gut, dachte
sich Mary, ich muss aufpassen, dass mir die Kamera nicht abhanden
kommt. Ich muss aufpassen, dass meine Kamera nicht als Beweismittel
in ihrem Staatsarchiv landet und dort bis zur Hauptverhandlung
verstaubt. Mary beschloss, fortan die Kamera auf dem Weg bis zum
Präsidium nicht mehr aus den Augen zu lassen. Ihr Gehirn
arbeitete wie ein Rechner eines Computers auf Hochtouren einen Plan
aus. Vor allem musste sie einen Weg finden, noch vor der Ankunft im
Präsidium die Originalkassette aus der Kamera verschwinden zu
lassen. Irgend eine Geschichte würde sie sich
schon einfallen lassen, wenn die Polizei das leere Kassettenfach in
der Kamera auffinden sollte. Mary wusste, wie unfähig die
Polizisten sein konnten. Denn keiner dieser Herren kam auf die Idee,
die Kassette an Ort und Stelle zu beschlagnahmen. In Deutschland
wäre dies die erste Handlung der Polizei gewesen. Na ja, dachte
sie sich, das konnte ja nur von Vorteil für sie sein. Die
Kamera lag zwischen ihr und dem Polizisten auf dem Rücksitz.
Langsam und behutsam glitt Mary mit ihrer rechten Hand auf der
Sitzbank im Auto in Richtung Kamera. Sie wusste, wie leicht es ist,
das Fach des Kassettenschachtes zu öffnen. Nur ein kleiner
Knopfdruck war nötig, um dieses Fach ohne Geräusch zu
öffnen. Nun begannen sich auf Marys Stirn Schweißperlen
zu bilden, die aber nicht wie bei dem Polizisten von der Hitze
herrührten, sondern von der panischen Angst, dabei erwischt zu
werden. Marie hatte schon den rechten Zeigefinger auf dem besagten
Knopf, als sich plötzlich der Polizist nach ihr umdrehte und ihr
ganz tief in die Augen sah. Sie dachte nur, hoffentlich sieht
er jetzt nicht auf die Kamera. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als er nur
lächelte und dann wieder auf seiner Seite durch die Scheibe
nach draußen guckte. Dann war es so weit. Sie nahm ihren
ganzen Mut zusammen und drückte den Auslöser für den
Schacht, wo sich die Originalkassette befand, die im Übrigen
auch nicht größer als ein Kartenspiel war. Langsam und
behutsam nahm sie mit dem Daumen und Zeigefinger die Kassette aus
dem Schacht und umschloss sie so gut es ging mit ihrer ganzen Hand.
Ein weiterer kurzer Druck mit dem Handrücken ihrer
geschlossenen Faust auf den besagten Knopf und der Schacht des
Kassettenfaches schloss sich wieder automatisch. Jetzt kam für
Mary das eigentliche Problem. Wohin mit dieser Originalkassette.
Mit aufs Präsidium konnte sie sie nicht nehmen. Sicherlich
würde sie dort von Kopf bis Fuß durchsucht
werden. So beschloss sie, sie einfach zwischen die Sitze im
Polizeiwagen zu verstecken. Mary war klar, dass die Kassette
irgendwann einmal gefunden werden würde und sei es, wenn der
Wagen gereinigt würde. Bis dahin, so dachte sie sich, würde
sie bestimmt schon zu Hause sein. Und mit der Ersatzkassette, die ja
in dem Geheimfach lag, die Story schon längst an den Mann
gebracht haben. Dann war die Fahrt zu Ende und der Wagen fuhr in
einen kleinen Hof ein. Wo sich der Wagen in dem sie saß, wie
die anderen die dort abgestellt wurden, in Reih und Glied
einordnete. Der Polizist neben Mary schnappte sich die Kamera und
stieg aus dem Waagen, ging am hinteren Teil des Wagens vorbei, bis zur
Seite, wo Mary saß, hielt ihr galant die Türe auf und bat
sie, mit ihm und seinem Kollegen zu kommen. Dann ging es
durch zwei Türen auf der Hofeinfahrt und zu guter Letzt in
einem Saal mit unzähligen Schreibtischen, die alle giftgelb
bemalt waren. Die Wände dieses Saales waren mit unzähligen
Bildern von irgendwelchen politischen Persönlichkeiten
behangen.
Ach du guter Gott, dachte sich Mary insgeheim,
hoffentlich komme ich da wieder heil raus. Mary las oft, egal in
welchem Land sie sich gerade befand aus den kommunalen Zeitschriften
oder sah im Fernsehen die Nachrichten. Da wurde oft von Ländern
berichtet, die aus politischen Gründen und das mit Vorliebe,
ausländische Urlauber misshandelten oder gar entführten, und das nur, um ein Exempel zu
statuieren. Ja, es kam
sogar vor, dass Touristen ermordet wurden. Ganz wohl war ihr
bei diesem Gedanken nicht. Ehrlich gesagt, ging ihr der Arsch auf
Grundeis.
Mary wurde von einem der Polizisten zu einem runden Tisch geführt. Dann
stolzierten die beiden Polizisten zu diesem fetten kleinen Mann, der
anscheinend ihr Chef war, und unterhielten sich im Flüsterton
mit ihm. Ja, es muss der Chef sein, so dachte sich Mary, weil er an
einem prunkvollen Tisch saß. Dieser Tisch war enorm groß,
so dass der Chef sehr klein dahinter wirkte. Ja, dieser Tisch war der
schönste, den Mary jemals gesehen hatte. Er stand auf einem
erhöhten Podest und war überall mit Blattgold verziert.
Und die mächtige Tischplatte schien aus purem Marmor zu sein.
Ja, dieser Tisch glich eher einem Herrschersitz, von wo man regierte.
Mary beobachtete ganz genau, wie die beiden sich bei ihrem Geflüster
immer wieder nach ihr umsahen. Das war natürlich sehr nützlich
für sie. Keiner der beiden ahnte, dass Mary von den Lippen
ablesen konnte. Tja, Mary Ritley konnte elf Sprachen und davon sieben
fließend und das ohne Akzent und die Sprache in diesem Land gehörte
dazu. Sie hatte es bei der Raumfahrtbehörde, bei der sie vor
der Agentur von Peter Lenz beschäftigt war, gelernt und
natürlich oft bei ihrem Werben nach bestimmten Kunden benutzt.
So bekam sie im Vorfeld etwaige Missstände heraus, wie
bestimmte Kunden dachten und ob sich ein Bemühen mit allem drum
und dran um den besagten Kunden überhaupt lohnte. Dann kam
der etwas kleinere dickliche Giftzwerg, der offensichtlich gerne
den Chef heraushängen ließ, auf Mary zu. Die beiden
Polizisten, die Mary hierher ins Präsidium gefahren hatten, gingen
wieder ihres Weges. Dann stand er vor ihr, der kleine fette
Giftzwerg, der sich nun als ganzer Mann aufpumpte, in dem er
versuchte, durch einen tiefen Atemzug seine offensichtlich
vollgefressene Wampe ein wenig einzuziehen. Ihr fiel auf, dass dieser
kleine dicke Wicht ohne seinen prunkvollen, mit Blattgold verzierten
Schreibtisch, in seinem Erscheinungsbild nicht viel hergab.
»Guten Tag, Miss Ritley. Mein Name ist Baio, Inspektor Baio. Ich bin Chef und
somit Leiter dieser Abteilung. Aber bitte, setzen sie sich doch.«
Mary sah sich noch einmal unauffällig
nach der Kamera um, in der sich noch die Ersatzkassette in einem
versteckten noch kleineren Schacht befand, die der Polizist, der
während der Fahrt neben ihr saß, auf dem mächtigen
und prunkvollen Tisch des Inspektors abgelegt hatte.
»Guten Tag, Inspektor. Es freut mich ihre
Bekanntschaft zu machen.« Doch dieser Giftzwerg erwiderte
Marys Begrüßung nicht.
Dann zog Inspektor Baio ein silbrig
schimmerndes Etui aus seiner linken Innentasche, öffnete es,
entnahm daraus eine Art Zigarillo und zündete es mit einem
frechen und machtgierigen Blick an. Als nächstes knöpfte
er sich seinen etwas lächerlich wirkenden Anzug auf und schmiss
förmlich seinen linken Fuß mit einem Knall auf den
Tisch, so dass Mary vor Schreck mit ihrem Oberkörper zur Seite
wich. Im nächsten Moment zog er seine giftgrüne und viel
zu breite Krawatte ein bisschen lockererer, um seinem Doppelkinn
etwas Erleichterung zu verschaffen. Dann folgte ein schweigsamer
Moment. Mit seinen froschgroßen Augen, die mit einem dicken
Polster aus Fett umrandet waren, schien, so bemerkte Mary, dieser
ekelerregende Mensch sie aufs Genaueste zu mustern. Die enorme Hitze
in diesem Raum, es mussten ungefähr vierzig Grad Celsius sein,
verstärkten noch seine von Schweiß durchdrängte und
muffige Kleidung. Zu allem Übel stand hinter ihm auch noch ein
Ventilator, der zwar etwas Kühlung verschaffte, aber dennoch
seine gesamten körperlichen Gerüche direkt zu Mary
pustete, so dass ihr hundespeiübel wurde und sie das Gefühl
hatte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen.
»Nun, Miss Ritley, da sind Sie ja in eine
sehr ungeschickte Lage geraten. Aber machen Sie sich keine Sorgen.
Sie sind nur Zeugin. Nach dem Protokoll können Sie wieder
gehen. Natürlich hoffe ich auf ihre unumstrittene
Zusammenarbeit mit uns.«
Dann lehnte er sich auf den Stuhl zurück
und schien sich anscheinend sicher zu sein, dass Mary
Schwierigkeiten bereiten würde. Denn nach seiner
Kenntnis und seiner provozierenden, hinterlistigen und
scheinheiligen Art konnte sie nur wütend werden. Doch er
würde sogleich erkennen müssen, dass sie mit allen
Wassern gewaschen ist.
»Aber selbstverständlich können
Sie mit meiner vollsten Kooperation rechnen. Durch diese Misere, in
die ich geriet, ergibt sich ein längerer Urlaub für mich.
Sehen Sie, ich liebe ihr Land und die Menschen hier. Natürlich
ist dies ein tragischer Zwischenfall, aber, und dessen bin ich mir
sicher, Sie werden ihn natürlich wie bekannt wieder einmal mit Bravur
lösen. Schon als ich letzte Woche das unsagbare Glück
hatte, ihren Ministerpräsidenten Quato kennenzulernen, hörte
ich nur Erfolge in der Kriminalistik von ihnen, Herr Inspektor.«
Mary kannte natürlich diesen
Ministerpräsidenten nicht. Mary setzte nur alles auf eine
Karte, um diesen machtbesessenen Giftzwerg unter Druck zu setzen. Und
sie hatte sogar noch vor, einen Nachschlag zu geben.
Mary konnte sehen, wie er immer öfter an seiner Zigarillo zog
und sich die Geschichtszüge des Inspektors zu einem Erstaunen
formten. Langsam flossen ihm die Schweißperlen vom Gesicht.
»So, Sie
kennen also unseren Ministerpräsidenten persönlich?«,
vergewisserte sich der Inspektor nochmals.
»Natürlich, im Übrigen, da ich
heute meinen Flug nach Hause sowieso nicht mehr erreichen werde,
kann ich die Einladung des Ministerpräsidenten, die er mir
letzte Woche zukommen lies, doch noch wahrnehmen. Ich treffe mich
heute Abend mit ihm und seiner entzückenden Gattin im Club
Belvedere, wo er ja einmal wöchentlich mit seiner Frau
zu dinieren pflegt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, wenn ich ihm
von unserer glänzenden Zusammenarbeit anlässlich des Vorfalls im
Hotel erzähle, dass demnächst einer Beförderung
nichts mehr im Wege stünde.«
Nach dieser schleimigen Rede hatte Mary ihn
in der Hand. Dennoch konnte sie es nicht lassen, wie schon
angesprochen, noch eins draufzulegen. Wie man sehen kann, ein
riskantes Unterfangen.
»Ich bin mir sicher, dass, wenn Sherlock
Holmes noch Leben würde, er gegen Sie einen Anfänger darstellen
würde. Das können Sie mir ruhig glauben.«
Nun wartete Mary auf eine Reaktion von
Inspektor Baio, der nun ein sehr ernstes Gesicht darbot. Er schwieg.
Mary glaubte schon, mit dem letzten Satz ins Fettnäpfchen
getreten zu sein. Doch als sie nochmals intensiv in seinen Augen
blickte, bemerkte sie ein Zucken, das sich behutsam wieder zu einem
Lächeln formierte. Ja, dieses Lächeln war von einer
Echtheit geprägt, dass Mary mitlächeln musste.
»Also, Miss Ritley, ich habe schon viele
Menschen in meinem Beruf kennengelernt, aber Sie übertreffen
alle. Nun denn, wenn Sie bereit sind, ihr Videoband als Beweisstück
hier bei mir zu lassen und das dazugehörende Protokoll zu
unterschreiben, können Sie gehen, Miss Ritley.«
»Tja, Herr Inspektor, da ist mir wiederum
ein Missgeschick passiert. Ich glaube nämlich, dass Sie nur mit
dem Protokoll meiner Aussage Vorlieb nehmen müssen.«
Mary wartete mit einem vorgetäuschten und
verlegenen Blick auf die Reaktion des Inspektors, der zunehmend und
mit einem leichten Zucken seines rechten Mundwinkels immer nervöser
zu werden schien.
»Was meinen Sie damit, Frau Ritley?«
»Nun, ich meine damit, dass es kein
Filmmaterial gibt.«
»Aber mein Kollege sagte mir, dass Sie
dieses Verbrechen, also diesen Amoklauf des jungen Mannes, in der
Hotelhalle gefilmt haben. Das haben Sie selber ausgesagt, Fräulein
Ritley.«
Mary spürte nun instinktiv, dass sie jetzt
keinen Fehler in ihrer Erzählung dem Inspektor gegenüber
machen durfte.
»Ja, Herr Inspektor, das stimmt schon.
Als er mich fragte ob ich alles auf meiner Kamera aufzeichnete, habe
ich ja gesagt, und ich hielt auch die ganze Szene mit meiner Kamera
auf das Geschehen.«
»Ja dann,
ist ja alles in bester Ordnung.«, gab der Inspektor etwas
erleichterter zur Antwort.
»Nein, eben nicht, ich hatte in dieser
ganzen Aufregung etwas vergessen, Herr Inspektor.«, gab Mary
wieder Verlegen spielend zur Antwort.
»Was gibts denn da zu vergessen?«,
begann Inspektor Baio immer wütender werdend zur Antwort.
»Na ja, es war ja Zufall, dass ich gerade
in dieser Halle war, als dieser junge Mann durchdrehte, ich war
schockiert. Noch nie hatte ich so etwas Furchtbares miterleben
müssen.«
Mary ging in ihrem Gemüt so richtig auf.
Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Die Lügen sprangen nur so
aus ihr heraus und sie waren so fließend, dass es jeder in diesem
Moment geglaubt hätte. Selbst ein Lügendetektor hätte
in diesem Moment keine Chance gehabt, sie zu überführen.
»Wollen Sie mir endlich sagen, was Sie
vergessen hatten?«, fragte der Inspektor langsam immer
verzweifelter werdend nochmals eindringlich nach.
Mary zögerte absichtlich noch ein wenig,
um den Inspektor noch den Rest an Nerven zu rauben. Bis sie
schließlich nachgab und mit ganz zierlicher und unschuldiger
Stimme antwortete: »Nun, ich hatte vergessen, eine Kassette
in die Kamera einzulegen, Herr Inspektor.«
Völliges Schweigen umhüllte den Raum im Präsidium.
»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen,
was?«, schrie der Inspektor lauthals, so dass man seine Adern
am Halse herausquellen sah.
Dann rannte er wie besessen in Richtung seines
prunkvollen Schreibtisches, wo sich Marys Kamera befand und begann
sie zu begutachten. Mary sah, wie er an ihrer Kamera hastig und mit
zitternden Händen begann herumzufuchteln. Doch vergebens, er
bekam den vermeintlichen Kassetten-Schacht nicht auf. Dann kam er mit
der Kamera auf sie zu.
»Los, machen Sie das Kassettenfach auf!«,
schnaubte er Mary wütend an. Dann drückte Mary den Knopf
und der Schacht öffnete sich.
»Tatsächlich, es ist leer.«,
sein Gesicht verzog sich zu einem Trauerspiel, als der Inspektor in
das leere Kassettenfach blickte.
»Vielleicht haben Sie die Kassette
vorher herausgenommen?«, kam ein Einwand vom Inspektor.
»Aber Herr Inspektor, Sie glauben doch
nicht im Ernst, dass ich Ihre Ermittlungen sabotieren will. Außerdem,
wie sollte ich denn das gemacht haben, ihr Kollege hatte doch die
ganze Zeit die Kamera bei sich. Wenn Sie mir nicht glauben wollen,
dann fragen Sie doch ihren Kollegen.«
Mary hatte ihren letzten Trumpf ausgespielt. Nun kam es darauf an, ob
dieser Inspektor anbeißen würde. Gespannt wartete Mary
auf die Reaktion des Inspektors, würde er sich zufrieden geben oder
würde er nun den besagten Kollegen herbeirufen. Die Spannung
wurde für Mary unerträglich.
»Nun, da kann man wohl oder übel
nichts machen, Frau Ritley. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie falsch
beschuldigte. Ich bin mir jetzt sicher, dass Sie uns in diesem Fall nur
helfen wollten. Ich bitte Sie um Entschuldigung, dass wir Ihnen
so viele Unannehmlichkeiten bereitet haben. Ich hoffe, dass Sie die
Entschuldigung annehmen werden?«, gab er plötzlich
schleimend von sich.
»Aber lieber Herr Inspektor, das macht
doch nichts. Ich kann mir weiß Gott vorstellen, welch große
Verantwortung auf ihren Schultern lastet.«
Mary hatte ihn endgültig in der Hand.
Dann machte sie ihre mündliche Aussage und unterschrieb danach
das Protokoll.
»Und was ist mit meiner Kamera? Sie hat
mir sehr viel Geld gekostet.«, erkundigte sich Mary ganz
vorsichtig.
»Wir hatten lediglich an dem angeblichen
Filmmaterial Interesse und nicht an ihrer Kamera. Und da ja keines
existiert und Sie bereits ihre Aussage gemacht und das
Protokoll unterschrieben haben, gibt es für uns keinen Grund
mehr, Sie hier festzuhalten, Frau Ritley.«
Dann verabschiedete er sich mit einem Lächeln,
das Mary das Gefühl gab, sie könne ihm am liebsten den
Buckel herunterrutschen. Was sie mit einem Lächeln ihrerseits
wiedergab. Dann ging Mary aus dem Präsidium in Richtung
Parkplatz, wo sie schon in zirka 30 Metern die Ausfahrt erspähte.
Sie wurde immer schneller und schneller und als sie sich außer
Sichtweite befand, rannte sie wie von einer Tarantel gestochen los,
als ginge es um ihr Leben. Sie rannte und rannte bis sie von weitem
ein Taxi erspähte und es zu sich winkte. Dann stieg sie in das
Taxi.
»Zum Flughafen bitte!«, und Mary
fiel ein Stein vom Herzen.
Sie drehte sich
während der Fahrt nicht mehr um. Sie wollte nur noch eines: Weg,
weit, weit weg von diesem Ort. Ja, weit weg aus diesem Land. Ihre
Koffer waren schon längst auf dem Flughafen im Flugzeug
verstaut. Viel zu oft kam es vor, dass Mary ihre Koffer bis zuletzt
bei sich behielt, abgelenkt wurde und als Folge das eine oder
andere Gepäckstück verloren ging oder gestohlen wurde,
und das vor ihren Augen. Deshalb zahlte sie lieber etwas mehr und
ihre Koffer wurden schon im Vorfeld von den Hotels sicher zum
Flughafen gebracht und im Flugzeug verstaut. Einmal verschwand
ausgerechnet der Koffer, in dem Mary sämtliches Filmmaterial
des letzten Auftrages aufbewahrte, mit dem Glauben, dass es gut in
Deutschland ankommen würde. Sie hatte ihn nie wieder bekommen.
Obwohl der Koffer versichert war und sie und die Agentur geldlich
entschädigt wurden, war es doch für Mary ein
unersetzlicher Verlust. Deshalb beschloss sie, ihr Gepäck im
Vorfeld loszuschicken, aber das Filmmaterial bei sich zu behalten.
Außer, wie schon vorgekommen, dass ihr Chef, Peter Lenz, das
Material dringend benötigte, weil ein wichtiger Verlag enorm
Druck machte. Dann versandte sie es per Eilpost in die Agentur. Es
ist praktisch und sie hatte kein Geschleppe damit. Mary faltete ihre
Hände fast wie in einem Gebet ganz fest zusammen.
Sie hoffte inständig, dass es nun keine Unterbrechung der Reise
nach Hause mehr geben würde. Sie könnte ihren Flug doch noch
erreichen, wenn doch dieser
Taxifahrer nicht so langsam fahren würde.
»Entschuldigen Sie, könnten Sie
etwas schneller fahren, ich muss unbedingt meinem Zwölf-Uhr-Flug
erwischen.«, drängte sie den singenden Taxifahrer,
der anscheinend die Ruhe selbst verkörperte und ihr schon eine
ganze Weile auf die Nerven fiel.
Es war ein fast schreiendes Gesänge,
das er in seinem Taxi veranstaltete und das ihm anscheinend auch
noch gefiel. Eine sich selbst verherrlichende und rüpelhafte
Person, dieser Taxifahrer, der auf andere Menschen in
seinem Verhalten keine Rücksicht nahm.
»Aber mit dem größten
Vergnügen, Fräulein.«, antwortete der Taxifahrer mit
einer penetranten und schmierigen Stimme.
Doch es fiel ihm nicht im Geringsten ein,
seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Im Gegenteil, Mary bekam das
Gefühl, dass er sogar seine Geschwindigkeit verlangsamte.
Irgendwie, so fiel Mary bei dem Taxifahrer auf, keuchte er so
merkwürdig als würde dieser Kerl...
Mary wagte nicht, ihren Verdacht zu Ende zu
denken. Zu schmutzig kam der Gedanke ihr vor. Und sie verdrängte
ihn so schnell sie nur konnte. Doch dieses Keuchen nahm für
ihre Begriffe an Lautstärke so sehr zu, dass es schon für
sie peinlich wurde, dem Geräusch zuzuhören. Dann wagte sie
einen Blick in den Rückspiegel, wobei sie erkennen musste, dass
der Fahrer, während er sie im Spiegel beobachtete, in
Schweißperlen gehüllt mit einem ekelerregenden und
gierigen Blick anstarrte und an sich herumfummelte. Mary bekam es mit
der Angst zu tun. Denn sie musste erkennen, dass dieser Taxifahrer
auf seinem Vordersitz onanierte, und das während der Fahrt! Ja,
er tat es ohne Scham. Dann bog er in eine Seitenstraße ein,
die nicht so viel vom dichten Straßenlärm beherrscht
wurde. Als sie das mitbekam, nahm sie aus ihrer Reisehandtasche ein
kleines und unscheinbares schwarzes Fläschchen heraus. Mary
beugte sich zitternd mit ihrem Körper nach vorne und sprühte
den Inhalt des Fläschchens dem noch erregten
Taxifahrer direkt in dessen Augen. Erst ein gequälter Schrei,
dann fluchende Sprüche und der Taxifahrer setzte notgedrungen
zur Vollbremsung an. Sie war sich bewusst, dass Sie nicht viel Zeit
hatte, also stieß Sie mit einem kräftigen Ruck die rechte Seitentür auf und stürmte ins
Freie, von wo aus sie rannte, was ihre Füße hergaben. Dann
kam Sie wieder auf die belebte Straße zurück, von der der
Taxifahrer eingebogen war und rannte ein Stück hoch. Dann hielt sie ein
weiteres Taxi an und stieg völlig erschöpft in dieses ein.
»Wo darf ich Sie hinfahren, Madame?«, fragte der Taxifahrer mit netter
Stimme.
Ȁh, bitte schnell zum Flughafen,
ich zahle ihnen den doppelten Preis, wenn Sie es schaffen, um kurz
vor zwölf Uhr dort zu sein, okay?«
Mary war völlig fertig und hundemüde.
Sie wollte nur noch eines, sie wollte nur noch ins Flugzeug und
Richtung Heimat fliegen und nichts anderes. Klar hätte sie eine
Anzeige gegen diesen Taxifahrer machen sollen und können, aber
sie wollte raus, weg aus diesem nach ihrer Meinung
schrecklichen Land. Und da war noch ihr Auftrag, den sie unbedingt
mit nach Hause bringen wollte. Ja, Mary ging für ihre Aufträge
durchs Feuer, wenn es sein musste.
»Kein Problem, Madame.«,
antwortete der Taxifahrer mit Freuden.
Und fuhr wie eine Rakete durch die vor Hitze
sengenden Straßen in Richtung Flughafen. Sie musste weinen. Sie
konnte es einfach nicht glauben, was ihr da in dem anderen Taxi
widerfahren war. Was für ein Tag, dachte sie sich noch. Erst das
Unglück in der Hotelhalle, dann dieser Inspektor und dann das.
Unglaublich, dass man dreimal hintereinander so viel Pech haben kann.
Anscheinend fiel dem Taxifahrer auf, dass Mary
weinen musste, denn er guckte sehr besorgt durch den Rückspiegel.
»Ist alles in Ordnung, Madame?«,
fragte er sich vergewissernd nach.
»Was, ja, danke der Nachfrage, aber mir
geht es gut.«
Dann sah sie endlich den Flughafen und es war
eine Meisterleistung von diesem Taxifahrer, denn es war gerade mal
elf Uhr fünfundvierzig geworden, als er vor dem prächtigen
Flughafen-Bau stehenblieb.
»So, Madame, wir sind da. Das macht dann
mal zwei, vierundvierzig Dollar.«
Mary gab dem netten Taxifahrer einen 50-Dollar-Schein.
»Stimmt so, behalten Sie den Rest.«
Hoch erfreut und mit glänzenden Augen
nahm er das Geld an sich, stieg aus, rannte um sein Taxi herum um
Mary die Tür aufzuhalten, doch zu seinem Erstaunen war Mary
schon weg.
Sie rannte wie von einer Hundemeute gehetzt
in die Flughafenhalle hinein zum erstbesten Schalter und hielt
dessen junger Angestellten ihr Ticket unter die Nase.«
»Fräulein, ich hoffe, ich komme noch
rechtzeitig zu meinem Flug.«
Mit einem kurzen Lächeln sah die Angestellte auf Marys Ticket
und forderte ihren Reisepass. Nach kurzer Überprüfung
aller Daten bekam Mary die gewünschte Antwort.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Miss
Ritley, Sie bekommen noch rechtzeitig ihren Flug nach Deutschland,
hier bitte rechts den Gang entlang, es ist Hangar achtzehn. Ich
wünsche ihnen einen angenehmen Flug.«
»Aber woher wissen Sie meinen Namen?«
»Aber Miss Ritley, der steht doch auf
ihrem Flugticket drauf, noch dazu steht er in ihrem
Reisepass.«, antwortete die Angestellte etwas erstaunt.
»Ach, natürlich, ich Dummerchen. Wie konnte ich das nur vergessen.
Verzeihen Sie, ich bin heute etwas durcheinander.«, gab Mary
etwas verlegen von sich.
»Aber das macht doch nichts, Miss Ritley.«
Mary lief im Sauseschritt durch, bis sie am
Ende den Eingang des Flugzeuges sah.
Endlich, ich bin da. Hier bitte, mein Ticket.«
Dann gab sie der vor dem Flugzeug im Eingang
wartenden Stewardess ihr Ticket in die Hand und verschwand im
Flugzeug.
*
Wieder auf dem Raumschiff bei Norman und Katja:
Nachdem sich Norman und Katja in ihren
Quartieren umgesehen hatten, beschlossen die beiden, sich auf dem
Raumschiff etwas intensiver umzusehen. Allerdings, dieses eine Mal
wollten sie ohne den Androiden Lyr, der sie ständig
bevormundete und in seinen Erklärungen kein Ende fand, auf
Erkundungstour gehen.
»Norman, wie werden wir am besten diesen Androiden los?«
Norman rümpfte seine Nase und schloss die Augen, so konnte er
sich besser konzentrieren, um einen Plan auszuhecken. Dann beugte er
sich in Richtung Katjas Ohr und begann zu flüstern.
»Also, hast du alles verstanden, Katja?«,
vergewisserte er sich bei Katja nochmals.
»Ja, Norman, habe ich, aber glaubst du
denn wirklich, dass das klappen wird?«, brachte Katja zweifelnd
zum Ausdruck.
»Aber sicher, du wirst schon sehen.
Also, fang an.«
Katja begann wie auf Kommando, sich auf den
kalten Boden zu legen und ein jämmerliches Weinen zu ihrem
Besten zu geben. Sie wandte und kräuselte sich auf dem Boden,
als hätte sie irgendeinen Anfall bekommen. Worauf Lyr auch
gleich Reaktion zeigte. Schnell kam er näher.
»Was ist geschehen, Norman, was hat sie
denn?«
Lyr war außer sich, denn auf so ein
Verhalten seitens der Menschen war er sichtlich nicht vorbereitet
worden. Und so kam es, dass Lyr wie ein Kreisel umhersauste und
immer wieder denselben Satz aussprach: « Oh weh, oh weh.
»Lyr; beruhige dich doch, Sie braucht
doch nur ihre Tabletten.«
»Tabletten? Was für Tabletten?«;
fragte Lyr verwundert nach.
Anscheinend wurde das Wort Tabletten nicht in
seinem Wortschatz Gespeichert.
»Du willst mir allen Ernstes erzählen,
dass du nicht weißt, was Tabletten sind?«, vergewisserte sich
Norman noch einmal.
»Nein, tut mir außerordendlich
leid. Aber ich kann in meinem Speichermedium kein Wort wie
'Tabletten' finden.«, antwortete er beschämt.
»Vielleicht
sagt dir das Wort Arznei etwas?«, gab Norman geschickt von
sich.
»Ah... Jetzt weiß ich, was ihr
meint.« Arznei, Medikament. Ja das kommt in mir vor.«,
verkündete Lyr voller Stolz und Freude.
»Lyr, du musst sie aus ihrem Zimmer
holen, sie liegen in ihrer rechten Schublade des Wohnzimmerschrankes.
Ich bleibe so lange bei ihr und passe auf, dass ihr nichts geschieht,
bis du wiederkommst. In Ordnung, Lyr?«
Eine durchaus geschickte Finte, die sich
Norman und Katja da ausdachten. Doch sie wussten nur zu gut, dass
ihnen nicht viel Zeit bliebe, sich aus dem Staub zu machen. Und so
warteten die beiden, bis Lyr hinter der Tür von Katjas
Quartier verschwand. Die beiden hätten alles dafür gegeben,
sein Gesicht zu sehen, wenn er bemerkte, dass da gar keine Tabletten
sind.
Geschwind rannten Norman und Katja in die
nächstbeste Richtung von der sie sich erhofften, etwas neues
entdecken zu können. Dann, wie aus dem Nichts, stand plötzlich
wieder Lyr vor ihnen. Und beide sahen ihn an, als sähen sie
gerade einen leibhaftigen Geist.
»Ly... Lyr, woher kommst du denn so
plötzlich? Ich dachte, du seist in Katjas Quartier und siehst
nach dem Medikament?«
»Als ich sah, dass da keines in der Lade
lag, nahm ich die Abkürzung direkt zu euch. Ah, wie ich sehe
geht es dir wieder gut, liebe Katja?«
Katja wurde rot im Gesicht, als Lyr ihr
vorwurfsvoll und tief in die Augen sah.
Ja, ich, ach was solls. Lyr, wir hatten dich
belogen. Okay, wir wollten uns nur mal ein bisschen hier umsehen.
Was ist denn schon dabei?«
Katja deckte ihre Karten auf. Es gefiel ihr sowieso nicht, eine
Freundschaft mit Lügen zu beginnen.
»Ach ihr Menschen, ihr seid schon eine
Spezies. Immer geprägt vom ständigen Drang des
Entdeckens. Niemals gönnt ihr euch Ruhe. Schwer ist es für
euch, euch in Geduld und Muße zu üben. Ihr könnt doch hier
tun, wonach euch ist. Wenn ihr meine Anwesenheit nicht wünscht,
braucht ihr es mir nur zu sagen.«
»Du meinst, wir können uns hier im
Raumschiff frei bewegen und hingehen, wohin wir wollen?«, fragte
Katja nach.
»Aber natürlich, wir haben vor euch
keine Geheimnisse zu verbergen. Es steht euch frei, hier alles zu
tun wonach euch ist. Es sei denn, es würde uns auf irgendeine
Weise Schaden zufügen. Ich bin speziell nur für euer
Wohlwollen neu programmiert worden.«
»Also, wenn wir das gewusst hätten,
dann hätten wir uns diesen Streich, den wir dir gerade spielten,
ersparen können.«, sagte Katja.
»Nun denn Lyr, bis später.«
Im Nu drehten sie sich um und setzten ihren
Rundgang fort. Wobei Katja noch Lyr nachsah, um zu sehen, wie er
sich in dieser Situation denn verhielt. Doch Lyr gab keine Miene von
sich und blieb regungslos stehen. Norman und Katja gingen in
unzählige Gänge des riesigen Raumschiffes hinein,
kontrollierten unzählige Räume und Hallen, doch irgendwie
schien das Raumschiff wie ausgestorben zu sein.
»Sag mal, Katja, ich möchte zu gerne
wissen, wo sich all diese Dogon herumtreiben.«
»Ja, Norman, das würde ich auch
gerne wissen, was machen die denn den lieben langen Tag.
Unglaublich.«
Die beiden ließen sich aber nicht
beirren und gingen weiter. Sie gingen einen langen Gang entlang,
an dessen Ende eine merkwürdige Lichtquelle auf dem
Fußboden entlang leuchtete.
»Norman, siehst du das Licht auf dem
Boden auch?«, machte Katja aufmerksam.
»Ja, ich sehe es auch. Komisch, was das
wohl zu bedeuten hat?«
»Na, vielleicht eine Art Wegweiser.«,
fügte Norman spöttisch hinzu.
Die beiden hatten mal wieder etwas entdeckt, das
ihre menschliche Neugierde enorm steigerte und so ließ es nicht
sehr lange auf sich warten, bis sie beschlossen, dem eigenartigen
Lichtquell nachzugehen.
»Weißt du was, Norman, gehen wir der
Sache doch auf den Grund?«
»Gute Idee, Katja, sehen wir uns die
Sache doch mal an.«
Und die beiden gingen den Lichtquell entlang
und folgten diesem so lange bis sie bei der Hauptquelle des Lichtes
angelangt waren. Da standen sie nun vor einer Wand aus purem
Licht, das sich in so tollen und vielseitigen Farben präsentierte,
dass ein Regenbogen geradezu lächerlich gegen diese Pracht
aussah.
»Und nun, Norman?«, fragte Katja
erstaunt und begeistert, begeistert vom Spiel dieser Lichtfarben.
»Das kann ich dir in diesem Moment auch
nicht sagen. Aber hör doch mal, hörst du das auch, Katja?«
»Ja, tatsächlich, das hört
sich doch an, als würden sich hinter dieser Mauer aus Licht
viele Leute befinden. Jetzt hör dir doch dieses Gemurmel an.
Oder was glaubst du zu hören, Norman?«
»Ja, Katja, du hast Recht, es müssen
sehr viele sein.« Aber sag mal, wie kommen wir da rein.«
»Hm... weißt du was, Norman? Vielleicht
müssen wir auch hier nur in die Hände klatschen, so wie Lyr es
immer getan hat, wenn er eine dieser Türen aus Licht
öffnete. Oder was meinst du?«
»Klar, gute Idee. Lass es uns
ausprobieren.«
Was die beiden
natürlich nicht wussten, war die Tatsache, dass sie im Begriff
waren, den Aufenthaltsraum zu betreten, wo sich die ganze Schar der
Dogon aufhielt.
Norman klatschte nun in seine Hände und
wie vom Teufel verschluckt war diese Wand aus festem Licht
verschwunden. Es kam das absolute Schweigen beiderseits. Norman und
Katjas Gesicht verfärbte sich in krebsrot. Da standen die
beiden nun mit weit aufgerissenen Augen vor dieser Masse an Dogon,
sprachlos und schüchtern. So verharrten sie in der
Stellung in der sie sich vor dem Öffnen der bunten Lichterwand
befanden, völlig ruhig. Ja, absolute Stille machte sich in
diesem Moment vor dem Aufenthaltsraum breit. Dann trat ein bekanntes
Gesicht aus der Menge hervor. Es war Lyr, der Androide. Wieder einmal
lässig und zugleich charmant, kam er auf Katja zu, nahm ihre
Hand und küsste diese.
»Ah, endlich, habt ihr euch gut
amüsiert?«, kam als erste Frage von Lyr.
Irgendwie spürte Katja in diesem
Augenblick, dass Lyr ihnen nur helfen wollte. Gekonnt versuchte Lyr
die spannungsgeladene Situation zu besänftigen. Er wollte Norman
und Katja gezielt mit den Dogon zusammenbringen. Er hoffte,
Freundschaften verknüpfen zu können. Schließlich war
es ja seine alleinige Aufgabe, den Aufenthalt bei den Dogon so
angenehm wie möglich für die beiden zu gestalten. Er
stellte alles in einem dar, Seelsorger, Ersatzvater, Lehrer und zu
guter Letzt einen Freund. Man könnte glatt vergessen, dass Lyr
eine künstliche Person war.
»Äh... ja, wir haben uns köstlich
amüsiert, Lyr, aber willst du uns denn nicht deine Freunde
vorstellen?«
Und Lyr bemühte sich, den Wünschen
von Norman und Katja gerecht zu werden. Lyr hatte keine
Schwierigkeiten, Norman und Katja jeden nur erdenklichen Wunsch für
ihre Annehmlichkeiten zu erfüllen. Doch bei einem Wunsch begann
er fast zu verzweifeln. Diese Aufgabe artete sich regelrecht in eine
systematische Arbeit für ihn aus. Katja und Norman baten Lyr,
jedem einzelnen Dogon einen Namen zuzuweisen. Und jeder einzelne
Dogon sollte seinen Namen gut leserlich auf seinem Gewand tragen. Man
musste sich einmal vorstellen, was das für einen Riesen-Auftrag
für Lyr darstellte, viele hunderte von Dogon einen
Namen zu geben. Das entpuppte sich selbst für einen Androiden
und seine gespeicherten Daten und Schaltkreise als ungeheuere
Aufgabe. Doch Lyr ging voll Elan ans Werk. Und als sich diese
Botschaft unter den Dogon herumsprach, konnten sie sich nicht
mehr auf ihren Sitzplätzen halten.
Langsam und behutsam kam einer nach dem
anderen auf Norman und Katja zu. Ja, alle wollten die beiden
begrüßen. Sie reichten ihnen mit einer solchen
Herzlichkeit ihre Hände, dass man das Gefühl bekam, zu
Hause zu sein. Sie strahlten eine ungeheuere Aura aus. Kein einziger
vermittelte ein Missgefühl gegenüber den beiden. Es war
für Norman und Katja ein schönes und beruhigendes Gefühl,
willkommen zu sein. Ein Gefühl, das den beiden fast das
Heimweh nach ihrem Planeten und nach ihrem Zuhause vergessen ließ.
Norman und Katja brauchten eine gewisse Zeit, sich an den freudigen
Ansturm der Dogon zu gewöhnen. Sie kamen sich wie Weltstars
vor, die nach einem Auftritt ihren Applaus als Bonus von ihren Fans
erhaschten.
Und Lyr war etwas eifersüchtig geworden.
Endlich hatte er alle erdenklichen Namen aus dem Zentralcomputer in
sich abgespeichert und zur Verteilung bereit, da schien es niemanden
zu interessieren.
Als sich die Freude wieder einigermaßen
gelegt hatte, bat einer der Dogon Katja und Norman, an seinem Tisch Platz zu
nehmen. Sie folgten dieser Bitte und setzten sich an den Tisch, wo
außer ihm noch drei weitere Dogon saßen. Diesmal
konnten sie von jedem einzelnen der Dogon ihre Gesichter sehen. In
diesem Raum streiften sie alle ihre Kapuzen ab. Norman und Katja
waren sichtlich überrascht, dass Sie den Menschen bis aufs
Kleinste ähnelten. Norman lächelte und wurde etwas
nachdenklich.
»Was kann ich für dich tun Norman,
du wirkst sehr nachdenklich. Bist du etwa traurig?«, vergewisserte sich Lyr bei ihm.
»Nein, das ist es nicht, Lyr. Es gibt nur
eine Sache, die ich nicht begreifen kann.«
»Und die wäre? Du kannst mir ruhig
alles erzählen. Auch die anderen werden dich verstehen.«,
drängte Lyr weiter in Norman ein. Natürlich nur in guter
Absicht.
»Na ja, weißt du, ich hatte vor dieser
Reise immer diese Visionen. In diesen Visionen sah ich euer Volk
weinen und klagen und sie streckten ihre, wie soll ich es
ausdrücken, sie streckten nicht ihre Arme nach mir aus, sondern
ihre armähnlichen, na ja, sie glichen eher Wurzeln, wie von
Bäumen. Und nun, wenn ich euch so sehe, kann ich nichts
dergleichen feststellen. Ich meine, ihr gleicht uns doch
in allen Einzelheiten, nicht wahr. Könnt ihr mir vielleicht eine
Erklärung dafür geben?«
Lyr und die anderen Dogon, die am selben Tisch saßen, dachten
anscheinend etwas verwirrt nach. Bis sich dann einer der Dogon zu
Wort meldete.
»Darf ich versuchen, euch unsere Gedanken
darüber zu offenbaren, lieber Norman?«
»Aber natürlich.«
Plötzlich fiel Katja ins Gespräch ein:»Lyr, hatten wir denn nicht ausgemacht,
dass alle irdische Namen erhalten sollten?«
Lyr guckte erst etwas verlegen. »Tja, Katja ich habe all meine
sprachlichen Talente angewandt um sie zu überzeugen, doch sie
wollten lieber einen Namen in ihrer Sprache haben.«
»Katja, das spielt doch nun wirklich
keine Rolle, oder?«, entgegnete Norman entschieden.
»Na ja, Norman, eigentlich hast du Recht.«
»Ich bekam von Lyr den Namen Oturo, das
heißt in unserer Sprache so viel wie 'die Geburt eines
Sterns'. Nun denn, bedenkt, dass die Gedanken frei sind und ich denke,
dass deine Visionen unsere Hilferufe waren und nur in
einer anderen Art wiedergespiegelt wurden.
Dennoch solltest du dir nicht so viele Gedanken darüber
machen. Immerhin haben sie dich doch hierher geführt. Und es
war recht so. Durch dich und durch Katja können wir wieder
Hoffnung schöpfen.«
»Du hast sicher Recht Oturo, ich danke
dir für den gespendenten Trost. Ich bin sehr froh darüber,
einen so gutherzigen Freund gewonnen zu haben, Oturo.«
Oturo guckte etwas verschämt in Richtung
Tischplatte, aber man merkte es ihm an, dass auch ihm die
Worte von Norman in seiner Seele guttaten. Auch die anderen Dogon
spürten dieses Glücksgefühl von Oturo. Dann sah
Katja Oturo irgendwie merkwürdig an.
»Oturo, ich würde gerne wissen, wie
es möglich ist, dass ihr in so kurzer Zeit unsere Sprache so
fließend, ja fast perfekt, sprechen könnt.«
»Eine durchaus logische Fragestellung.
Nun im Bezug auf unsere Lernfähigkeit sind wir ebenso etwas
weiter entwickelt als ihr Menschen. Wir besitzen so eine Art, na
sagen wir mal, elektronisches Gehirn, in Form einer Maschine, in
die wir uns hineinbegeben und die es uns möglich macht, viel, viel
schneller zu lernen als ihr. Außerdem lernen wir schon sehr
früh in unserer Jugend verschiedene Sprachen von verschiedenen
Lebensformen, die uns seit vielen Jahrtausenden bekannt sind, und da
gehört ihr Menschen eben dazu.«
Du meinst, diese Maschine kann alles in euer
Gehirn speichern so wie bei einem Androiden?«,
fragte Katja wissbegierig nach.
Nicht ganz so, aber ungefähr.«,
antwortete Oturo.
»Wau! Das ist ja ein dicker Hund.«,
sprach Norman mit leiser Stimme.
Und Lyr zerbrach sich mal wieder seine
Schaltkreise und Speichermedien, um den Sinn in diesem Satz zu
finden.
»Äh, Lyr, gib dir keine Mühe,
das war nur wieder so ein Spruch.«
»Sag mal, Norman, könntest du mir
eine Frage beantworten?«
»Aber natürlich, Oturo, so viele du
möchtest.«
»Wie ist es auf eurem Planeten?«
»Weißt du, Oturo, ich frage mich, warum
ausgerechnet du mir diese Frage stellst. Denn so viel mir bekannt
ist, waren doch eurer Ahnen Väter eine sehr lange Zeit auf
unserem Planeten beheimatet, oder irre ich mich.«
Nein Norman, du irrst dich nicht, dennoch
musst du wissen, dass unser Rat es nicht für sehr wichtig
erachtet, uns davon zu berichten. Und was der Rat für wichtig
erachtet, ist beschlossenen Sache. Weißt du, wir nutzen unsere Zeit
nur für absolut wichtige Dinge.«
»Das finde
ich aber sehr schade, Oturo, na ja, dafür kannst du ja nichts.
Nun, ich werde versuchen, euch einen kleinen Einblick in unserer Welt
zu geben, natürlich nur so, wie ich sie sehe. Alles kann ich
euch nicht schildern. Dazu würde mein kleines Leben nicht
ausreichen.«
Norman und Katja erzählten voller Stolz
abwechselnd. Dann berichteten sie vom Erscheinungsbild der Erde, von
den vielen Kulturen, die es auf ihrem Heimatplaneten
gab, von der Liebe, von ihren großen Forschern in der
damaligen Zeit, wie Christoph Kolumbus oder Galileo Galilei, von
Albert Einstein usw., die einen Meilenstein in der Wissenschaft setzten.
Und sie erzählten stundenlang so weiter. Inzwischen hatten sich
die Dogon alle wie eine Schar Vögel um Norman und Katja
versammelt. Eine Frage folgte der
anderen und eine Antwort auf die nächste. Und so verging die Zeit
für die beiden wie im Fluge.
*
Bei den Hübners:
Sarah schlief längst in ihrem kuschelig
warmen Bett. Kein Wunder, für sie war es ja, wie wir längst
wissen, ein sehr anstrengender und aufregender Tag gewesen. Ihr
Vater Stephan, der sie aus ihrem Rollstuhl hob, in dem sie vor
Erschöpfung eingeschlafen war, und in ihr Bettchen trug, saß
längst in seinem purpurroten Sessel, der sich wie ein
Schaukelstuhl bedienen ließ, in seinem Arbeitszimmer. Wie schon
so oft saß Stephan am offenen Fenster und grübelte über
das Schicksal und über Gott und die Welt nach. Und wie so oft
weinte er über das Schicksal seiner Tochter Sarah. Und jedesmal
kam er bei seinen Gedanken zu keinem einleuchtenden Ergebnis,
einem Ergebnis, dass ihm die Gewissheit gab, dass alles, so
schrecklich Schicksale auch sein mögen, seinen Sinn und Zweck
erfüllten oder gar sein mussten. Und wie gewöhnlich
schlief er dabei ein. Aber nicht für lange. Und wenn er dann
erwachte, holte er noch einmal tief Luft und wie von einem
Geistesblitz getroffen, fühlte er sich wieder wie neugeboren.
Ja, Stephan arbeitete dann noch ein bis zwei Stunden, um seine Arbeit
für den nächsten Tag vorzubereiten.
*
Sarahs Vater ist längst aufgestanden, um für sein Töchterchen das Frühstück
vorzubereiten. Wie fast jeden Morgen musste er sich sputen, da ja um
sieben Uhr Sarahs Privatlehrerin kam und da sollte wenn möglich
seine Tochter frisch gebügelt und geschniegelt am
Frühstückstisch verweilen. Der Unterricht dauerte meist
von 7 Uhr 30 bis 12 Uhr 30, außer Freitags, da nur bis 11 Uhr.
Jedoch, wenn Sarah etwas mit dem Lernstoff zurück hing, konnte es
auch bis in den Nachmittag dauern. Ja, diese Zeiten genoss Stephan, denn
in dieser Zeit brauchte er sich um Sarah keine Sorgen zu machen. In
dieser Zeit konnte er sich ganz und gar um seine Arbeit kümmern.
Ja, ja, diese Lehrerin, Frau Hansen, war etwas ganz besonderes und das
nicht nur für Sarah, nein, im Gegenteil, auch für Stephan,
denn Sie kümmerte sich nicht nur um die schulischen Leistungen
von Sarah, sondern machte ihr während der Pausen auch noch
einige gesunde Snacks in der Küche, was sie eigentlich gar
nicht musste. Doch das Außergewöhnlichste an dieser Frau
war, dass sie bei den Hübners nicht nur Lehrerin war, sondern
dass sie in diesem Hause auch noch die Hausfrau verkörperte.
Denn während sie Sarah unterrichtete, schrieb wie jeden Tag
Stephan so ganz nebenbei den Einkaufszettel, den er ihr, bevor der
Unterricht endete, überreichte und an jedem Morgen brachte sie den
Einkauf für diesen Tag mit. Unglaublich, obwohl dies im
Vorfeld gar nicht verhandelt wurde. Ja, diese Frau Hansen tat es
einfach so. Ohne jede Gegenleistung. Für Sarah und ihren Vater
wurde diese Frau unentbehrlich.
Stephan war gerade in der Küche, die sich
unterhalb seines Arbeitszimmers neben dem Wohnzimmer im Hochparterre
befand, um Sarah das Frühstück zu bereiten. Auch Frau
Hansen frühstückte jeden Morgen mit, als Gegenleistung für
den morgendlichen Einkauf, obwohl sie dies am Anfang ablehnte, mit
der Begründung, dass sie diese Leistung für Sarah gerne
tat. Doch als Sarah sie eines Morgens recht lieb darum bat, konnte
sie es nicht ablehnen. Mittlerweile war es schon zur Gewohnheit
geworden. Zumindest was Stephan und Frau Hansen betraf. Doch für
Sarah war jedes Frühstück ein Stück Geborgenheit. Es
hatte den Anschein, dass für sie jedes Frühstück zu
dritt etwas Besonderes war. Kein Wunder, denn es gab ihr das Gefühl, in
einer richtigen Familie zu sein. Damit verdrängte sie die
Sehnsucht nach ihrer Mutter, die ja ständig unterwegs
war. Doch Sarah begriff im Laufe der Zeit, dass ihre Mutter keine
andere Wahl hatte. Dass das durch all die Kosten, die ein normales
Leben in dieser Gesellschaft forderte, unbedingt notwendig war. Als
Stephan den Frühstückstisch gedeckt hatte, ging er in
Sarahs Zimmer um sie wie fast jeden Morgen zu wecken.
»Einen recht schönen guten Morgen,
Kleines, Morgenstunde hat Gold im Munde.« Ein kurzes Gähnen,
ein kleines Lächeln für ihren Papa und Sarah war wach.
Dann hob ihr Vater sie ganz sanft und äußerst
vorsichtig in den Rollstuhl und fuhr sie ins Badezimmer. In diesem
Badezimmer war für Sarah einiges auf ihre Kopfhöhe
eingerichtet, so dass sie einigermaßen alleine zurecht kam.
Sie musste recht früh lernen, dass sie, auch wenn sie im Rollstuhl
saß, einiges alleine ausführen musste, was sie mit
anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile auch prima im Griff
hatte. Sobald sie mit ihrer morgendlichen Toilette fertig war,
brauchte sie nur noch eine Klingel benutzen, die auf der Ablage
unmittelbar vor ihr stand. Dann kam auch schon ihr Vater, half
ihr noch beim Anziehen und schob sie anschließend zum
gemeinsamen Frühstückstisch. Den Rest erledigte Frau
Hansen. Und Stephan konnte ganz beruhigt in sein Arbeitszimmer hoch
gehen um seine täglichen Geschäfte zu erledigen.
Schon öffnete, und das pünktlich wie
immer um 7 Uhr 00 mit einem 'Guten Morgen allerseits', Frau Hansen
die Haustüre. Frau Hansen bekam schon vor längerer Zeit
einen Hausschlüssel von Stephan, denn es kam ab und an mal vor,
dass Stephan auch auswärts zu einem guten Kunden musste. Und da
leistete Frau Hansen Sarah in dieser Zeit Gesellschaft.
»Ah, guten Morgen, Frau Hansen.«
»Guten Morgen, Herr Hübner, haben
Sie gut geschlafen?«, fragte Sarahs Lehrerin.
»Es geht so, Frau Hansen, und Sie?«
»Sie wissen doch, Herr Hübner, ich
schlafe immer gut. Wer viel arbeitet, schläft auch gut!«
Diesen leicht lästernden und etwas
ironischen Spruch musste sich Stephan fast jeden Morgen anhören.
Stephan wusste nicht, ob Sarahs Lehrerin ihn damit ärgern wollte
oder ob sie einfach nur ein Morgenmuffel war. Trotz ihrer
Eigenarten war sie doch eine gute Seele, die alles daran
setzte, um aus seiner Tochter eine gute Schülerin zu machen. Und
nicht nur das, sie gab Sarah auch viel an Erziehung und
Selbstvertrauen mit, was für Stephan sehr wichtig war. Dann
ging sie wie immer mit den eingekauften Waren, die sie wie immer
gleich morgens mitbrachte, in die Küche, wo sie ein frisches
Lächeln von Sarah erwartete.
»Guten Morgen, Sarah, wie fühlen wir
uns denn heute Morgen?«
»Oh, danke der Nachfrage, Frau Hansen, ich
fühle mich heute besonders gut.«
»Das freut mich, mein Kind. Dann werden
wir den Vormittag sehr schnell und lernfleißig beenden können.
Nicht wahr, Sarah?«
Auch bei diesem Unterton begriff Sarah sehr
schnell, dass es heute wahrscheinlich ein Diktat geben wird, was sie
sich aber nicht anmerken ließ.
»Sicherlich, Frau Hansen, ganz wie Sie wünschen.«
Nach dem gemeinsamen Frühstück wurde es auch für
Sarahs Vater Zeit, auf den in seinem Arbeitszimmer sehr viel Arbeit
wartete, die natürlich nicht aufgeschoben werden konnte.
»So, Frau Hansen, ich muss an die Arbeit,
ich überlasse also Ihnen nun dass Feld.«
»Aber sicher doch, Herr Hübner,
gehen sie ruhig an die Arbeit, ich kümmere mich schon um
alles.« Welch beruhigende Order für Stephans Ohren.
»Ah, noch etwas, Sarah, vergiss bitte nicht nach mir zu rufen, wenn dieser Lenz
um 14 Uhr kommt. Ich möchte gerne hören, was er zu unserem
Fall zu sagen hat, okay Kleines?«
In diesem Moment der Unaufmerksamkeit hatte
Sarahs Vater völlig vergessen, wie neugierig doch ihre Lehrerin
Frau Hansen war, wenn es um Sarah ging. Sarah schenkte ihrem Vater
einen Blick, der soviel wie 'oh Papa, du Dummerchen' aussagte.«
Aber diese Erkenntnis kam zu spät. Schon zeigte Frau Hansen die
gar nicht gerne erwartete Reaktion.
»Äh, was für ein Fall?«, fragte sie leicht besorgt.
Jetzt galt es auf die schnelle eine Notlüge
zu erfinden. Sonst konnte Sarah und ihr Vater mit Sicherheit damit
rechnen, dass sie für den Rest des Tages Frau Hansen nicht mehr
loswerden würden und es wäre angesichts dieses
Ereignisses kaum vorstellbar, dass Frau Hansen dafür Verständnis
aufbrächte.
»Oh, Frau Hansen, sie müssen wissen,
dass einer meiner Geschäftskollegen heute Nachmittag
vorbeikommen will, um sich etwas anzusehen, das er vielleicht in
einem seiner Zeitungsartikel bringen könnte.« Sarah
verstand nun gar nichts mehr, es hörte sich ja fast so an, als
wolle Papa alles erzählen.
Mit einer Ausnahme, dass dieser Besuch auf
keinen Fall einen seiner Geschäftskollegen darstellte.
Also dachte sich Sarah, jetzt bin ich mal
gespannt, was für eine Notlüge mein Papa so auf die
Schnelle parat hat. Sie horchte gespannt auf.
»Zeitungsartikel? Über was will er
denn schreiben?«, kam wie vermutet die blanke Neugier von
Frau Hansen. Sarah bemerkte, dass ihr Vater auf Hochtouren nachdachte.
Dann begann er stotternd und zögerlich seine Notlüge
zu berichten.
»Nun, Frau Hansen, Sarah hat ihrem
Buntspecht ein kleines Kunststück beigebracht, ja ein kleines
und außergewöhnliches Kunststück. Und da mein
Kollege einen Tierbericht in seinen Artikel schreiben will, kam ihm
das sehr gelegen, als ich ihm von diesem süßen Piepmatz
erzählte. Nicht wahr Sarah?«
»Äh, ja, natürlich, genau so war es.«
Dann herrschte ein kurzes Schweigen in der
Runde, und von einem erstaunten Gesicht der Lehrerin verzog sich
ihre Miene zu einem begeisterten Lächeln.
»Oh, Sarah, das ist doch großartig.
Ich wusste ja, dass du tierlieb bist, aber dass du so sehr bei dem
kleinen Vögelchen beliebt bist, ist ja außergewöhnlich.
Da kann man mal sehen, wie viel verborgene Talente einem Menschen
innewohnen. Das macht mich richtig stolz, Sarah. Immer weiter so.
Wann kann ich denn dieses kleine Wunder deines so süßen
kleinen Buntspechtes einmal sehen?« Diese Frage musste ja
kommen. Auch da hatte Sarahs Vater eine Antwort.
Ȁh, Frau Hansen, im Moment will
dieser Geschäftsmann nur mit ihr darüber reden. Zwecks
Termin für dieses besondere Ereignis.«
Sarah traute ihren Ohren nicht, wie geschickt
und mit flinker Zunge ihr Vater all diese Notlügen nur so
herunterrasselte. Unglaublich, dass es wirklich ihr Vater war, der
hier geschickt und ohne rot zu werden ihre Lehrerin
an der Nase herumzuführen schien. Dementsprechend warf Sarah
ihrem Vater einen Blick zu, der ihn leicht beschämen ließ.
»Ah, das ist aber schade, ich wäre
gerne dabei gewesen, wenn meine Schülerin Sarah interviewt wird.
Na ja, man kann eben nicht alles haben. Nun gut, Sarah, wenn du mit
dem Frühstück soweit fertig bist, können wir mit dem
Unterricht beginnen.«
Sarah hatte alles andere als den Unterricht im
Kopf. Denn sie musste stets an dieses Phänomen an der kleinen
Sitzbank neben dem Bahnhofshäuschen denken. Zudem verspürte
sie plötzlich wieder Mitleid mit dieser Katja Moser. Sie fühlte
sich irgendwie mitschuldig. Hätte sie doch ohne nachzudenken
gleich die Polizei gerufen und das ungeachtet dessen, ob sie sich
blamiert hätte oder nicht. Vielleicht hätte sie ja das
vorhandene Phänomen erst gar nicht erwähnen sollen. So
währen sie bestimmt gekommen und hätten dann dieses
wirkliche Geschehen mit eigenen Augen mitbekommen und vielleicht
noch handeln können. So war sie nur darauf bedacht, sich nicht
lächerlich zu machen. Nicht nur, dass sie bei der Hilfe versagt
hatte, nein, sie dachte noch
im Anschluss, wie sie aus dieser Notlage der Katja Moser auch noch
Geld und Ruhm herausschlagen könnte. Dazu kommt noch der
Gedanke, ob es wirklich richtig war, diesen Peter Lenz auf das
Phänomen aufmerksam zu machen. Vielleicht hatte ihr Vater doch
Recht und dieser Mann wollte nur eine tolle Geschichte
veröffentlichen, ohne Rücksicht auf Katja Moser und dem
bisherigen normalen Leben von Sarahs Familie. Alles schien nun für
Sarah immer komplizierter zu werden. Vieles hatte sie in ihrem Eifer
nach Ruhm und Anerkennung nicht bedacht. Ob das mal gut geht,
hoffentlich! Sie wünschte sich in diesem Moment, alles wieder
rückgängig machen zu können. Selbst wenn dies noch
möglich wäre, bleibt doch immerhin die Tatsache, dass das
Mädchen Katja Moser auf unnatürliche und seltsame Weise verschwand.
Kapitel 6, Besuch bei Famlie Hübner
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
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