Kapitel 12
Die Entführung von Gregor und Susanne
München Ruferstr. 16, in der Agentur:
Peter saß wie immer an
seinem Schreibtisch und kaute nervös auf seinem echt
vergoldeten Kugelschreiber herum, den er vor einem Jahr zum
zehnjährigen Bestehen seiner Agentur von seinem Team als Geschenk
bekam. Peter schaukelte mit seinem Bürostuhl mal nach links und
mal nach rechts. Mit einem sehnsüchtigen Blick starrte er auf
seine vier farbverschiedene Telefone, die in Reih und Glied auf
seinem Schreibtisch standen. Es war wieder einmal eine flaue Woche,
in der nichts geschehen wollte. Sozusagen die Ruhe vor dem Sturm,
denn nach einer so recht ruhigen Woche kam es meist knüppeldick.
Peter hatte sonst ne Menge Arbeit auf seinem Schreibtisch liegen und
das war auch heute nicht anders. Doch diese Arbeit war nicht so
wichtig, so dass sie Peter beruhigt eine zeitlang beiseiteschieben konnte.
Was er auch gelegentlich gerne tat. Es waren Schreibarbeiten fürs
Archiv, die Peter von Zeit zu Zeit erledigte, wenn eine so flaue
Woche, in der er und sein Team sich befanden, abgesehen von Mary Ritley.
Doch dieses Mal ging Peter etwas anderes durch den Kopf.
Er konnte sich heute einfach nicht auf die Schreibarbeit
konzentrieren. Er konnte diese Aufzeichnungen, die er bei den Hübners
gesehen hatte, einfach nicht vergessen. Sie wollten ihm einfach
nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das erste Mal, dass Peter absolut von
etwas überzeugt war. Und das hieß schon etwas. Er hatte
genau wie seine Crew schon einiges an Übersinnlichem und
Rätselhaftem gesehen, das so mancher anonyme Zeitgenosse seiner Agentur zusandte. Aber was er bei der
Familie Hübner in Rednizkleineck in ihrem Haus mit eigenen
Augen gesehen hatte, übertraf bei weitem seinen bisher klaren
Menschenverstand. Sicherlich, ganz und gar konnte er für diese
Videoaufzeichnung von dieser Sarah Hübner nicht seine Hand ins
Feuer legen. Dennoch, Peter ist ein Kenner und hatte diesbezüglich
ein gut geschultes Auge. Er müsste seinen Beruf an
den Nagel hängen, wenn er sich so sehr täuschen ließe.
Nichts desto Trotz wartete er schon den ganzen Tag auf einen Anruf.
Auf den Anruf schlechthin. Auf Mary Ritleys Anruf.
Natürlich konnte er sich denken, dass
sich Mary mit ihrem Geschick bereits bei den Hübners
eingenistet hatte. Doch er wollte sie nun nicht in ihrem
geschäftlichen Unterfangen stören. Das könnte in
einem falschen Augenblick ihren Erfolg
beträchtlich beeinflussen, wenn nicht gar gefährden.
Außerdem hasste Mary nichts mehr, als wenn man sie in ihrem
Vorhaben mit Anweisungen oder ständigen Anrufen nervte. Peter
konnte sich da ganz auf Mary verlassen. Sie würde anrufen,
sobald sie ihren Auftrag an Land gezogen hatte - Oder wenn es ein
voller Flop war. So bezeichnete Mary ihre geschäftlichen
Misserfolge, die auch ihr, obwohl sie ein Ass auf ihrem Gebiet war,
natürlich nicht erspart blieben. Doch das kam sehr selten vor.
Also, was blieb ihm anderes übrig, als auf ihren Anruf zu
warten. Während er sich weiterhin seiner Langeweile widmete,
befand sich Susanne, das Mädchen für alles, wie immer in
ständiger Bewegung. Susanne musste sich trotz so mancher Flaute
der Agentur genauso um das Aufbrühen des Kaffees kümmern
wie eh und je, Anrufe beantworten oder zu Peter durchstellen,
Termine festlegen usw. Susanne befand sich gerade in der kleinen
Kochnische, als eines ihrer zwei Telefone auf ihrem Schreibtisch
schrillte.
»Mist, gerade jetzt.«, ärgerte
sich Susanne, die gerade mit dem Übergießen des Kaffees
beschäftigt war. Peter hatte da einen kleinen Faible, also
Spleen oder man kann es auch als Macke bezeichnen. Dachte er doch
tatsächlich, dass ein Kaffee, der von Hand aufgegossen wurde,
besser mundete, als von einer Kaffeemaschine, die dies Automatisch
erledigen würde. Tja, seither musste Susanne den Kaffee von
Hand Aufbrühen. Apparat 2 schrillte und schrillte.
»Ja, ja, ich komme ja schon.«,
antwortet Susanne, als könnte der Anrufer sie in diesem
Augenblick verstehen. Sogleich hob Susanne der Hörer von der
Gabel.
»Agentur Peter Lenz, rätselhafte
Phänomene. Was kann ich für Sie tun?«, leierte
Susanne fast gelangweilt zum x-tausendsten Mal herunter.
»Grüß dich, Susanne, rate mal,
wer am Apparat ist?«, wollte Mary Susanne überraschen.
»Mary? Bist du es?«, stellte Susanne fest.
»Gut geraten, Susanne. Kannst du mich mit...«
»Mensch, Mary, gut dass du anrufst. Peter
ist mal wieder ein einziges Nervenbündel.«, unterbrach Susanne Mary.
»Susanne, lass mich doch bitte erst zu
Wort kommen, okay?«, forderte Mary.
»Natürlich, bitte entschuldige, Mary?«
»Mach dir
über Peter nicht so viel Gedanken, du kennst ihn ja. Und dir
geht es soweit gut, Susanne?«
»Klar, alles bestens, Mary.«
»Okay Susanne, dann stell mich doch mal zu Peter durch.«
»Mach ich, Mary.«
Peter saß nach wie
vor in seinem Bürostuhl und grübelte sich die Seele aus
dem Leibe. Als Susannes Stimme, die durch die Sprechanlage dröhnte,
ihn jäh aus seinem Gedankenfluss riss.
»Peter, Mary auf Leitung drei.«,
verkündete Susanne freudig.
Im Nu schnellte Peter aus seinem Bürosessel hoch, um an den
Antwortknopf der Sprechanlage zu kommen.
»Was, Mary? Hat sie nun den Auftrag?«,
warf Peter in das Gespräch mit Susanne ein.
»Nein, natürlich nicht. Sie wollte nur mit dir reden.«
»Gut, danke! Du kannst sie jetzt durchstellen.«
Und als Susanne Mary durchstellte, tat Peter
so, als wäre er überhaupt nicht nervös, oder hätte gar
auf ihren Anruf gewartet. Doch weit gefehlt, Mary wusste längst,
dass Peter wie auf heißen Kohlen in seinem Büro auf den
Anruf von ihr wartete.
»Tag Mary, na was machen die
Geschäfte?«, fragte er scheinheilig nach.
»Gut Peter, die Geschäfte gehen gut.«
Peter konnte sich kaum im Zaum halten. Hatte
Mary nun den Auftrag an Land gezogen oder nicht. Seine Neugier
schien schier überhandzunehmen.
»Du meine Güte, Mary, jetzt spann
mich nicht länger auf die Folter! Hast du nun den Auftrag in
der Tasche oder nicht?«, wollte jetzt Peter wissen.
»Einen Vertrag noch nicht, aber die
sichere Zusage seitens der Familie Hübner mit unserer Agentur,
ja.«, verkündete Mary sehr stolz.
»Mann, das ist ja ein Ding, wie hast du
das denn wieder einmal hingekriegt, du Teufelsweib?«
»Tja, Peter, das bleibt mein Geschäftsgeheimnis.«
»Und, hast du die Kassette?«
»Weißt du, Peter, es ist nicht so leicht,
wie wir uns das vorgestellt haben. Ich meine, ich könnte sie
jederzeit bekommen. Du musst wissen, das ist ne echt prima Familie.
Dieses eine Mal kann ich nicht so verfahren wie ich es sonst tue.
Das bringe ich nicht fertig. Außerdem hat diese Familie mein
Wort, dass wir ehrlich vorgehen werden. In Ordnung, Peter?«
Mary war gespannt, wie Peter darauf reagieren würde. Waren ihm
doch bis jetzt all seine Kunden egal, wenn es um die Agentur ging.
»Ganz wie du es wünschst, Mary, aber
seit wann lässt du dich von Gefühlen leiten. Dir ging es
doch sonst nur ums Geschäft, alles andere war dir doch egal,
oder täusche ich mich?«
»Natürlich, du hast ja Recht. Aber
in diesem Fall geht es nun einmal nicht anders. Peter, tue mir doch
den Gefallen, ja?«, bat Mary.
Peter musste sich wundern, wie Mary sich nun
verhielt. Dennoch konnte es ihm ja egal sein. Der Auftrag war so gut
wie unter Dach und Fach, also warum sich noch aufregen. Doch
irgendwie machte er sich schon um Mary Sorgen.
»Sonst ist alles in Ordnung mit dir? Ich
meine, dir fehlt doch nichts, oder?«
»Aber was soll mir denn fehlen, nur weil
ich bei diesem Fall etwas anders vorgehe wie gewohnt, muss doch
nicht gleich etwas nicht in Ordnung sein. Also mach dir jetzt bloß
keine Sorgen, Peter. In Ordnung?«, drängte nun Mary in
Peters Gemüt ein.
»In Ordnung, Mary. Aber kannst du mir
mal sagen wie du jetzt vorgehen willst, ich meine, du weißt
doch ganz genau, dass ich das Material brauche, um endlich in diesem
Fall etwas ankurbeln zu können, das ist dir schon klar, oder?«
»Natürlich, mein Schnuckelchen, das
weiß ich doch auch, deshalb rufe ich dich ja an.«, gab jetzt
Mary frohlockend Kontra.
»Gut, also, dann heraus mit der Sprache,
wie soll es nun weitergehen, ich meine, was hast du vor, Mary?«
Ja, Peter wusste ganz genau, wenn er bei Mary nicht aufpasste, war
sie imstande, ihn um den Finger zu wickeln. Sie brachte es fertig,
Peter so das Wort zu verdrehen, dass er am Ende überhaupt
nichts mehr verstand und am Schluss klein beigab. Dieses Mal
nicht, beschloss Peter.
»Das Erste und Wichtigste wird sein,
dass du auf ein paar Tage hierher nach Rednizkleineck kommst. Ich
habe mich in einem herrlichen Vier-Sterne-Hotel eingenistet. Sieh es
doch als einen kleinen Urlaub an. Und ich dachte, dass du dich, wenn
du schon mal hier bist, gleich bei der Familie Hübner
entschuldigen könntest. Na, was sagst du dazu, Peter?« Er
glaubte sich verhört zu haben.
»Mary, sag mal, hast du jetzt ganz und
gar den Verstand verloren? Wie stellst du dir das vor. Ich kann
doch nicht so mir nichts, dir nichts, hier alles stehen und liegen lassen.
Glaubst du denn, ich hab nichts Besseres zu tun als in der Prärie
herumzufahren und mir einen schönen Lenz machen?«,
fauchte nun Peter Mary an.
»So beruhige dich doch, Peter! Es geht
eben nicht anders. Du musst kommen, das ist die Voraussetzung, die
die Familie Hübners stellte.«, schwindelte nun Mary ein
bisschen. Was natürlich auch Stephan und seine Tochter Sarah,
die gleich hinter Mary standen, lächelnd bemerkten.
»So, na schön, aber ich kann dir
sagen, wenn wir mit leeren Händen nach Hause fahren müssen,
dann kannst du was erleben, dann werde ich dir eigenhändig
deinen kleinen Hintern versohlen.«, beschwor er Mary. Die sich
mit einem Schmunzeln nicht weiter darum kümmerte.
Mary war es gewohnt, dass Peter in seiner Cholerikerie meistens nur
zu blaffen vermochte. Sie hatte sich, schlicht und einfach gesagt,
an Peters Wutanfälle gewöhnt.
»Aber gewiss doch, mein Schnuckelchen.
Sei lieb, ja?«, forderte Mary.
»Na schön, Mary?« Schließlich
gab Peter wie immer nach.
»Also kommst du, Peter?«
»Ja, ich
fahre gleich los. Muss aber vorher noch schnell zu mir nach Hause
fahren um mir frische Kleidung zu holen. Machen wir doch einen
Zeitvergleich. Ich habe jetzt auf meiner Uhr genau 9 Uhr 15, also
kann ich so gegen 12 Uhr zu Mittag bei dir sein.«
»Ausgezeichnet, dann warte ich bei den
Hübners auf dich. Du weißt ja, wo sie wohnen. Warst ja
schon mal da, nicht wahr, Peter?«
»Ja Mary, ich weiß noch wo sie zu Hause sind.«
»Wenn wir uns dann mit der Familie
Hübner geeinigt haben, können wir ja gemeinsam ins Hotel
fahren und dich einchecken. Ich hoffe, es ist dir recht so, Peter?«
»Natürlich ist es mir recht, Mary?«
Also dann, bis auf bald?«
»In Ordnung, Peter, bis bald.« Und
Peter legte den Hörer wieder auf.
»Dann ging er auf den Flur und
brüllte durch den Gang, so dass Susanne und Gregor erschrocken
aufhorchten.
»Susanne? Schrie er unentwegt, anstatt
sich der Sprechanlage zu bedienen.
Susanne und Gregor rannten sich fast über
den Haufen, als beide fast zeitgleich auf den Flur stürzten.
Doch wie schon oft, gewann auch dieses Mal Susanne das Rennen und
stand sogleich in Peters Büro zwischen Tür und Angel.
Gregor hingegen musste mit dem Platz hinter Susanne vorliebnehmen.
Was ihm dennoch nichts auszumachen schien, da er durch seine zwei Meter
und zwei Zentimeter eine stattliche Größe aufweisen konnte und
dadurch im Stande war, über Susannes Kopf hinweg in Peters
Büro zu sehen. Was er auch tat, um ja nichts Wichtiges zu
verpassen.
»Ja, Chef?«, erkundigte sich
Gregor, um näheres zu erfahren.
»Gregor, seit wann heißt du
Susanne? Aber das macht nichts, bleib ruhig hier. Ich möchte,
dass ihr beide mir genau zuhört. Susanne, du sagst für
diese Woche sämtlich Termine ab und nimmst auch keine mehr an.
Doch notiere sie dir vorsichtshalber. Ich muss für ein paar
Tage nach Rednizkleineck. Ich werde dort Mary in dem Fall Hübner
behilflich sein. Ist das bei euch beiden auch angekommen?«,
fragte noch Peter nach.
»Ja sicher, Chef.«, antwortete
Susanne, während Peter noch auf Gregors Antwort wartete.
»Gregor, hast du auch alles mitbekommen?«
»Oh, entschuldige, Peter, ich musste nur
an etwas denken.«, gab Gregor von sich.
»Denken kannst du später. Ich will
eine klare Antwort, Gregor?«
»Ja, ich habe alles verstanden, dennoch, ich frage mich...«
»Was ist denn jetzt schon wieder. Kann
ich denn nicht einmal wegfahren, ohne dass sich einer von euch
irgendein Problem ausdächte?«, wurde jetzt Peter etwas
wütend.
»Aber Peter, ich sprach doch nicht von
einem Problem.«, kam nun von Gregor absichernd.
»Was ist es
dann, na sag schon! Was hast du auf dem Herzen?«, wollte nun
Peter wissen.
Susanne wusste genau, worauf Gregor hinaus
wollte. Sie ahnte, dass er mal wieder die Vertretung des Chefs
spielen wollte. Und, ehrlich gesagt, grauste es Susanne davor. Schon
einmal durfte Gregor für einige Tage den Chef vertreten. Und
spielte sich folglich so auf, dass man meinen konnte, ihm gehöre
die Agentur. Aber nichts desto Trotz musste sich Susanne damit
abfinden und ging ihres Weges in Richtung ihres Büros, den Flur entlang,
wo sich noch immer Kartons links und rechts entlang bis an die
Decke empor stapelten.
»Peter, ich wollte wissen, wer soll denn
in der Zeit in der du unterwegs bist, diesen Laden derweil schmeißen?
Ich meine...«
»Erspar mir weitere Worte, Gregor!«
Im nächsten Augenblick ging Peter an Gregor vorbei und in
Richtung Ausgang. Gregor war sich so gut wie seiner Sache sicher,
und setzte ein hämisches Lächeln auf. Und während
Gregor hinter Peter herlief, um ihn fast arschkriechend zum Ausgang
zu begleiten, änderte Peter plötzlich seine Richtung und
ging auf Susannes Büro zu. Dann blieb er zunächst
schweigend vor ihrer offenen Bürotüre stehen und guckte zu
ihr ins Büro hinein. Da stand er nun, hinter ihm Gregor,
und sah Susanne an, die gerade dabei war, sämtlichen Termine im
Rückblick zu koordinieren.
»Was ist, Peter?«, fragte Susanne erstaunt.
»Susanne, wie lange bist du jetzt bei mir
angestellt?«, wollte Peter wissen. Und Gregor begriff mal
wieder nichts.
»So ziemlich von Anbeginn, Peter?«,
gab sie zur Antwort und koordinierte unbeirrt ihre Arbeit weiter.«
»Susanne?«, forderte Peter, um nochmals auf sich aufmerksam zu machen.
Flink, ja gekonnt, drehte sie sich mit ihrem
Bürostuhl in die Richtung, wo Peter stand und horchte
uninteressiert wirkend auf.
»Ab heute bist du meine
Stellvertretung, also vergiss
es nicht: Wenn ich nicht im Hause bin, bist du der absolute Macher
hier. Und das gilt auf Lebenszeit.«, dann drehte sich Peter
wieselflink um, umging Gregor mit einem gekonnten Satz, der jetzt
wie behämmert und mit weit aufgerissenen Augen Peter nach sah,
der in Richtung Ausgang sich aus dem Staube machte. Gregor und
Susanne sahen sich an, als konnten sie nicht bis drei zählen.
Gregor fühlte sich gekränkt, ja vielmehr noch, gedemütigt.
Damit hatte er nicht im Entferntesten gerechnet. Susanne hingegen
beachtete Gregor nicht weiter. Obwohl für sie diese
Situation äußerst peinlich war, zeigte sie keine einzige
Regung der Freude. Keinerlei Mimik konnte Gregor, der in diesen
Augenblick Susanne einen hasserfüllten Blick zuwarf, auf ihrem
Gesicht feststellen. Wutentbrannt verschwand Gregor mit einem
heftigen Stoß an der Innenseite der Türe in seinem Büro.
Susanne konnte Peter nicht begreifen. Gut, wenn Peter Gregor nicht
zu seinem Stellvertreter ernennen wollte, konnte sie es durchaus
verstehen. Aber dass er sie selbst, das Mädchen für
alles, dafür auswählen würde, hätte sie sich nie
und nimmer träumen lassen. Warum er nicht Mary ausgewählt
hatte, verstand sie auch nicht. Sie wäre die perfekte
Stellvertretung für diese Agentur gewesen. Ja, sie hatte alle
Vorzüge, die man in diesem Job brauchte, dachte Susanne nach.
Vielleicht hatte Peter nur so dahergeredet, um Gregor wegen seiner
ständigen Arschkriecherei zu ärgern? Ja, das wird es wohl
sein. Oder hatte Peter sich nur einen kleinen Scherz mit ihr
erlaubt? Oder? Ach was, warum bin ich eigentlich so nervös? Am
besten wird es sein, einfach nicht mehr darüber nachzudenken
und alles so zu belassen, wie es bisher war, dachte sich noch
Susanne und beschloss, wieder ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen.
Ein klein Bisschen später:
Nachdem Susanne alle Termine geordnet hatte,
musste sie an Gregor denken. Irgendwie tat er ihr leid, obgleich ihr
schon lange auffiel, dass Gregor nur auf seine berufliche Karriere
bedacht war. Darüber hinaus war er zu allem bereit, jeden der
sich nach seiner Meinung ihm in den Weg stellte, aus dem Rennen zu
werfen. Durch nichts schien sich Gregor auf dem Weg nach oben
aufhalten zu lassen. Nichts desto Trotz beschloss Susanne nach ihm
zu sehen, um sich mit ihm auszusprechen. Susanne genoss noch einen
kräftigen Schluck Kaffee, den sie sich vor etwa fünf Minuten
eingegossen hatte, aus ihrer rosaroten Tasse, die sie vor gut zwei Jahren von
Peter zu ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag bekam, und ging in Richtung Gregors
Büro. Dort, an seiner Bürotüre angekommen, klopfte Sie
an. Da sich auf Susannes Klopfen keinerlei Reaktion zeigte, nahm Sie
die Türklinke in die rechte Hand und öffnete langsam und
bedächtig die Tür, die nach innen aufging.
»Gregor?«, rief sie im dezenten
Ton. Doch von Gregor war keine Spur zu sehen. Dann ging Susanne
weiter in den Raum hinein und wandte ihren Blick zu einer Tür, die
offenstand, wo sich ein kleines Kämmerchen befand, in dem
sämtliche Akten und sonstiger Schmöker der vergangenen
Jahre ansammelten und aufbewahrt wurden. Immer weiter und weiter
ging sie in den zweiten Raum, also in dieses Kämmerchen hinein,
bis zu jenem Ende, wo ihr klar wurde, dass sie die einzige war, die
sich in diesem Kämmerchen aufhielt.
»Dass gibt es doch gar nicht. Gregor?«,
rief sie abermals im Selbstgespräch. Doch ihre Laute
verhallten dumpf und ungehört zwischen dem unzähligen
Papierkram der Agentur.
»Mann oh Mann, da gehört sich auch
mal wieder entrümpelt und groß reinegemacht. Gregor,
jetzt hör schon auf, dich zu verstecken, wir können doch
über alles reden, oder etwa nicht?«, doch erneut verhallte
ihre Stimme ungehört.
Mann, ich habe doch selbst gesehen, wie er
hinein ging und grimmig seine Tür hinter sich zuschlug. Das
gibt es doch garnicht. Wo ist er nur. Ich hätte doch sehen
müssen, wenn er sein Büro verlassen hätte, dachte sich Susanne.
Noch einmal ging sie in Gregors Büro, um
alle erdenklichen Schlupfwinkel sorgfältig abzusuchen, doch
Gregor blieb verschwunden. Selbst durch das Fensterglas guckte
Susanne, das wie bei allen Fenstern in diesem Hause durch eine spezielle
Sicherung gegen Einbruch verschlossen war und sich erst mit einem
Spezialschlüssel öffnen ließ. Doch die beiden
Fenster die von Gregors Büro in den Hof führten, waren
sich fest verschlossen. Außer ein paar sorgloser Kinder, die
sich freudig gegenseitig anspuckten, war in diesem Hof, der ringsum
von alten und brüchigen, von roten Ziegelsteinen in
Reih und Glied besetzten Gemäuern umgeben und von sich schlingenden
Pflanzen überwuchert war, nichts von Gregor zu sehen.
Was mache ich denn jetzt? Was ist, wenn Peter
anruft und Gregor sprechen möchte. Ich kann doch nicht sagen,
dass Gregor ohne etwas zu sagen so mir nichts dir nichts
verschwunden ist. Der hält mich doch glatt für verrückt
geworden, grübelte Susanne in sich hinein. Vielleicht verließ
er ja doch das Büro, ohne dass ich es gemerkt habe. Aber wo kann
er denn hin sein. Bis jetzt hatte er immer Bescheid gesagt, wenn er
das Haus verließ. Die Toilette - ja, die Toilette, dachte sich Susanne, ging schnurstracks aus
Gregors Büro und den Flur entlang bis ans Ende, wo sich die
gemeinsame Toilette neben Peters Büro befand. Susanne klopfte
an. Doch auch hier bekam sie keine Antwort. Wieder öffnete sie
ganz behutsam die Tür, die sich im Gegensatz zu
Gregors Bürotür nur nach außen hin öffnen ließ.
Auch hier befand sich das gewisse Örtchen menschenleer. Nun
reichte es ihr. Susanne fühlte sich verarscht und ging in
Sauseschritten durch sämtliche Räumlichkeiten, mit der die
Agentur aufwarten konnte. Auch dort, hier nicht, überall
nichts. Gregor war wie vom Erdboden verschluckt. Susanne ging wieder
in ihr Büro zurück, um erst einmal einen klaren Gedanken zu
finden. Da saß sie nun in ihrem Bürostuhl, an ihrer
Kaffeetasse nuckelnd und nicht begreifend, was hier überhaupt
abgeht, als sie plötzlich einen sehr hellen Ton vernahm.
Susanne horchte auf. Sie begann ihren Kopf in alle Richtungen zu
drehen, um so diesen in den Ohren schmerzenden Ton besser wahrnehmen
und folglich besser orten zu können. Doch dieser quälende
und sehr hohe Ton schien aus allen Richtungen zu kommen. Susanne
wollte gerade ihre rosarote Kaffeetasse auf ihre Arbeitsfläche,
also auf ihren Schreibtisch, stellen, da bemerkte sie, dass sie kein
Gefühl mehr in ihren Beinen hatte. Ein kurzer Blick nach unten,
um nach ihren Beinen zu sehen, da ließ sie vor Schreck die
rosarote Kaffeetasse fallen. Ein kurzer Blick auf die zerbrochene
rosarote Kaffeetasse, die sich durch den Aufprall in vielen kleinen
oder weniger großen Stücken auf dem frisch gebohnerten
Parkettboden verteilt hatte, und wieder ein langer, intensiver und
bis ins Mark erschütternder Blick auf ihre Beine, die zunehmend
an Masse verloren. Susanne konnte nicht schreien. Zu tief lag der
Schock in der noch verbliebenen Masse ihres Körpers. Susanne
riss vor panisch tiefsitzender Angst die Augen auf. Das Atmen
fiel ihr zunehmend schwerer. Schweiß, kalter, triefnasser
Schweiß presste sich durch sämtliche Poren ihres Körpers
und vereinigte sich zu einem Fluss von Flüssigkeit, die
dann im Bereich ihres noch vorhandenen Beckens herunterfloss.
Susanne glaubte, ihren Verstand verlieren zu müssen. Angst,
panische Angst, kroch in dem Rest ihres noch vorhandenen Torsos,
der sich zunehmend aufzulösen begann. Susanne
spürte ihr Blut, das pulsierend und pochend immer heftiger
pumpend seinen Weg durch ihre Adern und Venen suchte. Wieder ein
erschaudernder Blick auf die untere Hälfte ihres Körpers,
der sich nun bis hin zu ihren Hüften aufgelöst hatte. Dann
ließ ihre Seele sie endlich los, und Susanne begann zu
schreien.
»Oh mein Gott, was ist das? Oh mein
Gott! Hilfe! Neiiiinnn!«, schrie Susanne aus Entsetzen und
ganzer Seele, bis sie gänzlich von dem fremden und unheimlichen
Nichts verschluckt wurde. Dann war es still und menschenleer in
der Agentur geworden.
Nichts wies darauf hin, dass hier noch vor
kurzer Zeit ein lebender Mensch seiner Arbeit nachging, außer
dem Zeugnis der zerbrochenen Scherben und dem Glimmen einer bis
zu Hälfte gerauchten Zigarette, Marke Marlboro.
Kapitel 12, Die Entführung von Peter Lenz, Mary Ridley, Stephan und Sarah Hübner
Anfang und Kapitelübersicht
© 2012 by Peter Althammer
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