Kapitel 2, Die Entführungen, Teil 3
Ca. Hundert Meter von Katja entfernt, in
einem der bäuerlichen Familienhäuser, hinter einem dieser Fenster:
Beobachtend und sichtlich irritiert saß
die gelähmte Sarah Hübner gebannt in ihrem Rollstuhl und
sah dem Treiben bei der kleinen Sitzbank unmittelbar neben dem
Bahnhäuschen zu. Sarah war 15 Jahre alt. Sie bekam, als sie zwei
Jahre alt war, die Kinderlähmung und war seither an ihren Rollstuhl
gefesselt. Sie war ein Mädchen das nicht viel aus dem Hause
kam. Und das war ihr auch Recht so. Als sie mit sieben Jahren in
die Schule für Gehbehinderte musste, brach für Sarah eine
kleine Welt zusammen. Vor diesem Tag hatte sie große Angst. In
vielen Augenblicken ihres bisherigen Lebens saß sie oft
alleine an ihrem Fenster und beobachtete Kinder beim Herumtollen und
Versteckspielen. Sie sah ihnen oft auf die Beine, die flink wie ein
Wiesel hin und her stampften. Wie flink sie doch einen Sprung über
Stock und Stein meisterten und wie gerne sie doch dabei gewesen
wäre. Schon sehr früh musste Sarah erkennen, dass sie doch
anders war als die meisten Kinder. Schwer war es für sie, zu
begreifen, dass sie niemals so sein kann wie die anderen Kinder. Und
vor allem, dass sich diese Situation niemals ändern sollte. Sie
konnte und wollte sich nicht damit abfinden. Auch in der Schule
wurde sie das eine oder andere Mal aufgeklärt. Sie sei nicht
der einzige Mensch auf Erden der an einen Rollstuhl gefesselt sei.
Ja, und sie möchte sich doch ein wenig mehr bemühen um mit
ihren Gleichgesinnten auszukommen. Trotz alledem brannte sich ein
Gedanke, der ihr in schweren seelischen Momenten half, in ihr Wesen
ein, dass sie irgendwann einmal flink wie ein Wiesel mit den Jungen
und Mädchen am Bahngelände herumtollen konnte. Und daher
dauerte es nicht lange, dass Sarah sich strickt weigerte in diese
Schule für Gehbehinderte zu gehen, so dass ihre Eltern
schließlich nachgaben und ihr einen Privatunterricht von zu
Hause aus ermöglichten. Von dieser Zeit an begab sich Sarah nur
noch unter der Begleitung eines ihrer Elternteile oder Verwandten
außer Haus. Man kann sich vorstellen, dass dies nicht oft
vorkam, weil beide Eltern berufstätig waren. Sarah verbrachte
sehr viel Zeit in ihrem Zimmer und an dem dazu gehörenden
Fenster. Und warum an ihrem Fenster? Nun, das hatte für sie
einen ganz bestimmten und erfreulichen Grund. Sarah hatte nämlich
einen Freund, ja einen sehr kleinen Freund sogar. Einen Buntspecht.
Ja, Sie hörten richtig, einen süßen kleinen
Buntspecht. Über die durchaus ungewöhnliche
Freundschaft sprach natürlich schon die ganze Nachbarschaft,
was Sarah sehr stolz machte. Ab und an kamen auch Kinder aus dem
Nachbarsdorf an ihr Fenster, um einmal diesen kleinen Specht zu
sehen. Doch daraus wurde nur selten etwas. Jedesmal, wenn ihr
kleiner gefiederter Freund jemanden bemerkte, flog er in Windeseile
davon. Nur bei ihr, seiner Lebensretterin, machte er eine Ausnahme. In
einer stürmischen Nacht flog er versehentlich, vermutlich vom
Lichtschein angelockt, gegen Sarahs Fenster und brach sich dabei den
rechten Flügel. Als Sarahs Vater am nächsten Morgen das
Fenster zum Belüften öffnete, fand er den kleinen Piepmatz
zitternd vor Kälte und Schmerzen am äußeren
Fenstersims. Von da an hegte und pflegte Sarah den kleinen
Buntspecht wieder gesund. Wofür er sich auch mit liebevollen
und freundschaftlichen Gebärden erkenntlich zeigte. Sehr oft
flatterte der kleine Piepmatz an Sarahs Fenster und machte ihr mit
seinem ständigen Zetern seine freundschaftliche Aufwartung.
Als Dank bekam er von Sarah eine deftige Ration Vogelfutter. Was
aber diesen Vogel so einzigartig machte, ist die Tatsache, dass
Buntspechte doch sehr scheue Waldvögel sind. Sie gab ihrem
kleinen Vogel keinen Spitznamen, sie lockte ihn viel lieber mit
einem ganz besonderen Pfeifton. Einige Nachbarskinder versuchten
öfter, diesen ganz speziellen Pfeifton zu imitieren. Doch
bisher gelang es niemandem, dieses Meisterstück nachzuahmen, das
anscheinend nur Sarah beherrschte. Nur heute scheint ihr kleiner
Freund keine Zeit für sie zu haben. Ein bisschen machte sie
sich schon Sorgen.
Sarah schenkte noch immer dem jungen Mädchen
ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihr fiel zudem diese seltsame
Wolkenbildung auf, die wie aus dem Nichts auftauchte und sich allmählich
um das junge Mädchen zu schleichen schien.
»Merkwürdig, sehr merkwürdig.
So etwas habe ich noch nie gesehen. Komisch, nirgends ist Nebel zu
sehen, außer bei dem Mädchen.«, dachte Sarah laut.
Sie konnte sich
in ihrer Nervosität kaum in Zaum halten, viel zu aufregend war
diese Situation und das Treiben an der kleinen Sitzbank. Doch halt,
sie bemerkte, dass diese Nebelwolke zu pulsieren begann. Gebannt und
von einer grenzenlosen Neugier gepackt, sah sie weiterhin durch ein
schweres Fernglas zu, um ja nichts zu verpassen was sich dort
abspielte. Wie eine Science-Fiction-Szene kam ihr das Geschehen
vor. Reaktionsschnell richtete Sarah ihr Fernglas in verschiedene
Richtungen, um sich nach einem Kamerateam umzusehen. Es könnte
ja sein, dass hier zufällig ein Film gedreht wurde. Doch sie
konnte nichts dergleichen entdecken. Als sie wieder ihr Fernglas auf
das eigentliche Ziel richtete, schlug ihr fast das Herz bis in den
Hals. Was sie da zu sehen bekam verglich sie doch eher mit einem
Horrorszenario. Denn während Sarah dem Treiben weiterhin zusah,
bemerkte sie, dass sich diese eigenartige Nebelwolke etwas lichtete.
Sie sah zu ihren Entsetzten, dass sich neben
dem Mädchen noch jemand aufhielt, den sie aber wegen der zu
dichten Nebelwolke nicht gut sehen konnte. Sie konnte gerade so viel
erkennen, dass dieser Jemand gar kein Jemand sein konnte. Sie wusste
nicht, wie sie dieses Etwas definieren sollte, denn dieses Etwas
hatte keinen Unterleib. Die vorhandene Tatsache war für Sarah
eindeutig, sie sah keinen Unterleib und konnte auch keine Beine
erkennen die zum Unterleib führten, also was konnte es sein.
Und dann war da noch dieses eigenartige bläuliche Licht, das
jetzt stärker zu pulsieren begann. Sarah zitterte am ganzen
Leib, so dass es ihr schwer fiel, das Fernglas ruhig zu halten. In
ihr kamen Zweifel auf. Vielleicht hatte dieses Ding ja doch Beine
und sein Unterleib wurde nur durch dieses eigenartige Licht
überstrahlt.
»Was es wohl von dem Mädchen will?«, dachte Sarah laut.
Sie sah sich bei dieser Gelegenheit das
Mädchen noch einmal genauer an. Es saß noch immer
regungslos und erstarrt wirkend in einer gezwungenen Haltung etwas
schräg und gebeugt auf der kleinen Sitzbank neben
dem Bahnhäuschen. Dann fiel Sarah auf, dass dieses Mädchen
jemandem sehr ähnlich sah und bei noch genauerem hinsehen war
sie sich sicher.
»Moment mal, die kenne ich doch, da...
das ist doch die Moser, ja genau, die Katja Moser. Die trug doch
sonst ihre Haare heller. Sie hat sich wohl die Haare gefärbt.
Aha, deshalb ist sie mir nicht gleich aufgefallen. Und wo ist denn
ihr Hündchen? Ging doch sonst nicht ohne ihren Hund spazieren.
Na ja, der wird ihr mal wieder durchgegangen sein, dieser blöde
Köter.«, sagte Sarah überzeugend laut über
den Hund der Katja M.
Sarah konnte Katjas Hund nicht ausstehen,
obwohl sie ein sehr tierliebender Mensch war. Aber dieses eine
keifende, verfressene und kläffende Tier ging ihr eben gegen
den Strich. Sehr oft nahm Wuschel reißaus von seinem Zuhause und
jagte sowohl die Nachbarskatzen wie auch die dazugehörenden
Hühner der Nachbarn. Dieser Hund machte auf alles, was da
keuchte und fleuchte Jagd. Auch ihren über alles geliebten
Buntspecht, der öfter unterhalb von Sarahs Fenster die Reste von
seiner Belohnung aufpickte, verscheuchte dieser Wuschel mit
besonderer Vorliebe. Sehr oft hatte Sarah das Gefühl, als
wollte dieser Hund sie damit ärgern. Sie war keine sehr gut
bekannte Freundin von Katja Moser. Außer sich ab und zu beim
ortsansässigen Bäcker zu sehen, war von Katja nicht viel
zu erzählen. Und ab und an ein Winken, wenn Katja eben mal mit
ihrem Hund Wuschel den Wanderpfad entlang Richtung Bahnhäuschen
spazieren ging. Tja, in so einer kleinen Dorfgemeinde wie
Rednizkleineck kennt sich nun einmal jeder. Tapfer hielt Sarah die
Stellung. Sie wendete ihren Blick von dem Wesen zu Katja Moser und
umgekehrt. Doch immer, wenn sie in Katjas starre Augen blicken
musste, fühlte sie, wie schrecklich das alles für dieses
Mädchen sein musste. Und Sarah bekam Mitleid.
»Mist nochmal, was mach ich denn jetzt
nur, wenn ich das jemandem erzähle, wird mir das sowieso
keine Menschenseele glauben. Ich muss versuchen, diesem Mädchen
auf irgendeine Art und Weise zu helfen. Denk nach, Sarah, denk nach,
sonst fällt dir doch auch immer etwas ein. Mm... Moment mal,
Papa hat doch eine Videokamera in seinem Arbeitszimmer.«,
sagte sie im fortwährenden Selbstgespräch laut von sich.
Sarahs Vater verlegte wegen ihrer Behinderung
sein Arbeitsbüro aus der Stadt in das eigene Zuhause, wo er
sich bei ihr in Reichweite befand. Obwohl er auch hier nicht viel
Zeit für seine Tochter aufbringen konnte, befand sie sich doch
in guter Obhut. Viel zu tief hatte sich der Schmerz in seinem Herzen
eingebrannt, als damals das Schicksal Sarahs Leben auf so tragische
Weise veränderte. Viel zu groß war die Angst, es könnte
das Schicksal noch einmal bei Sarah zuschlagen. Sarahs Mutter
hingegen blieb in Sachen Beruf keine sonderliche Auswahl. Kündigen
oder weiter arbeiten, Punktum. Sie war eine Pilotin mit Leib und
Seele und das bei einer der größten Fluglinien der Welt.
Dort verdiente sie sehr viel Geld. Als Pilotin war sie sehr viel auf
Reisen und somit gezwungen, auch mal in Hotels zu Übernachten.
Da blieb im Gegenzug natürlich nicht viel Zeit für ein
ganz normales Familienleben. Sarahs Eltern einigten sich, dass
vorerst jeder in seinem Beruf bleibt. Das hatte einige
schwergewichtige Gründe. Denn sie hatten einiges an
finanzträchtigen Abgaben zu entrichten. Zum ersten mussten sie
das Haus abbezahlen. Und zum zweiten musste noch Sarahs
Privatlehrerin bezahlt werden. Es war ja nur Natürlich, dass
Sarahs Lehrerin pünktlich zu jedem Ersten ihren Gehaltsscheck
erwarten konnte. Und auch nicht zu vergessen die Autosteuern,
Versicherungen etc. Tja, in unserem Land ist Schule nun einmal
Pflicht und Gesetz. Dennoch konnte jeder, wenn man das nötige
Kleingeld besaß, seine Kinder in einen privaten Unterricht, wie
zum Beispiel bei Sarah zu Hause, unterrichten lassen. Natürlich
nur, wenn eine staatlich anerkannte Fachkraft mit nachweislichem und
einwandfreien Diplom engagiert wurde. Sicherlich standen Sarahs
Eltern andere Mittel ihrer Tochter gegenüber zur Verfügung.
Wie zum Beispiel, sie doch noch gegen ihren Willen in eine Schule für
Gehbehinderte zu schicken. Doch wer will schon seine Tochter
unglücklich wissen. Wie schon gesagt, lag es an Sarahs
Schicksal, dass ihr in so jungen Jahren widerfuhr. So kam es dann,
dass Sarahs Eltern ihr wenigstens ein paar machbare Wünsche
erfüllten. Ohne selbst Opfer zu bringen ging es nunmal nicht,
wenn man Kinder hat. Sarah überlegte, was sie ihrem Vater für
ein Märchen auftischen konnte um an seine heißbegehrte
Videokamera zu kommen. Ihr Vater erfüllte ihr fast jeden
Wunsch. Doch wenn es um seine Videokamera ging, verhielt er sich wie
ein kleines Kind. Selbst im Urlaub durfte keiner von uns die
Videokamera anfassen, geschweige denn einmal Filmen. Filmen war
meines Vaters Hobby. Sarah war kein Mädchen das gerne log, denn
sie liebte ihre Eltern abgöttisch. Aber eine so eine kleine Notlüge
so dachte sie sich, wird ihr Gott schon verzeihen. Und dennoch
konnte sie ihrem Vater vorerst nicht die Wahrheit erzählen.
Über das was sie vor Ihrem Fenster entdeckte, ja über
dieses ungewöhnliche Ereignis, das ihr ohne handfeste Beweise
sowieso keiner geglaubt hätte. Vater, so dachte sie sich, würde
sich gleich wieder unnötige Sorgen um mich machen, wenn sie ihm
dieses Geschehen mit der Katja zeigen würde. Ja, er würde
glatt zu Katja und diesem Wesen hinrasen und gegen dieses Wesen
kämpfen. Wer weiß, was dann mit ihm geschehen würde.
Niemand wusste ja zu diesem Zeitpunkt, ob und wie gefährlich
dieses Wesen überhaupt war. Also was für eine Geschichte
könnte glaubwürdig klingen. Sie befand sich unter enormen
Zeitdruck. Wie lange noch würde dieses eigenartige Treiben bei
der kleinen Sitzbank neben dem Bahnhäuschen noch andauern. Es
könnte jeden Moment vorbei sein. Sarah machte sich sehr große
Sorgen um dieses Mädchen. Es machte auch den Anschein, dass die
Katja Moser gegen ihren Willen von dieser Kreatur gefangen gehalten
wurde. Sie hatte nicht nur ein ungutes Gefühl, vielmehr auch
ein schlechtes Gewissen. Dem Anschein zufolge war dieses Mädchen
nicht freiwillig in diese Situation geraten. Sah sie doch bei ihren
Beobachtungen, wenn dieser gespenstische Nebel sich ab und zu etwas
lichtete, dieses Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen, von denen
sich das blanke Entsetzen wiederspiegelte. Doch sie blieb auf dem
Boden der Tatsachen. Sicherlich spielte sie schon vorher mit dem
Gedanken, die Polizei zu Hilfe zu holen. Doch was sollte sie den
zuständigen Beamten erzählen? Vor allem, wie sollte sie dem
Beamten klarmachen, dass ein Mädchen von einem nicht zu
identifizierenden Wesen gefangengehalten wird. Oder gar so: »Bitte
kommen Sie schnell in die Ulmenstraße, auf der Rückseite
unseres Hauses ca. 100 Meter bei dem Bahnhofshäuschen an der
kleinen Sitzbank wird ein Mädchen von einem nicht zu
identifizierendes Etwas gegen ihren Willen gefangen gehalten.« Nein
und nochmals nein, dachte sie sich. Die Staatlichen Herren würden
dies für einen schlecht ausgedachten Scherz halten oder mich
gar in die nächstgelegene psychiatrische Anstalt einweisen
lassen.
Nein, so leid mir auch die Katja tut. So kann
ich dem Mädchen nicht helfen. Wer konnte das schon sagen, wie
viele Menschen auf diese Weise verschwanden. Also sehe ich keinen
anderen Ausweg. Erst musste ein einwandfreier und unbestechlicher
Beweis her, damit diesem Treiben von Fachmännern ein Ende
gesetzt werden konnte. Also muss Papas Videokamera her, egal auf
welchem Weg. Und das so schnell wie nur irgend möglich. Noch
ein kurzer Gedanke und schon hatte sich Sarah eine durchaus
glaubhafte Lügengeschichte ausgedacht.
Ich werde Papa einfach erzählen, dass es
mir gelang, meinem Piepmatz ein wirklich gutes Kunststück
beizubringen. Und genau dieses Kunststück würde ich gerne
mit seiner Videokamera aufzeichnen. Und um diese Geschichte noch
etwas mehr an Glaubwürdigkeit zu verleihen, setze ich noch ein
Häubchen auf meiner Krone der Geschichte. Ich werde noch so
ganz nebenbei verlauten lassen, dass ich mit meinem Kunststück
Mama eine Freude machen möchte, wenn sie von ihrer Reise nach
Hause kommt. Dann könnte Papa auf keinen Fall ablehnen, dachte
sie sich aus.
»Ja, das ist eine prima Idee.«,
gab sie im Selbstgespräch von sich.
Oft ertappte sich Sarah beim Selbstgespräch,
was ihr schon so oft von ihrer Privatlehrerin
Frau Hansen verboten wurde. Ihre Lehrerin war eine richtig nörgelnde
Zicke. Ständig hatte sie an Sarahs Benehmen etwas auszusetzen.
Das schickt sich nicht und jenes Verhalten wäre zu
vulgär und sie sollte sich doch etwas mehr um ihr Betragen
bemühen. Nun, dennoch ist sie Sarah richtig ans Herz gewachsen.
Ja man konnte sagen, dass sie für Sarah eine echt gute Freundin
geworden ist. Aber sie fand dies gar nicht so schlimm, sich im
Selbstgespräch wiederzufinden. So kam sie sich nicht so
alleine vor.
»Papa? Papa!« schrie sie aus
voller Kehle.
Als ihr Vater diesen Schrei hörte, fuhr
es ihm durch Mark und Bein. Er befand sich wie immer in einem
wichtigen geschäftlichen Telefonat. Sarahs Vater ist
technisch-graphischer Designer. Aufträge hatte ihr Vater genug, ständig
bekam er sie teils von dem Bürgermeister dieser Gemeinde und
zum Teil von seinem Kundenstamm, den er sich in jahrelanger und
zuverlässiger Arbeit erhalten konnte. Hellwach von dem
schreihaften Ton, den Sarah von sich gab, ließ er doch glatt
den Telefonhörer fallen. Ohne sich weiter mit dem Kunden am
anderen Ende der Leitung zu befassen, stürzte er so schnell er
nur konnte aus seinem Arbeitszimmer die Treppen hinunter. Ja fast
stolpernd bis in den Hochparterre, wo sich Sarahs Zimmer und der
Rest aller Wohnannehmlichkeiten befanden.
»Sarah, Kleines, ich komme.«,
schrie er aufgeregt im Treppenflur auf dem Weg hinunter.
Schnaubend, kreidebleich und in Sarahs Zimmer angekommen, spiegelte
sich Freude und Erleichterung in seinem lächelnden Gesicht
wieder. Freudig darüber, dass mit Sarah alles in Ordnung war,
ließ ihm schnell seinen Schrecken vergessen.
»Hier bin ich Kleines, was ist passiert
und warum hast du denn so laut geschrieen?«
»So beruhige dich doch, Papa, verzeih, ich
wollte dich nicht erschrecken. Weißt du, ich hatte mehrmals nach dir
gerufen und du kamst nicht.«
Sarah begann nun, ihre Sache mit Geschick anzugehen.
»Tut mir Leid Liebes, aber ich hatte ein
wichtiges Telefonat, was wolltest du, Sarah?«
Mit einem schmeichelnden und hoffnungsvollen
Blick sah sie ihren Vater ganz tief in die Augen.
»Hä... Papa, weißst du was?«
begann sie ihre Notlüge zu verkünden.
»Was denn, Liebes?«
Sarah bemerkte, dass ihr Vater anscheinend
nicht sehr viel Zeit hatte und enorm unter Druck stehen musste, was
ihr auch gelegen kam. Mit unverwechselbarem weiblichem
Geschick ging sie gleich in die Offensive über.
»Papa, ich
dachte, dass du es als erster erfahren solltest, dass ich meinen
Buntspecht ein echt schönes Kunststück beibringen konnte.
Und mir ist daraufhin ein echt super dufter Gedanke gekommen. Und
weißt du noch etwas, ich dachte dabei an Mami.«
»An Mami?«, Sarahs Vater sah
seine Tochter an, als könnte er nicht bis fünf zählen.
»Ja, an Mami. Ich dachte mir, wenn Mami
am nächsten Freitag wieder nach Hause kommt, dann könnte
ich ihr ja eine kleine Freude bereiten, indem ich ihr ein kleines
Kunststück vorführe. Ich habe nämlich meinen Piepmatz
ein kleines Kunststückchen beigebracht. Und das möchte
ich Mami gerne vorführen.«
Dann kam ein kleiner verstohlener Blick von
Sarah in Richtung Fußboden. Sarah wollte in diesem Moment den
direkten Augenkontakt an ihren Vater vermeiden, aus Angst, dass er
sie durchschauen könnte.
»Gute Idee, Sarah, aber wird denn dein
kleiner Gefiederter Freund bereit sein, wenn Mama nach Hause kommt?«
»Ach du meine Güte, Papa, daran
hatte ich gar nicht gedacht.«, erwiderte Sarah mit einer
frechen Antwort und ging sofort von Pro in Kontra über.
»Jetzt hab ich es. Wie wäre es,
wenn ich es aufzeichnen würde. Zum Beispiel mit deiner
Videokamera?«
Sarahs Vater verzog geschickt sein Gesicht, um
damit ein absolutes Nein zu Demonstrieren. Noch ein allerliebst und
herzzerreißender Blick von ihr und... ja Sarah war sich schon
das halbe Jawort sicher.
»Stell dir vor, wie sich Mami darüber
freuen würde, wenn sie am Freitag nach Hause kommt. Mami hat
doch Überraschungen so gerne. Habe ich nicht recht, Papi?«
Sarah hatte ihren Vater so sehr in die Ecke
gedrängt, dass er nicht mehr ablehnen konnte, wenn er sein
Gesicht vor Sarah nicht verlieren wollte. Und Sarah sah es ihm auch
an seiner Mimik an, dass er aufgab und dass sie ihm in diesem Fall
haushoch überlegen war. Ja, der liebe Papa hatte keine Wahl
mehr.
Unerträglich war das Warten auf ihres
Vaters Antwort. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, um einen
Videodreh von diesem geheimnisvollen Treiben an der kleinen Sitzbank
zu machen. Denn es durfte jetzt nichts mehr schief gehen. Erst kam
ein Stöhnen dann ein beherzter Seufzer und dann ein gequältes
na ja, weißt du, und dann schließlich die befreiende Antwort
von Ihrem Vater.
»Nun gut Kleines, aber dass du mir ja
schön auf sie acht gibst.«
»Oh, danke, du bist der beste Papa von
der ganzen weiten Welt.«
Erst wollte Sarahs Vater nicht nachgeben, doch
als er ihre strahlenden Augen sah, begleitet von einem wunderschönen
Lächeln, konnte er einfach nicht anders. Denn es kam nicht oft
vor, dass er seine Tochter so heiter und glücklich wie grade
eben zu sehen bekam.
Natürlich wusste Sarahs Vater nicht, dass
dieses Lächeln und ihre strahlenden Augen ihrerseits nur von
dem Erfolg gegenüber ihrem Vater herrührten,
denn innerlich hatte sie Angst, Angst vor dem was sie
erlebte und Angst um das Mädchen Katja Moser.
»Keine Sorge, Papa, ich gebe auf sie
acht, als hinge mein eigenes Leben davon ab.«
»Also, das wollen wir doch nicht
hoffen, Sarah.«
Als Sarahs Vater die Videokamera brachte und
sie sich schließlich wieder alleine in ihrem Zimmer befand,
rollte sie so schnell es nur ging mit Ihrem Rollstuhl und der
Kamera auf dem Schoß ans Fenster. Und wieder kam Angst in ihr
auf, während sie die Kamera einstellte und in Position brachte.
»Hoffentlich ist dem Mädchen
nichts geschehen. Und hoffentlich gelingen mir noch einige Aufnahmen
von dieser mysteriösen Sache.«
Als sie mit der Kamera in Richtung der kleinen
Sitzbank zielte, war sie sichtlich erleichtert. Nichts hatte sich
verändert, rein gar nichts. Noch immer sah man die nebelartige
Wolke, die sich heimtückisch und verstohlen bei der Sitzbank um
das arme Mädchen legte. Und noch immer saß Katja mit
weit aufgerissenen und starren Augen auf der kleinen Sitzbank. So
als würde sie das blanke Entsetzen wiederspiegeln. Sarah
fragte sich so nebenbei, aus welchen Löchern wohl dieses Wesen
herauskroch und was es wohl mit dem Mädchen vorhatte. Ob es
wohl von dieser ihrer Welt war. Das Wesen befand sich noch immer
ganz nah bei dem Mädchen und es schien so, als würde es
Katja Moser nur beobachten.
»Keine Sorge Katja, ich werde dir bald
helfen. Muss zuerst einen absoluten Beweis auf Papas Videokamera
festhalten, um für dich etwas tun zu können. Was ich bis
jetzt auf Band habe, reicht noch lange nicht aus, brauche noch ein
richtiges Wunder.«, sprach Sarah mit zitternder aber
entschlossener Stimme im Selbstgespräch.
Die Videokamera machte Sarah ganz schön
zu schaffen, denn sie wurde inzwischen in ihen Armen schwer wie
Blei. Sie wagte es nicht, die Kamera auch nur einen Moment lang von
dem eigentlichen Ziel beiseite zu schwenken.
Doch trotz alledem musste sie einen
sachbezogenen Verstand behalten. Viel zu wichtig sind diese
Aufnahmen für sie, da sie zugleich als Beweis dienlich sein
sollten.
*
Einige Zeit war vergangen und Katja war der
Ohnmacht nahe. Sie betete im Gedanken und hoffte, dass dieses
traumatische Erlebnis bald zu Ende sein wird. Noch immer sah und
fühlte Katja dieses Wesen vor sich. Es war schrecklich, nicht zu
wissen, ob sie da wieder heil und unversehrt herauskommen würde.
Ihre Angst war nicht zu beschreiben, als würde ihr jemand mit
beiden Händen den Hals zudrücken, fester und fester, so
sehr spürte Katja die Enge in ihrem Hals. Das Atmen fiel ihr
schwer. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie jeden
Augenblick ersticken. Dieses Wesen befand sich nun ganz nah bei
Katja. Auf seltsame Weise und wie ein Wunder durchfloss Katja ein
Gefühl der Zuneigung und der absoluten Liebe, ja urplötzlich
fühlte sie sich zu diesem Wesen hingezogen. Es war ein Gefühl
der Zuneigung, das sie nun zu dem Wesen empfand. Zugleich verspürte
sie keinerlei Angst mehr. Katja fühlte sich nun geborgen, ruhig
und entspannt. Doch plötzlich glaubte sie ein Flüstern
wahrzunehmen. Es wurde zunehmend lauter und lauter, dieses Flüstern,
bis sie schließlich Worte verstehen konnte, die anscheinend von
dem Wesen kamen.
»Dich fürchten du nicht musst.«
Katja glaubte, sich verhört zu haben.
Konnte dieses Wesen tatsächlich ihre Sprache sprechen. Zwar war
sie nicht perfekt aber immerhin konnte Katja dieses Durcheinander
gedanklich zusammenfügen und verstehen. Sie bemerkte, dass sich
der feine Nebel langsam lichtete, so dass sie nun das Wesen besser
erkennen konnte. Ihr stockte der Atem, als sie das erste Mal diese
Kreatur ansehen musste. Sehen musste, weil sie sich noch immer in
einer Art starren Haltung befand. Wahrlich, es war kein schöner
Anblick, ja es war kein schönes Wesen, was sich da vor Katja
zeigte. Sie konnte es zwar wegen des Nebels nicht genau erkennen,
jedoch hatte es Augen und Züge die ein Bisschen den unseren
ähnlich sahen. Man konnte keine Augen-Merkmale, wie zum
Beispiel das Augenweiß oder die Iris erkennen, so wie bei uns
Menschen. Die Augen strahlten ein geheimnisvolles bläuliches
Licht aus, so wie bei einem Leuchtstäbchen das hell
erleuchtete, wenn man es der Dunkelheit aussetzt. Auch Ohren sah
Katja in ihrer begrenzten Sicht an diesem Wesen nicht. Sie hätte
all zu gerne die gesamte Gestalt etwas klarer, mehr freier, durch
diesen Nebel gesehen. Zudem hielt diese Starre
noch immer ihren Körper gefangen, gefangen in diesem Gebilde
aus Licht und Nebel. Aber es machte Katja gar nichts mehr aus. Sie
begann den Aufenthalt bei dem Wesen zu genießen. Denn sie
spürte eine sonderbare Wärme, die mit nichts zu vergleichen
war. Es war eine Art Wärme die ihr dass Gefühl gab, sicher
und geborgen zu sein. Ihre innere Stimme verriet ihr, dass ihre
Angst unbegründet war. Während Katja dem Wesen keine
Gegenwehr mehr leistete, gab ihr steifer Körper nach und
lockerte sich zunehmend. Sie konnte sich nun wieder frei bewegen.
Jetzt hätte sie die erste Gelegenheit, Reißaus zu nehmen.
Einfach weg, einfach diesem Ort entfliehen. Jenem Ort der ihr zu
Anfang so viel Dunkelheit in ihrer Seele einbrannte. Doch seltsamerweise
wollte sie gar nicht weglaufen. Viele Fragen standen für
Katja noch offen. Und wieder hörte sie das Wesen rufen. Sie
bemerkte, dass die winzig kleine Öffnung des Wesens, die sie als
dessen Mund identifizierte, sich beim reden nicht zu bewegen schien.
Katja war verblüfft.
»Das gibt es doch gar nicht, es kennt
ja meinen Namen.«, sagte sie laut.
Sie hielt es für unglaublich. Woher nur
kannte dieses Wesen ihren Namen. Anscheinend war es doch mächtiger
als sie zu nächst angenommen hatte.
»Katja, Katja, Norman bedarf deiner Hilfe.«, empfing sie, wie einem
Echo klingend.
»Norm... Norman, wer ist Norman?«,
begann sie zögerlich zu fragen.
Doch sie wartete vergebens auf eine Antwort.
»Norman, wer ist Norman?«,
wiederholte sie schreiend ihre Frage.
»Gleich und Eins er ist in seiner
Beschaffenheit, wie du.«
»Norman ist also ein Mensch wie ich?«,
wieder folgte keine Antwort auf ihre Frage.
Sie begann sich leicht aufzuregen. Ja sie
wurde sogar zunehmend wütender.
Und sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, den sie
in ihrem Geist zusammenballen konnte und schrie aus ganzem Körper
und Seele das Wesen an.
»Du widerliches und abscheuliches Wesen du.«
Es wird wohl zu faul zum Reden sein, oder es
kann nur ein paar Sätze in meiner Sprache? Dachte sie sich
noch. Doch dann, endlich:
»Deine Sprache wir verstehen.«
Katja bekam einen Riesenschrecken, als das
Wesen auf ihre Gedanken antwortete. Es war ihr sehr peinlich, dass
sie in ihren Gedanken ertappt worden war.
»Wer und was seid ihr und woher kommt
ihr denn?«
»Viele Fragen du hast, doch beantworten
werde ich nur die wichtigsten.«
Katja hatte so viele Fragen und jetzt sollte
sie nur die wichtigsten stellen? Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Doch was sollte sie schon dagegen tun, zwingen konnte sie dieses
Wesen nicht und verärgern wollte sie es auch nicht. Also
musste sie sich wohl oder übel mit ein paar wenigen Fragen und
Antworten begnügen.
»Stell du mir doch die erste Frage.«
»Viele Träume du hattest in deinem
Leben.«
Katja dachte nach. Träume in meinem Leben?
»Ach du Grund, gütiger. Sag bloß,
du hast irgendwie mein Gehirn angezapft? Schämst du dich denn
überhaupt nicht? Weißt du denn nicht, dass die Gedanken der
Menschen frei sind und jedem einzelnen alleine gehören? Was
bildest du dir ein, glaubst du Gott spielen zu können?«
Katja war empört, ja sie war fast außer
sich vor Enttäuschung, dass dieses Wesen nicht einmal vor dem
Geheimsten was der Mensch in sich trug halt machte. Nämlich vor
den Gedanken.
»Gott, welcher jener er ist?«
»Aha, anscheinend gibt es doch einiges, was dieses Wesen nicht weiß.«,
dachte sich Katja und wollte sogleich feststellen, wie weit sie
bei diesen Wesen gehen konnte, natürlich nur um es besser
abschätzen zu können. Sie gab dem Wesen noch einige Fragen
die belanglos waren. Doch Katja musste sehr schnell feststellen, dass
es sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen ließ. Es
antwortete stehts ruhig, sinnvoll und von einer Gemächlichkeit,
dass manch einer auf der Erde sich eine Scheibe davon hätte
abschneiden können. Dann wiederholte Es eine schon längst
gestellte Frage, die diesem Wesen anscheinend keine Ruhe zu lassen,
schien.
»Gott, wer er ist?«
Schließlich gab Katja nach, obwohl sie
niemals vorhatte, Gott in diese Sache hineinzuziehen.
»Wie soll ich nur Anfangen!«
»Gott, wer er ist?«, wiederholte Es
sich ständig.
Katja bemerkte, dass dieses Wesen sehr
wissensbedürftig ist.
Ja, auch dieses Wesen, genau wie alle Geschöpfe Gottes war es
bereit zu lernen.
»Du bringst mich ganz schön in
Verlegenheit, weißt du das? Nun gut, ich versuche es dir zu
erklären. Nun, Gott ist überall. Er schuf alle Planeten
und die unzähligen Galaxien. Wahrscheinlich sogar dich. Alles
was wir sehen, fühlen, und sogar riechen können, schuf
Gott. Kannst du das verstehen? Ja, kannst du das?«
Katja hatte ein Thema begonnen, das dieses
Wesen anscheinend sehr neugierig machte und sie begriff, dass sie
damit einen kleinen Fehler beging. Denn, wie sollte sie einem Wesen
den Weg Gottes erzählen, quasi eine Lehre beibringen, deren
Ursprung vor über zweitausend Jahren Kultur liegt. Dazu
müsste sie dem Wesen die ganze Bibel vorlesen. Und das wäre
zuviel des Guten. Außerdem ist es eine reine Glaubensfrage, ob
und wer an Gott glaubt. Gott überließ es jedem einzelnen
Menschen selbst, an ihn zu glauben.
»Jener welche, den du als Gott
bezeichnest, jetzt in dir ist?« bekräftigte das Wesen
nachdrücklich seine Frage an Katja.
Katja hatte diese Frage schon vorher
befürchtet. Ihr blieb nur eines übrig: Einfach die
Wahrheit zu erzählen und zwar so wie sie Gott von ihrer Sicht
aus fühlte.
»Ich habe dir schon gesagt, Gott ist
überall. Du kannst ihn nicht sehen und du kannst ihn nicht
hören. Doch du kannst ihn fühlen, tief in deinem Herzen,
wenn du an ihn glaubst und seine Liebe zu dir akzeptierst. Und nur
wenn du an ihn glaubst. Ich hoffe, ich konnte dir mit dieser
Antwort Gott ein bisschen näher bringen.«
»Ich verstehe.«
»Was meinst du damit, ich verstehe.«
Katja war von dieser kurzen und schnellen Antwort ein wenig
enttäuscht. Denn wie konnte dieses Wesen annehmen, ihren und den
Glauben der gesamten Menschheit in ein paar Sätzen verstehen zu
können.
»Dein Gott, sehr mächtig er ist.«
»Ja, du hast das schon verstanden, aber
du musst wissen, dass man die Lehre, ja unsere Lehre nicht von heute
auf morgen erlernen kann.«
»Die Liebe deines Gottes ist nicht die
deine Allein?«
Katja stockte der Atem, als sie diese Worte
hörte. So antworten konnte doch nur jemand, der die Lehre
Gottes begriff.
»Natürlich ist die Liebe Gottes,
nicht nur für einzelne bestimmt. Jeder kann sie empfangen, wenn
er dazu bereit ist, zu glauben.« Katja dachte noch, dass ein
Priester Gottes Wort am besten vertreten könnte.
Doch dieser Wunsch blieb natürlich nur
ein Traum. Also versuchte Katja so gut es ging, dem Wesen auf ihre
eigene Art Gottes Willen zu verlautbaren. Und insgeheim hoffte
Katja Gottes Wort und Gesetz gerecht zu werden.
Katja ging in die Offensive.
»Habt ihr auch einen Glauben?«,
fragte Katja und bemerkte eine Lücke in ihrem Glauben. Sie
schämte sich ein bisschen, dass sie dem Wesen diese Frage
stellte, denn mit dieser Frage widerrief sie ihre vorherige Antwort,
dass Gott überall ist.
Nichtsdestotrotz. Sie brannte darauf zu
erfahren, ob Gottes Wort auch zu fernen Galaxien gelangen konnte.
»Einen Glauben ja, aber nicht im Sinne
des Deinen.«
»In welchem Sinne denn?«,
stocherte Katja mit Neugier nach.
»Nicht begreifen du würdest dieses,
noch nicht. Fühlen und Eins mit uns sein du erst musst. Noch
zu viel Zweifel in dir wohnen.«
»Ja, du hast sicherlich Recht. Noch habe
ich Zweifel vor dem was auf mich zukommt.«
»Katja, unbegründet deine Furcht
und Zweifel ist. Kein Leid wir werden dir zufügen.«
Obwohl Katja seine Worte als tröstend
empfand, hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass dieses Wesen es
sehr eilig hatte. Dennoch beschloss Katja, eine Frage zu erbitten.
»Liebes Wesen, darf ich dir noch eine
kleine Frage stellen?«
»Ja, verkünde deine Bitte.«
»Weißt du, da du und dein Volk keine
Namen tragen, habe ich mir gedacht, dass ich dir einen geben könnte.
Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Was sagst du dazu,
ist doch eine prima Idee, oder?«
»Ich und die meinen, wir wissen wer wir
sind, warum du willst mir einen Namen geben?«
»Das weiß ich, aber wir Menschen
geben uns nun mal Namen, um uns besser zu identifizieren und
verständigen zu können. Verstehst du das denn nicht? Es
wäre viel schöner für mich, wenn ich dir einen Namen
geben dürfte. Es wäre höflich und ein Zeichen der
Freundschaft zwischen uns.«
»Ja, einen Namen gib mir.«
Katja überlegte, was für einen Namen
sie ihm denn geben sollte. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Ich gebe dir den Namen Lyr.«
»Lyr, welcher Name dies ist?«
»Lyr ist
ein Stern den wir Menschen vor einiger Zeit in einem der unzähligen
Sternbilder im Universum entdeckten. Du musst nämlich wissen,
dass wir Menschen mit riesigen Teleskopen ins Weltall blicken
können. Auch verfügen wir über Satelliten und
Raumsonden, die wir in unbegrenzte Tiefen des Weltalls schicken
können. Diese Raumsonden sind in der Lage, ganze Planeten und
weit entfernte Galaxien zu beobachten und diese Bilder wieder zur
Erde zurück zu senden.«
»Lyr, dieser Name akzeptiert er ist.«
»In Ordnung, also, im Namen der gesamten
Menschheit Taufe ich dich mit dem Namen Lyr. So, ab jetzt nenne ich
dich nur noch Lyr. Und dein Volk taufe ich als die
Dogon, ich hoffe
auch das ist dir recht Lyr, ich werde dir auch gleich erklären
was für eine Bedeutung der Name Dogon hat. Diesen Namen trägt
ein Volk, das in
Mali,
also an der afrikanischen Küste, 500 km
südlich von Timbuktu beheimatet ist. Man sagt, dass dieses Volk
über Jahrtausende altes Wissen aus dem Universum behütet.
Und dass sie schon öfter Besuch von einer fremden Spezies aus
einer fernen Galaxie bekamen. Deshalb finde ich, dass dieser Name
deinem Volk gerecht wird. Aber wenn du ihn nicht magst, kann ich mir für
dein Volk einen anderen Namen ausdenken. Also, was sagst du dazu
Lyr?«
»Lyr, einverstanden er ist.«
Katja fühlte sich sehr stolz, als dieses
Wesen sich nun selbst als Lyr bezeichnete. Ja, ein kleiner aber
hörbarer Erfolg für Katja. Und dennoch machte sich Katja
echte Sorgen um Lyr und sein Volk der Dogon. Denn sie spürte,
dass er und sein Volk sich in höchster Gefahr befanden. Sie
begriff nun allmählich das sonderbare Handeln dieser Spezies,
dass dieses Volk gar keine andere Wahl hatte um ihre Existenz zu
bewahren. Auch wenn Katja nicht genau wusste, was für eine
Gefahr dieses außergewöhnliche Volk heimzusuchen
drohte, so war sie sich in ihrem Gedanken sicher, dass sie mit aller
ihr zu Verfügung stehenden Kraft versuchen werde, diesem Volk
beiseite zu stehen, koste es was es wolle. Und sei es ihr Leben.
»Lyr, ich möchte dir noch sagen,
dass du mit meiner Hilfe rechnen kannst. Ich lasse dich und dein
Volk nicht im Stich. Obwohl ich nicht einmal weiß, wie ich dir und
deinem Volk überhaupt helfen könnte.«
»Katja, die Liebe meines Volkes dir
Gewiss sei. Wohl gesprochen du hast, stark du in deinem Inneren
bist. Ja, stark und rein in deinem Herzen. Wir, die du von nun an
das Volk der Dogon nennst, waren einig uns. Verschmolzen unsere
Herzen in Einigkeit. Vereint und verbunden unsere Seelen sind.
Qualvoll unser Schmerz ist, in unser aller Gemüt. Außer
Kraft wir setzten in letzter Hoffnung die Gesetzmäßigkeit
der uns gegebenen Zeit. Um zu finden.«
Als Katja diese Worte hörte, wurde ihr
sehr schwer ums Herz. Obwohl es schwierig war, seine Worte in der
richtigen Reihenfolge zusammen zu setzen, musste sie weinen.
»Zu finden? Was meinst du mit zu finden,
Lyr.« fragte Katja mit zitternder Stimme.
»Zu finden euch und eure Seele rein.«
»Ihr wollt also unsere Seele?«
»Nicht die
Seele als ganzes, die Waffe eures Geistes ihr seid. Befreien ihr
könnt mein Volk, nur durch euren Geist und der Seele Reinheit.«
Katja fiel es sehr schwer das Wesen zu
verstehen. Doch schien es ihr in diesen Augenblick nicht so wichtig
zu sein. Sie hatte schon längst aufgehört, laut zu
sprechen. Sie wusste längst, dass es genügt die Worte und
Sätze in gedanklicher Form wiederzugeben, um sich mit Lyr zu
verständigen.
»Viele Zeiten an mir vorüberzogen,
bis ich es fand, diese Seelen, die eure sind.«
Katja bekam das Gefühl, dass sie sich
mit diesen Wesen verbunden, sozusagen geistig auf einer gleichen
Ebene befand. Und somit erübrigte sich die nächste Frage.
Was Lyr suchte, war eine Spezies, die gleichermaßen mit ihren
geistigen und seelischen Fähigkeiten harmonierten und sich mit
der seinen zu vereinen. Doch eine Frage drängte sich doch in
Katjas Gedanken. Warum hatte Lyr es so eilig damit. Eines wurde ihr
klar, alle Geheimnisse konnte sie Lyr nicht entlocken. Viel zu
geschickt verstand es dieses Wesen, sie zu verbergen. Doch trotz
alledem konnte Katja sich auf ihr Gefühl verlassen und genau
das sagte ihr Gefühl, dass sie Lyr vertrauen konnte. Viele
Gedanken und Emotionen vermischten sich in Katjas Gefühlswelt,
so dass es ihr immer schwerer fiel, den Überblick zu behalten.
Dazu kam noch wie aus dem Nichts ein Gefühl, das ihr sehr
vertraut vorkam. Sie verspürte eine Gegenwart, die nur von
einem Menschen ausgestrahlt werden konnte.
»Lyr, ich habe so ein vertrautes Gefühl,
ist es Normans geistige Gegenwart die ich spüre?«,
kam wie vom Geistesblitz getroffen, aus Katjas Überzeugung.
»Keinen Sinn es hat, zu zweifeln. Viel
Hoffnung ihr besitzt. Doch Hoffnung ist nicht das Ziel. Die Tat es
ist, wie der Bruder, der Wagnis. Stark ihr Menschen in euren
Zweifeln seid. Doch wenige gibt es auf eurer Welt, die besitzen
diese Gabe. Eine Gabe, sich zu verschmelzen im Geist und Seele. Wie
die der meinen.«
»Lyr, das ist nicht die Antwort die ich
von dir wollte.«
»Geprägt von Ungeduld du bist. Ja
er ist's. Unser Ziel und dein Halt.«
»Mein Halt? Wofür, Lyr?«
»Um beizustehen einem Volk, das geweiht
ist dem Untergang, wenn ihr euch verweigert, mit den unseren zu
vereinen.«
»Ich fühle Lyr, dass du keine andere
Wahl hattest, als so zu handeln. Und ich bin mir auch ziemlich
sicher, dass du Norman und mir niemals etwas antun könntest.
Ich weiß, dass ihr kein Volk der Gewalt seid. Dessen bin ich
mir sicher. Du versuchst nur, dein Volk zu retten. Lyr, sage mir noch
eines: Werden wir jemals wieder heimkehren. Heimkehren, zu unseren
Liebsten und weiterhin ein ganz normales Leben führen können
wie bisher?«, äußerte sich Katja besorgniserregend
und unsicher.
»Euer Leben seid euch gewiss. Doch
unbegründet deine Zweifel sind.«
Erleichtert und voller Bewunderung Lyr
gegenüber schüttelte Katja ihre letzten Zweifel von sich.
Sie hatte nicht sehr viel Zeit, über alles nachzudenken. Doch
nach diesem Gefühlsabtausch mit Lyr empfand sie es als ihre
Pflicht. Sie wollte das fremde Volk der Dogon aus ihrer Not
helfen. Ja und das mit all ihrer zur Verfügung stehenden
Kraft. Es folgte ein hoffnungsvoller Blick in Katjas Augen, dass Lyr das
offenbar nicht entgangen war. In ihrem Innersten wuchs zunehmend
ein Gefühl der Zuneigung zu Lyr. Auch wenn sie von Lyr nicht
viel zu sehen bekam.
»Siehst du nicht mein Wohlwollen? Fühlen
sollst du meine Gunst zu euch Menschen. Schwer ist die Last, die ich
euch fortwährend auferlege. Leiden, dass tue ich auch. Doch ein
Recht, ja gewiss, ein Recht zur Existenz haben wir, wie dein Volk.
Wie so vieles Leben in dunkler Nacht. Mein Dank euch begleitet für
alle Zeiten. Dir und Norman. Der Dogon Lebensquell ihr dafür
erhaltet, wenn gekommen ist die Zeit zu gehen.«
»Was meinst du mit "der Dogon
Lebensquell"?« Und wieder bekam sie keine Antwort auf ihre
Frage. Was jetzt auch nicht mehr nötig war.
Katja fühlte, was Lyr damit meinte und
verdrängte ihren eigenen Verdacht so schnell sie nur konnte.
Ein unbehagliches Gefühl kam in ihr auf, bei diesen Gedanken.
Kapitel 2, Die Entführungen, Teil 4
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
|