Kapitel 2, Die Entführungen, Teil 4
Dort wo sich Norman befand:
Norman befand sich noch immer in dunkler
Nacht, in einer Luftblase im luftleeren Raum. Er konnte nicht ahnen,
dass er sich in so einer künstlichen und unsichtbaren Blase
befand.
»Ich kann atmen, ich kann tatsächlich
ohne Sauerstoffmaske oder so was ähnlichem im Weltraum atmen.
Einfach so. Oh Mann, dass glaubt mir doch kein menschliches Wesen,
wenn ich irgendeinem davon erzählen würde. Unglaublich
aber wahr. Na ja, so langsam wundert mich gar nichts mehr. Würde
mich nicht wundern, wenn ich jetzt erwachen würde und
feststellen müsste, dass alles nur ein Traum ist. Alles kann
ich ertragen, aber was mich jetzt und hier wahnsinnig macht, ist die
Tatsache, dass ich mich langweile. Das halt ich langsam nicht mehr
aus, es bringt mich um den Verstand. All meine kostbare Zeit auf so
eine Art vergeuden zu müssen. Na ja, jammern hilft jetzt auch
nichts. Muss ruhig bleiben.«, sprach er laut vor sich hin.
Genau wie Katja quälten Norman viele
Gedanken, die sich in Ängste und Zweifel in seinem Innersten
einzunisten schienen. Wie schon gesagt, konnte Norman nicht wissen,
dass er sich in einer Art künstlicher und unsichtbarer
Blase befand, die alles enthielt was er zum Überleben brauchte.
»Seit längerer Zeit bekomme ich keine
gedanklichen Fragen und Antworten mehr. Ich mache mir so langsam
ernsthafte Sorgen. Die werden mich doch nicht vergessen haben?«,
dachte er sich.
Norman wurde sichtlich nervöser, diese
Nervosität versuchte er mit Selbstgesprächen zu
verdrängen. Keiner war da, der ihn in seiner Lage Mut zusprach,
keiner, mit dem er sprechen konnte. Und keiner der ihm sagte, was er
nun für eine Aufgabe zu erledigen hatte. Er konnte nicht ahnen,
dass dieses Wesen einen eigenen Namen von Katja bekam. Und natürlich
ahnte er nicht, dass seine zukünftige Partnerin, mit der sich
Lyr im gleichen Augenblick unterhielt, seine leibliche Schwester
war, die er aber nicht kannte.
*
Wieder bei Katja, bei der kleinen Sitzbank vor dem Bahnhäuschen:
»Katja, die Zeit ist erschienen welche
mein Volk begehrt.«
»Lyr, du meinst es ist an der Zeit?«
»Gewiss, Zeit es ist. Deinem Bruder du
wirst begegnen.«
»Bruder? Ich habe doch keinen Bruder.«
Katja verschlug es die Sprache, denn sie war
sich ganz sicher, dass sie keinen Bruder hatte.
»Dein Bruder er ist.«, gab Lyr von sich.
»Warum tust du mir das an. Lyr?«
Katja fand dies gar nicht komisch.
Natürlich wünschte sie sich schon
immer einen Bruder und insgeheim dachte sie, dass Lyr ihr auf diesen
Gedanken gekommen sei. Doch dass Lyr dies ausnutzen würde um
sie zu seinem Plan zu locken, das hätte sie weiß Gott nicht
von ihm gedacht. Daher war es nicht verwunderlich, dass Katja etwas
gekränkt auf Lyr war. Was sie Lyr auch gedanklich entgegenschleuderte.
»Deiner Mutter wahrer und einziger Sohn
er ist. Nur vereint ihr beide mein Volk ihr könnt retten.«,
gab Lyr mit sanfter Stimme von sich.
Katja wich nun mit ihren Gedanken ein wenig
vom eigentlichen Geschehen ab, um ein wenig in eigener Sache
nachzudenken. Sie musste an die unzähligen Talkshows denken,
die zu Hause im Fernsehen liefen, die sie so gerne mit ihrer Mutter
ansah. Dort fanden sich einige Geschwister wieder, die jahrelang
von ihrer Existenz nichts wussten und die sich nur aus Zufall wieder
fanden. Katja kam ein schrecklicher Gedanke. Kann es denn sein, dass
ihre eigene Mutter, die sie so verehrte und liebte, ja dass sie
hinsichtlich dieser Sache ihr etwas verschwieg? Nun, dann blieb
trotzdem die Frage offen, warum und weshalb. Am liebsten würde
sie diesen Gedanken verdrängen, doch diesen Gedanken einfach so
vergraben, in die Schubladen legen und vergessen? Sie war nicht der
Typ Mädchen das einfach so aufgab. Denn was sollte aus ihren
Träumen werden. Schon immer hatte sie sich einen Bruder
gewünscht. Einen Bruder mit dem sie reden und alle Probleme
teilen konnte? Und was sollte sie ihrer Mutter sagen und vor allem
wie. Doch das wichtigste was Katja auf alle Fälle verhindern
wollte, nämlich ihrer Mutter mit dieser Konfrontation weh zu
tun. Auch wenn es ungewöhnlich klingen mag, wer weiß, vielleicht
hatte ihre Mutter einen triftigen Grund, ihren Sohn, also Katjas
Bruder, einfach wegzugeben. Oder wurde ihr eines ihrer Liebsten
weggenommen aus welchen Gründen auch immer? Nun Katja würde
dies bei ihrer Rückkehr in Erfahrung bringen, denn bei einem
war sie sich sicher, dass sie ihre Mutter zur Rede Stellen musste.
Nun, sie hatte in ihrem bisherigen Leben lernen müssen, dass
nichts ausgeschlossen ist. Lyr empfing Katjas Traurigkeit und
begriff anscheinend nicht, dass er Katja damit wehtun würde.
Vielmehr sollte dies als Zeichen der Freundschaft dienen. Auch Lyr
musste eingestehen, als er Katjas trauriges Gesicht sah, dass er
noch sehr viel über die Spezies Mensch zu lernen hatte.
»Dies alles dein Schicksal ist, Katja.
Bereit du jetzt bist mit dem Bruder zu Reisen in meine Welt?«
»Lyr, was wird denn aus meiner Mutter?
Ich muss mich doch wenigstens von ihr verabschieden! Sie ist doch
sonst so alleine. Weißt du, ich habe nämlich keinen Vater mehr.
Sie wird sich bestimmt große Sorgen machen, wenn ich nicht
mehr nach Hause komme. Das will und kann ich ihr nicht antun, Lyr,
kannst du das denn nicht verstehen?«
»Nicht nötig deine Sorge ist,
zurückkehren du wirst ohne jeden Zeitverlust.«
»Ohne Zeitverlust?«, dachte sich Katja.
»Moment mal, soll das etwa heißen,
wenn ich wieder heimkomme, dann habe ich überhaupt keine Zeit
verloren? So als wäre ich überhaupt nicht auf Reisen
gewesen? Willst du das damit andeuten?«
»Nicht ganz deine Worte von Wahrheit
bestimmt sind.«
»Und was ist mit meiner Erinnerung,
werde ich mich noch an alles erinnern können?«, kam ihr
der Gedanke. Was hätte denn diese Reise für einen Sinn,
wenn sie sich an nichts mehr erinnern könnte.
Wer weiß, was für eine Welt sie kennenlernen würde.
Hoffentlich diese, die sie in ihren Träumen
sah. Wie wunderschön sie doch ist, die Welt der Dogon. Sie
wollte diese Schönheit und deren Reichtum an Tälern und
ihren Auen die sich ihr wie ein Paradies darboten, in ihren Gedanken
nicht in Vergessenheit geraten lassen. Es kam ihr so vor, als wäre
jene Welt der Garten Eden, eine weitere Welt, erschaffen von Gott.
Ja, nur Gott konnte allen seinen Geschöpfen ein solches Geschenk
machen, darin war sich Katja in ihrer Überzeugung sicher.
»Die Zeit wir im Stande sind zu
verändern und auch was sie umgibt. Frei ihr seid in der
Entscheidung, dessen seid euch gewiss.«
Erleichtert wollte sich Katja auf der kleinen
Sitzbank, neben der sie nun stand, niederlassen. Da bemerkte sie, dass
sie bei dem Versuch sich hinzusetzen keinen Widerstand auf ihrem
Gesäß verspürte. Dann ein Blick nach unten und Katja
blieb fast das Herz stehen. Während sich Katja mit Lyr
unterhielt, bemerkte sie nicht einmal, dass sie sich schon auf dem
Weg ins Abenteuer befand.
*
Wieder bei Sarah:
Tapfer richtete Sarah weiterhin die
Videokamera auf Katja und das Wesen. Doch es veränderte die
Tatsache nicht, dass Sarahs Arme von der schweren Kamera entsetzlich
schmerzten. Auch die Müdigkeit schien langsam über Sarahs
Körper zu triumphieren. Doch sie kämpfte weiter, gegen die
Müdigkeit, gegen die Krämpfe in den Armen und gegen das
Versagen auf ganzer Linie.
»Darf nicht einschlafen, muss wach
bleiben. Komm schon, Sarah, reiß dich zusammen.«, gab sie im
ständigen Wiederholen von sich.
Doch diesen Kampf verlor Sarah. So sehr sie
auch versuchte, sich wach zu halten. Es gelang ihr nicht, denn am
Ende siegten die menschlich angeborenen Verhaltensweisen. Während
Sarah nun schlief, geschah genau das worauf sie sehnlichst
gewartet hatte, nämlich, dass ein Wunder geschehen mag, das sie als
Beweis auf ihres Vaters Videokamera festhalten konnte. Mit diesem
Beweis hätte sie endlich Hilfe für das arme Mädchen
herbeirufen können. Doch dieser Traum schien ausgeträumt
zu sein, oder?
*
Zur gleichen Zeit bei Katja:
»Oh mein Gott, oh mein Gott, ich schwebe
ja!« Doch eigenartigerweise hatte sie nun keine Angst mehr,
ja, sie fühlte sich sehr gut.
Genau wie Norman sah Katja etwas traurig der
kleinen Sitzbank und dem dazu gehörenden Bahnhäuschen
nach, das in ihrem optischen Blickfeld kleiner und immer
kleiner wurde, bis schließlich nichts mehr zu erkennen war.
Auch das Haus in dem Katja geboren wurde, wo sie bisher glückliche
Jahre mit ihrer Mutter und dem Hund Wuschel verbrachte, wurde
zunehmend zu einem unscheinbaren Punkt. Einem Punkt, der in einer
solchen Höhe bedeutungslos wurde. Wie so vieles auf ihrem
Heimatplaneten. Ja, bei diesem Anblick wurde Katja die Allmacht
Gottes bewusst und wie klein und unbedeutend die Menschen in diesem
Verhältnis doch sind. Gierig sah sie ihrem geliebten Planeten
noch einmal nach. Mit flinken Augen, haschend nach allem was er ihr
an seinem Aussehen noch zu bieten hatte. Als wolle Katja sich
verabschieden und das für immer. Je höher sie in den
Himmeln schwebte, umso mehr kam ihr der eigene Heimatplanet fremd
vor. Auch ihr Planet war von einer Schönheit geprägt, dass
Katja nicht verstehen konnte, wie man einen solch anmutenden
Planeten, der unser aller Menschen zu Hause ist, solch tiefe Narben
zufügen konnte. Sie spürte, dass die Erde sehr krank war
und weinte. Und sie begriff schnell, dass diese Krankheit, die sie
hatte, unheilbar war. Dass es kein Gegenmittel dafür gab! Diese
Krankheit hieß Homo sapiens, nämlich der Mensch, der ohne
Rücksicht auf die kommenden Generationen und ohne Rücksicht
auf diesen schönen blauen Planeten Raubbau ausübte und
weiterhin ausüben wird. Traurig und ein bisschen schwer ums
Herzchen, bekam sie Heimweh. Dann sprach sie einen Gruß an
alle Menschen auf Erden aus.
»Gott schütze und behüte euch
heute, morgen und in aller Ewigkeit. Meine Gedanken sind immer bei
euch.« Katja war ein sehr gläubiges Mädchen.
Nicht nur, dass die Erziehung für Katjas
Glauben ausschlaggebend war. Nein, im Gegenteil, sie fühlte sich
schon sehr früh zu Gott hingezogen. Sie wollte als Vorbereitung
für den Beruf, den sie sich insgeheim wünschte, in einen
kirchlichen Orden beitreten, um später einmal Nonne zu werden.
Und das trotz ihrer Träume von der großen Liebe. Aber
das war für ein sechzehnjähriges Mädchen in diesem Alter
ganz Normal. Sie brachte es nicht fertig, ihre Mutter alleine zu
lassen. Denn als angehende Nonne hätte sie in ein Mädchen-Internat
und anschließend als Novizin in ein Kloster eintreten
müssen. Nicht dass ihre Mutter etwas dagegen gehabt hätte,
nein, im Gegenteil, ihre Mutter wäre sicherlich sehr stolz auf
sie gewesen. Nein, Katja wusste, dass sich ihre Mutter sehr einsam
fühlte seit Papa gestorben war. Und genau deshalb klammerte
sich ihre Mutter noch mehr an sie. Ihr Vater kam nach einem
Autounfall nicht mehr nach Hause, er erlag noch während der
Fahrt auf dem Weg ins Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Ihre
Mutter hatte diesen tragischen Verlust ihres Mannes niemals so
richtig überwunden. Immer höher stieg Katja empor, so dass
sie schließlich den Horizont, das Ende der Landschaften sehen
konnte. Wie einem Wunder gleichend und in göttlicher Anmut und
nur wenigen vergönnt, durfte sie mit Gottes Gnaden ihren
Erdenball in seiner ganzen Pracht und Schönheit sehen.
Geblendet durch die Schönheit ihres Heimatplaneten, der in
einem Azurblau erleuchtete, gab dieser Planet Katja das Gefühl,
dass er der allein Herrschende in diesem Universum sei. Für
einen kleinen Moment vergaß sie alles um sich herum, bis ihr
schließlich auffiel, dass sich die Erde von ihr nicht mehr
entfernte. Katja versuchte sich in die Gegenrichtung zu drehen von
wo sie das Universum überblicken konnte. Was ihr zudem auch
nicht leicht zu fallen schien, denn sie befand sich ja noch immer im
Schwebezustand. Sie kam sich allmählich einsam vor.
»Ich kann dass nicht verstehen, warum
lässt man mich in trostloser Leere alleine?«, gab Katja
im Selbstgespräch von sich.
Sie kam sich
nicht nur einsam vor, sondern sie begann sich auch allmählich
zu langweilen. Kein gedankliches Wort drang seit Beginn dieser Reise
von Lyr in ihr Gedächtnis. Es schien so, als wäre dies
alles nur ein außerirdischer Gag, den sich Lyr da leistete.
Doch Katja sollte sich irren. Plötzlich glaubte sie Gesang wahrzunehmen.
Zwar sehr, sehr leise aber immerhin noch hörbar. Und
es war nicht gedanklich, wie sie es von Lyr gewohnt war, sondern fast
so, als befände sie sich zu Hause. Ja, zu Haus und alleine in
einer Turnhalle wo sich Worte wie aus einem Echo wiederfanden. Es
war für sie ein wunderbares Gefühl, menschliche Stimmen zu
hören. Doch woher kamen diese Worte. Katja lauschte.
Vielleicht bildete sie sich diese Stimmen ja nur ein. Und vielleicht
waren die letzten Erlebnisse zu viel für sie.
*
Zur gleichen Zeit bei Norman:
Norman langweilte sich zu Tode. Hatte er doch längst alle seine Lieder
gesungen die er kannte, um sich die Zeit zu vertreiben. Er überlegte,
wie er die Zeit totschlagen könnte, bis sich dieses Wesen
wieder bei ihm meldete. Norman begann mit seinen Armen zu schwingen
als wäre er ein Vogel. Dann zu Kraulen als wäre er ein
Schwimmer und siehe da, er konnte sich langsam um seine eigene Achse
drehen. Jetzt sah er die Erde auf dem Kopf stehend. Es war für
ihn der einzige Anhaltspunkt der ihm zeigte ob er sich auf dem Kopf
befand oder nicht. Norman wusste natürlich, dass es im Weltraum
kein unten oder oben gab. Es fehlte halt einfach die Schwerkraft,
die dies bestimmte. Und als er wie ein Clown wirkend so weiter
zappelte, glaubte er, ihn träfe der Schlag.
»Da... das gibt es doch nicht, ich
glaube, jetzt habe ich wirklich den Verstand verloren. Das ist
bestimmt der Weltraumkoller.« Norman hatte nicht den Verstand
verloren, denn was er sah entsprach der Wirklichkeit.
»Da drüben ist ja ein Mädchen,
ja ein Mädchen.« Und Norman begann zu schreien, er schrie
und zappelte was das Zeug nur hergab, als ginge es um sein Leben.
»Mist, warum reagiert sie denn nicht, was
mache ich denn jetzt nur?«, gab er sich im ständigen
Selbstgespräch wieder.
Norman beschloss, von nun an das Mädchen
nicht mehr aus den Augen zu lassen. Das Verzwickte daran war, dass
sich das Mädchen, also Katja, etwa dreißig Meter mit dem
Rücken zu ihm befand. Wie sollte sich nun Norman aufmerksam
machen, wenn sie ihn scheinbar nicht hören konnte. Er beschloss,
zu dem Mädchen hinüber zu schweben, indem er wie wild mit
seinen Armen zu rudern begann. Und tatsächlich, es
funktionierte. Doch es ging mehr als nur langsam voran. So langsam,
dass Norman kaum einen Unterschied feststellen konnte, ob sich der
Abstand zwischen dem Mädchen und ihm verringerte.
*
Als es schließlich Katja gelang, sich
nach längerem Umherzappeln endlich in die Richtung zu drehen,
von wo diese leisen Stimmen herkamen, konnte sie vor Freude keinen
Muckser mehr von sich geben. Sah sie doch tatsächlich einen
jungen Mann ungefähr 25 Meter entfernt, zappelnd wie ein Clown
wirkend vor sich her schwebend.
Katja erkannte sofort, dass sich der junge Mann
in der gleichen Situation befand wie sie.
»Das muss dieser Norman sein, von dem
mir Lyr erzählte, der angeblich mein Bruder sein soll.«,
sprach sie laut vor sich her.
Katja hatte nicht vor, Norman etwas davon zu
erzählen, noch nicht, vielmehr wollte sie erst einmal abwarten,
wie sich die Situation, in der sie sich befand, entwickelte. Zudem
wiegte die Freude, dass sie nicht mehr so alleine im Weltall war,
mehr als das eigentliche Problem in dem sie sich befand.
Katja hörte zwar keinen Gesang mehr,
dennoch vernahm sie nun seine Rufe. Doch sie verstand kein Wort.
Noch zu weit voneinander entfernt befanden sich die beiden.
Komisch, auf der Erde wären die
fünfundzwanzig Meter, wenn man sich laut unterhielte, kein
Problem gewesen. Anscheinend klappt das hier im Weltraum nicht so
einfach. Muss auf irgendeine Weise versuchen näher an Norman
heran zu kommen, dachte sie sich, was sie auch glatt in die Tat
umzusetzten begann.
Wie schon einmal angesprochen, befanden sich
Katja und Norman in eine Art künstlicher und für das
menschliche Auge nicht sichtbaren Blase. Diese Blasen waren gefüllt
mit Sauerstoff und mit allem was ein Mensch zum Überleben
brauchte. Selbst Nährstoffe in einer Art Gas-Form waren
vorhanden. Auch war es möglich, diese Hülle zu fühlen
und sogar für eine kurze Zeit zu durchdringen, wobei sich aber
diese unsichtbare Energiestuktur sofort wieder in einem bestimmten
Radius um die menschlichen Köper formte. Auch das Sprechen,
also von sich Töne geben, waren in diesen und von den Dogon
künstlich erschaffenen Luftblasen möglich. Doch nur
schwerlich drangen ihre Stimmwellen nach außen, so dass es
nicht verwunderlich war, dass Katja und Norman hier und da einige
Schwierigkeiten hatten sich zu verständigen. Normalerweise
durften nach der Gesetzmäßigkeit des uns bereits
bekannten Raumes überhaupt keinerlei Stimmen durch den
Weltenraum dringen. Doch da halfen die Dogon ein wenig nach. Wie man
erkennen konnte, waren die Dogon den Menschen weit, weit voraus.
Katja musste lächeln, als sie Norman so
umherzappeln sah. Zu komisch sah er doch in dieser Situation aus.
Doch es nützte nichts. So beschloss Katja, Norman nachzuahmen,
um ihm halbwegs etwas entgegen zu kommen. Langsam, ja unendlich
langsam ging es voran. Doch dann war es endlich geschafft. Bis auf
zwei bis drei Meter hatten sich die beiden, und das wörtlich
gesprochen, an sich herangezappelt. Still war es um Katja und
Norman geworden. Streng und begutachtend fixierten sich die beiden.
Beide hatten die gleichen Gedanken und Sehnsüchte, sich jetzt
in die Arme zu nehmen. Sich einfach fallen zu lassen, um dem Gefühl
der Liebe und Freundschaft nahe zu sein. Einfach das Gefühl
der Geborgenheit wiederzufinden. Doch weiter konnten sie sich
nicht einander nähern, irgendetwas hielt sie davon ab. Als
befände sich eine unsichtbare Mauer zwischen Ihnen. Und so
blieb es zunächst bei dem noch gut 2 bis 3 Metern Abstand.
»Hallo, Hä, bist du ein Mensch?«
gab Norman etwas zögerlich zu seinem Besten.
»Na klar bin ich ein Mensch, oder was
glaubst du zu sehen?« Katja dachte, dass Norman durch dieses
Erlebnis seinen Verstand verloren hätte.
»Verzeih, es könnte ja sein...«
»Was könnte sein?«,
unterbrach Katja den noch für sie unbekannten jungen Mann.
Außer dass dieser ihr leiblicher Bruder
sein soll, war er ja für sie ein völlig fremder Mensch.
Katja bemerkte Normans Nervosität und
genoss anscheinend ihre weibliche Überlegenheit, so dass sie
gespannt auf ein Kontra von Norman wartete. Aber das Kontra blieb
aus. Stattdessen kam eine ängstliche Stimme hervor.
»Du könntest dich ja verkleidet und
die Gestalt von uns Menschen angenommen haben. Nicht wahr? Ich meine,
dann hättest du ja gute Chancen, mein Vertrauen zu gewinnen, um
mich so besser aushorchen zu können.« Normans Vermutung
klang für Katja gar nicht mal so unberechtigt.
»Sicherlich, da könntest du Recht
behalten, aber das gleiche könnte ich auch von dir behaupten.
Woher soll ich denn wissen, dass du mir nichts vorspielst?«
kam freundlich aber bestimmend von ihr als Argument.
Norman gab auf Katjas Gegenfrage keine
Antwort, so dass nur noch eine Frage offen blieb.
»Bist du Katja?«
Auch Katja gab Norman keine Antwort.
»Du, bist du Norman?«
Beide sahen sich verdutzt an, als könnten
sie nicht bis drei zählen. Jeder von Ihnen dachte als einziger,
dessen Namen zu kennen.
Das ging einige Zeit so weiter, bis sie sich
letztendlich einigten.
»Sag mal Katja, hat dir das Wesen noch
mehr von mir erzählt?«
»Norman, mehr als deinen Namen, weiß ich
auch nicht von Lyr.«
»Katja, wer ist Lyr.«
Natürlich hatte Katja ein bisschen mehr
von Lyr erfahren, wie zum Beispiel, dass Norman ihr Bruder sein soll.
Dennoch war der Zeitpunkt noch nicht gekommen, um es Norman zu sagen.
Norman staunte nicht schlecht, als er von Katja
hörte, dass sie sich einen Namen für das Wesen ausgedacht hatte.
»Auch sein Volk bekam einen Namen. Nämlich Dogon.«
»Wie findest du das, Norman?«
Gespannt wartete sie auf seine Antwort.
»Mann, das finde ich echt prima von dir,
Katja und ehrlich gesagt wurde dies auch Zeit. Das ging mir echt
auf die Nerven, Lyr immer als Wesen oder Ding bezeichnen zu müssen.
Dass ich selbst nicht auf diese Idee gekommen bin, echt schwach von
mir. Aber sag mal Katja, wie kommst du auf die Namen Lyr und Dogon?«
»Ich dachte mir schon, dass du danach
fragen wirst. Der Name Lyr stammt von einem Stern aus einem
Sternbild. Und der Name Dogon, der stammt von unserer guten alten
Erde. Da lebt nämlich ein Volk in Afrika, fünfhundert
Kilometer südlich von Timbuktu, die diesen Namen tragen. Und
diese Dogon besitzen einige Geheimnisse von dem Universum die sie
gar nicht wissen konnten. So primitiv wie sie auch heute noch
leben.«
Norman schien dieses Thema zu interessieren.
»Und was sind das für Geheimnisse, Katja?«
»Nun Norman, das sind Stämme, die
sehr viel über das Weltall wissen. Diese Dogon haben angeblich
ein jahrtausendealtes Wissen, das sie sich hätten gar nicht
aneignen können. Es geht zum Beispiel um Malereien, die man in
einigen Höhlen gefunden hat. Angeblich soll dort eine
Höhlenzeichnung existieren, wo man den Stern Sirius sehen,
konnte.«
»Was ist da schon dabei, Katja, den
kann man doch wenn dass Wetter mitspielt mit dem bloßen Auge
sehen.«
»Ach Norman, das weiß ich doch auch.
Lass mich doch bitte ausreden. Also, wie schon gesagt, kann man
auf einer der zahlreichen Malereien den Stern Sirius sehen. Aber
das Besondere daran ist, dass da noch ein kleinerer Stern zu sehen
ist, sozusagen ein Begleitstern, ein Weißer Zwerg, wie man ihn
heute bezeichnet. Und da ist ja in der heutigen Zeit auch nichts
mehr Ungewöhnliches daran. Aber die Tatsache, dass diese
Zeichnung tausende von Jahren alt ist, ist schon enorm. Denn diesen
Begleitstern kann man mit dem bloßen Auge gar nicht sehen.
Auch nicht bei einer der schönsten Sternennächte. Dieser
Begleitstern wurde erst vor wenigen Jahren mit einem dieser neuen
Elektronenteleskope entdeckt. Das ist schon erstaunlich, wie
konnten die Dogon von der Existenz dieses Begleitsterns wissen, wenn
man ihn nur mit einem solchem Teleskop sehen kann, zumal es damals
ja solche technische Errungenschaften noch gar nicht gab? Na ja, und
da dachte ich mir, diese Dogon sind geheimnisvoll, unser Wesen ist
geheimnisvoll, also warum gebe ich denn nicht Lyrs Volk den Namen
Dogon.«
»Ganz deiner Meinung, Katja.«
Norman war begeistert, dass er eine solch kluge
Partnerin von Lyr bekam.
»Sag mal Katja, ist dir aufgefallen, dass Lyr uns gegenseitig nicht
viel voneinander erzählt hat. Ich meine, außer deinem Namen weiß
ich nicht viel von dir.«
»Ja Norman, jetzt wo du es mir sagst. Eigenartig.«
Norman und Katja verfielen in einer
gedanklichen Vertiefung. Und fast gleichzeitig richteten sich ihre
Blicke sehnsüchtig zu dem wunderschönen azurblauen
Planeten, der ihr Heimatplanet war, die Erde. Dann sahen sich die
beiden mit einem hoffnungsvollen Blick tief in die Augen, als wollte
jeder von ihnen sagen, Gott sei Dank, ich bin nicht alleine. Ich bin
froh, dass du da bist. Das Warten auf den Beginn der Reise wurde
immer unerträglicher.
»Wo er nur bleibt?«, sagte Katja zu Norman.
»Das möchte ich auch gerne wissen. Sag Mal Katja, sollten wir nicht
versuchen, Lyr gedanklich zu rufen?«
»Ich glaube, wir geben ihm noch ein
wenig Zeit, er wird sich mit Sicherheit bald melden.«
Norman und Katja befanden sich wahrlich in
keiner angenehmen Situation. Erst wurden sie in einem nicht ganz
freiwilligen Moment entführt und schließlich in dunkler
Nacht, quasi treibend alleine im Weltall gelassen. Die beiden
konnten sich zwar sehen und miteinander reden, aber dennoch gelang
es ihnen nicht, sich zu berühren. Wie schon gesagt, befand sich
jeder von beiden getrennt in einer künstlichen Luftblase. Als
die beiden nämlich den Versuch starteten, sich zur freudigen
Begrüßung zu umarmen, hielt sie die künstliche
Luftblase, also eine unsichtbare Kraft, davon ab. Wie schön wäre
es, wenn sie sich die Hände reichen könnten, um sich ganz
fest in die Arme zu nehmen. Und beide fragten sich, warum Lyr, das
Wesen, sie voneinander getrennt hatte. Und dann kam Katja eine Idee.
»Norman, versuchen wir doch einmal, uns
ganz stark gegen diese unsichtbare Wand zu lehnen, und wenn das
nichts nützt, dann probieren wir es zu zerreißen, okay?«
»Also, Katja ich weiß nicht so recht, ob
das eine gute Idee ist. Ich habe so das dumpfe Gefühl, dass
wir auf dieses, na ja, sagen wir einmal künstliches Schutzschild,
auf irgendeine Art und Weise angewiesen sind.«
Norman lag mit seinem Gefühl gar nicht
mal so falsch. Mag sein, dass Katja sich als Gefangene fühlte.
Sie kam zu dem Entschluss, dass diese unsichtbare Luftblase nur dazu
diente, Norman und sie Gefangen zu halten. Dennoch wird Katja wohl
oder übel den Verdacht ablegen müssen.
»Norman, wie kommst du darauf, dass ein
Gefängnis auf irgendeine Art brauchbar sein könnte?«
Katja wartete gespannt auf Normans Antwort.
»Na ja, Katja, mag schon sein, dass du
Recht hast, aber wie kannst du mir erklären, dass wir im
Weltraum atmen können?«
»Du hast
Recht, daran habe ich gar nicht gedacht, da könnte ne Menge
schiefgehen.«
Norman und Katja merkten sehr schnell, wie
mächtig sich diese Wesen entpuppten. So beschlossen sie, in
beiderseitigem Einvernehmen so lange auszuhalten, bis Lyr sich
wieder melden würde. Norman und Katja wurden leicht nervös,
fühlten sie sich doch von Lyr im Stich gelassen. Während
sich auf der Erde in manchen Ländern die Abenddämmerung
einstellte, blieb es abgesehen von dem wunderschönen Leuchten
ihres Heimatplaneten und dem Funkeln einiger Sterne in den Weiten
des Universums bei den beiden tiefe schwarze Nacht.
»Sieh doch, Katja, ist sie nicht
wunderschön, unsere Erde?«
»Oh Norman, sie ist doch wirklich mit
nichts zu vergleichen. Man spürt förmlich die ganze
Allmacht Gottes. Unglaublich.«
*
Bei Sarah, nur an einem etwas späteren Zeitpunkt:
Sarah saß noch immer in gebückter
Haltung, den Kopf fast in ihrem Schoß hängend, in ihrem
Rollstuhl. Wie schon gesagt, schlief sie an ihrem Fenster
beobachtend vor Müdigkeit in ihrem Rollstuhl ein. Und das
genau an einem Zeitpunkt, wo das Wunder, auf dass sie mit sehr viel
Geduld warten musste, seinen Lauf nahm. Doch Sarah hatte Glück
im Unglück.
Langsam öffnete sie ihre Augen. Obwohl
sie keinen Grund hatte, zufrieden zu sein, zeichnete sich ein
sanftes Lächeln in ihr Gesicht.
Hatte sie doch tatsächlich den großen Moment verpasst.
»Ach... war das ein schöner Traum.
«, gab sie noch unbeschwert von sich.
Dann hob sie gemächlich ihre Arme zum
Ausstrecken hoch. Noch eine kurze Orientierung und Sarah legte
erschrocken ihre Hände auf ihr Gesicht.
»Um Gottes Willen, das kann doch nicht
wahr sein! Ich bin ja eingeschlafen, verdammter Mist nochmal.«
Doch wieder einmal wurde sie von Glück im Unglück gesegnet.
Während sie einschlief, sank die
Videokamera, die sie noch fest in beiden Händen hielt, auf das
Fenstersims herab.
»Mann, wie konnte mir das nur passieren.
Ah, die Kamera liegt noch in der gleichen Richtung auf meinem
Fenstersims. Hoffentlich zeigt sie noch auf mein Ziel. Ich will doch
gleich mal nachsehen, ob sie auch alles brav aufgezeichnet hat.»,
dachte sie sich insgeheim.
Sarah nahm nicht sofort die Kamera vom
Fenstersims, um sie mit ihren Blicken neu zu justieren. Sie ließ
die Kamera in der jetzigen Position liegen, um zu sehen, ob die
Richtung auf die sie zeigte auch stimmte. Langsam und behutsam ging
sie mit ihrem rechten Auge an den Sucher, um nochmals zu
kontrollieren. Doch was sie sah, ließ ihren Pulsschlag auf 180
Schläge pro Minute hochgehen.
Um Gottes Willen, da... da... das Mädchen,
di... die Moser ist verschwunden. Ja, die Katrin Moser ist weg,
einfach weg. Alles ist weg. Das Mädchen, der Nebel und das
Wesen. Das gibt es doch nicht. Hoffentlich ist alles auf der Kamera
drauf. Meine Güte, wie konnte ich nur einschlafen. Was ist, wenn
dem Mädchen etwas passiert ist? Ich werde nie mehr glücklich
sein können. Was mach ich denn nur. Alles war umsonst. Ja,
Sarah machte sich immense Vorwürfe. Natürlich wollte sie
einen Beweis für das Wunder, das sich da an der kleinen
Sitzbank neben dem Bahnhäuschen abgespielt hatte. Aber sie wollte es
nicht auf Kosten eines Menschen, ja vielleicht sogar auf Kosten
eines Menschenlebens.
Und natürlich war dieses Treiben endlich
einmal eine Abwechslung für Sarah, die sonst gelangweilt in
ihrem Rollstuhl sitzend, in ihrem Zimmer geistig dahinvegetierte.
Nein, dieser Fall wurde für Sarah mehr als ein Zeitvertreib oder
eine geistige Erfrischung. Vielmehr konnte sie endlich einmal einem
Menschen helfen, ihm trotz ihrer Behinderung zu Seite stehen. Und
nun sollte alles umsonst gewesen sein? Das durfte und wollte sie
nicht zulassen. Die einzige Hoffnung, die ihr noch blieb, war die
Videokamera ihres Vaters. Denn wenn Katja Moser während sie
schlief etwas zugestoßen war, dann hätte sie
wenigstens einen Beweis dafür. Einen grauenvollen Beweis, den
sie vermutlich nie mehr in ihrem Leben vergessen würde.
Kapitel 3, Das Raumschiff
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
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